Kapitel 7
Rudi Rosenberg schlendert zu dem Zaun hinüber, der das Quarantänelager, wo sich sein Büro befindet, von dem lebhaften Treiben im Familienlager trennt. In seiner Funktion als Lagerschreiber hat er Fredy Hirsch eine Nachricht geschickt und ihn um ein Treffen am Stacheldrahtzaun gebeten. Rosenberg respektiert die Arbeit, die der Jugendleiter in Block 31 leistet. Zwar sind manche Neider der Ansicht, dass Hirsch allzu begeistert mit der Lagerleitung kollaboriert, aber insgesamt gilt er als zuverlässig und sympathisch. Szmulewski hat ihn mit seiner heiseren Stimme als »so vertrauenswürdig, wie man in Auschwitz nur sein kann« bezeichnet. Bei flüchtigen Gesprächen und bei den gelegentlichen Gefallen, die Fredy Hirsch ihm mit seinen Listen tut, hat Rosenberg sich mit ihm angefreundet – aber nicht nur, weil er ihn gut leiden kann. Szmulewski hat ihn gebeten, auf diskrete Weise so viel wie möglich über Hirsch herauszufinden. Informationen sind unendlich viel wertvoller als Gold.
An diesem Vormittag hat Rudi nicht damit gerechnet, dass der Blockälteste in Begleitung eines jungen Mädchens kommt, das trotz seines langen, schmutzigen Rocks und der übergroßen Wolljacke so anmutig wie eine Gazelle ist. Fredy redet über die Probleme, an Material zu kommen und weitere Verbesserungen bei der Verpflegung der Kinder zu erwirken.
»Ich habe gehört«, bemerkt Rosenberg in neutralem Tonfall, als handle es sich um einen beiläufigen Kommentar, »dass das Stück, das ihr in Block 31 zu Chanukka aufgeführt habt, ein großer Erfolg war. Die SS -Offiziere sollen begeistert applaudiert haben. Offenbar hat sich Kommandant Schwarzhuber prächtig amüsiert.«
Hirsch weiß genau, dass die Widerstandsbewegung ihm misstraut. Er misstraut ihr ebenfalls. »Ja, es hat ihnen sehr gut gefallen. Ich habe Dr. Mengeles gute Laune ausgenutzt und ihn gebeten, uns für die Betreuung der jüngsten Kinder das Lager neben der Baracke zu überlassen, in dem sie die Kleidung aufbewahren.«
»Dr. Mengele und gute Laune?« Rudi macht große Augen bei der absurden Vorstellung, dass jemand, der jede Woche Hunderte von Menschen in den Tod schickt, ohne mit der Wimper zu zucken, derart menschliche Gefühle haben könnte.
»Heute kam die Bewilligung. Jetzt haben die kleinen Kinder mehr Freiraum und werden ihre Eltern nicht mehr so sehr stören.«
Rosenberg lächelt und nickt. Ohne dass es ihm bewusst ist, sieht er zu dem Mädchen hinüber, das in einiger Entfernung stehen geblieben ist. Hirsch merkt es und stellt sie als Alice Munk vor. Sie gehört zu den jüngeren Gehilfinnen, die in Block 31 arbeiten. Rudi gibt sich alle Mühe, Hirsch zuzuhören, aber seine Blicke kehren immer wieder zu der jungen Frau zurück, die sein Lächeln keck erwidert. Hirsch ist zwar imstande, in Gegenwart eines SS -Rudels stoisch zu bleiben, aber der Flirt der jungen Leute verursacht ihm Unbehagen. Seit seiner Jugend ist die Liebe für ihn stets ein Quell des Ungemachs gewesen. Damals hat er sich mit seinen Wettkämpfen und dem Training abgelenkt und alle möglichen Veranstaltungen gleichzeitig organisiert, um den Kopf frei zu bekommen. Das ständige Beschäftigtsein hat außerdem kaschiert, dass er, obwohl allseits beliebt, am Ende immer allein blieb. Er sagt zu den jungen Leuten, die sich mit Blicken verschlingen, dass er noch zu tun hat, und verabschiedet sich.
»Ich heiße Rudi.«
»Ich weiß. Ich heiße Alice.«
Als er mit dem Mädchen allein ist, lässt Rosenberg all seine Verführungskünste spielen, um die es in Wirklichkeit schlecht bestellt ist; er hatte bisher noch nie eine Freundin. Und er hat auch noch nie mit einer Frau geschlafen. In Birkenau ist, von der Freiheit einmal abgesehen, alles käuflich, auch der Sex. Aber an diesem verbotenen Markt der Lust hat er nie teilhaben wollen oder sich nie getraut. Vorübergehend breitet sich Schweigen aus, und er beeilt sich, es zu füllen, denn er merkt plötzlich, dass er sich nichts auf der Welt mehr wünscht, als dass dieses gazellengleiche Mädchen hierbleibt, für immer, hier am Zaun, und ihn mit ihren rosa Lippen anlächelt. Die Lippen sind rissig von der Kälte, und am liebsten würde er sie mit einem Kuss heilen.
»Wie ist die Arbeit in Block 31?«
»Ganz gut. Wir Gehilfinnen sind Mädchen für alles. Einige kümmern sich um den Kamin, wenn Kohle oder Holz da ist, aber das kommt nur selten vor. Andere füttern die Kleinsten. Außerdem fegen wir. Ich bin gerade in der Bleistiftgruppe.«
»Bleistiftgruppe?«
»Wir haben nur ganz wenige Bleistifte, und sie werden für besondere Gelegenheiten aufgehoben. Wir stellen selbst welche her, ziemlich primitiv, aber brauchbar.«
»Wie macht ihr das?«
»Zuerst schleifen wir einen Löffel an der Seite ab, bis er ganz scharf ist. Anschließend spitzen wir damit Holzstücke an, die für nichts anderes mehr zu gebrauchen sind. Ich habe normalerweise den letzten Part – ich halte die Spitzen ins Feuer, bis sie kohlschwarz sind. Danach können die Kinder ein paar Worte damit schreiben, aber man muss die Spitzen immer wieder nachschärfen und jeden Tag neue Holzstücke verkohlen.«
»Und das für so viele Kinder! Ich könnte dir vielleicht ein paar richtige Bleistifte besorgen …«
»Wirklich?« Alices Augen strahlen, und Rudi ist hocherfreut. »Aber sie zu uns ins Lager zu schmuggeln wäre ganz schön schwierig.«
Jetzt freut sich Rudi noch mehr. Ihr Einwand gibt ihm Gelegenheit, ein wenig zu glänzen. »Ich bräuchte da drüben nur jemanden, dem ich vertrauen kann … Wie wäre es mit dir?«
Alice nickt begeistert, froh darüber, sich noch nützlicher für Fredy Hirsch machen zu können, den sie, wie alle jungen Gehilfinnen, aus tiefstem Herzen bewundert.
Gleich darauf überkommen den jungen Lagerschreiber Zweifel. Bisher läuft es in Auschwitz ganz gut für ihn, und er hat einen privilegierten Posten ergattert, in dem er seine Trümpfe ausgespielt hat. Er konnte einflussreiche Häftlinge für sich gewinnen und hat sich angewöhnt, nur notwendige Risiken einzugehen, nur mit Dingen zu handeln, die ungefährlich sind und ihm ein Höchstmaß an Nutzen bringen. Bleistifte zu organisieren, für die er im Tausch etwas hergeben muss, und sie jemandem aus einer völlig unproduktiven Kinderbaracke zu überlassen ist weder klug, noch bringt es ihm Vorteile. Aber das Lächeln und die strahlenden Augen das Mädchens lassen ihn alles vergessen.
»In drei Tagen. Genau hier. Um die gleiche Zeit.«
Alice nickt und läuft schnell davon, als hätte sie es mit einem Mal eilig. Rudi sieht ihr nach und beobachtet, wie der kalte Nachmittagswind ihr Haar zerzaust. Er wird gegen die alte Regel zum Überleben verstoßen müssen, mit der er bisher gut gefahren ist: Erweise niemals einen Gefallen, wenn du nichts dafür bekommst. Er hat ein schlechtes Geschäft mit dem Mädchen gemacht, und dennoch ist er auf unbegreifliche Weise froh. Auf dem Weg zu seiner Baracke in Lager BII a fühlt er sich ein wenig schwach, so, als würden seine Beine unter ihm nachgeben. Er hätte nie gedacht, dass Verlieben einer Grippe so ähnlich ist.
Auch Dita Adlerova zittern die Beine. Als die Kinder mit ihren Lehrern hereinkommen, sitzt die Bibliothekarin auf der anderen Seite des Kamins, vor ihr liegt ein Stapel Bücher. Es wirkt wie die Auslage eines Ladentisches. So viele Bücher auf einmal haben die Kinder schon seit Monaten nicht mehr gesehen – schon seit Theresienstadt nicht mehr. Die Lehrer kommen zu Dita und lesen die Titel auf den Buchrücken, die noch lesbar sind. Sie sehen Dita bittend an, sie möchten die Bücher in die Hand nehmen und darin blättern, und Dita nickt. Aber sie lässt die Bücher nicht aus den Augen. Als eine der Frauen das Buch über Psychoanalyse mit zu viel Schwung aufschlägt, bittet Dita sie, vorsichtig damit umzugehen. Eigentlich ist es eine Aufforderung, keine Bitte, aber sie kaschiert sie mit einem Lächeln, und die Lehrerin mustert sie, ein wenig verärgert darüber, von einer vierzehnjährigen Gehilfin gemaßregelt zu werden.
Die Bücher sollen nach jeder Unterrichtsstunde wieder zu ihr gebracht werden, damit sie reihum gehen und damit Dita weiß, wo sie sich befinden. Den ganzen Vormittag beobachtet sie sie auf ihrem Weg durch die Baracke. Am Ende des Raums sieht sie eine Lehrerin gestikulieren, die in der einen Hand das Geometriebuch hält. Der Atlas liegt aufgeschlagen auf einem Schemel in ihrer Nähe; es ist ein großes Buch, das gerade noch in ihre Innentasche passt. Der grüne Einband der russischen Grammatik ist leicht zu erkennen. Einige Lehrer verwenden sie, um die Kinder über die geheimnisvollen kyrillischen Buchstaben staunen zu lassen. Die Romane sind nicht ganz so beliebt. Einige Lehrer haben gefragt, ob sie sie lesen dürfen, aber das ist nur innerhalb von Block 31 möglich.
Sie muss Lichtenstern fragen, ob sie die Bücher an die Lehrer ausleihen darf, die nachmittags freihaben, wenn die Kinder spielen oder wenn Avi Ofirs Chor probt, der bei den Kindern auf so viel Anklang stößt, dass sich die ganze Baracke mit fröhlichen Stimmen füllt, wenn Alouette gesungen wird.
Als der Vormittag vorbei ist, geben alle ihre Bücher zurück, und Dita nimmt sie mit der Erleichterung eines Kindes entgegen, das durch das Küchenfenster sieht, wie seine alten Eltern von einem Spaziergang zurückkommen. Wenn ein Buch in schlechterem Zustand als zuvor zu ihr zurückkehrt, macht sie ein böses Gesicht. Inzwischen ist ihr jeder Knick, jeder Riss, jeder Kratzer an den Büchern vertraut, und wenn sie sie entgegennimmt, begutachtet sie sie wie eine Mutter die Schrammen am Knie ihres Kindes, das vom Spielen nach Hause kommt.
Fredy Hirsch, in der Hand ein Bündel Papiere und sichtlich beschäftigt, kommt an Ditas Platz auf dem Kamin vorbei. Er bleibt kurz stehen und mustert die kleine Bibliothek. Fredy gehört zu den Menschen, die stets in Eile sind, aber trotzdem immer Zeit haben. »Sehr schön, Mädchen. Das ist nun wirklich eine Bibliothek.«
»Es freut mich, dass sie Ihnen gefällt.«
»Wirklich sehr schön. Wir Juden waren schon immer ein kultiviertes Volk.« Er lächelt ihr zu. »Sag Bescheid, falls ich etwas für dich tun kann.« Und er macht Anstalten, sich mit seinen energischen Schritten zu entfernen.
»Fredy!« Dita ist bei der vertrauten Anrede immer noch nicht ganz wohl, aber schließlich hat er gesagt, dass sie ihn so nennen soll. »Sie können tatsächlich etwas für mich tun.«
Er sieht sie fragend an.
»Besorgen Sie mir Klebeband, Klebstoff und eine Schere. Diese Bücher brauchen ein wenig Pflege.«
Hirsch nickt und geht lächelnd weiter. Er wird nie müde, jedem, der es hören will, immer wieder zu sagen: »Die Kinder sind alles, was wir haben.«
Am Nachmittag nutzen die kleinen Kinder es aus, dass der Regen aufgehört hat, und spielen im nassen Schlamm Fangen oder Schatzsuche. Die Älteren haben ihre Schemel zu einem Halbkreis aufgestellt. Dita, die die Bücher bereits eingesammelt hat, kommt näher, um zuzuhören. Hirsch sitzt in der Mitte und redet über eines seiner Lieblingsthemen – die Alija oder den Aufbruch nach Palästina. Die Kinder lauschen gespannt.
»Alija bedeutet viel mehr als nur Immigration. Nach Palästina geht man nicht einfach nur, um dort seine Lebenszeit zu verdienen, o nein.« Er macht eine Kunstpause, die von erwartungsvollem Schweigen gefüllt wird. »Es ist eine Reise, bei der ihr die Verbindung zu euren Vorfahren herstellt und einen verlorenen Faden wieder aufnehmt. Es bedeutet, das Land in Besitz zu nehmen und es zu dem euren zu machen. Es geht um Hagshama Atzmit oder auch Erfüllung. Ihr mögt es zwar nicht wissen, aber ihr habt ein Licht in eurem Innern. Doch, doch, schaut mich nicht so an, es ist da! Aber es ist erloschen. Einige von euch sagen jetzt vielleicht: ›Na und? Bis jetzt bin ich auch so gut zurechtgekommen.‹ Und ja, ihr könnt auch so weiterleben, wie ihr es bisher getan habt, aber es wäre ein mittelmäßiges Leben. Mit oder ohne das Licht zu leben ist der gleiche Unterschied wie der zwischen einem Streichholz und einer Taschenlampe in einer dunklen Höhle. Wenn ihr die Alija vollendet und das Land eurer Vorfahren gewinnt, dann wird dieses Licht strahlen und euch von innen erleuchten, sobald ihr das Land Israel betretet. Man kann es nicht erzählen, man muss es erlebt haben. Dann werdet ihr verstehen. Und dann werdet ihr wissen, wer ihr seid.«
Die Kinder hören gebannt zu. Sie haben die Augen weit aufgerissen, und ein paar von ihnen reiben sich die Brust, ohne es zu merken, als wären sie auf der Suche nach dem Schalter, der das erloschene Licht in ihnen einschaltet, von dem Fredy Hirsch redet. »Die Nazis erscheinen uns unbesiegbar mit ihren modernen Waffen und ihren schimmernden Uniformen. Aber lasst euch nicht täuschen: Diese schimmernden Uniformen haben keinen Inhalt. Sie sind nur eine Hülle. Sie sind nichts. Wir interessieren uns nicht für den äußeren Schein, wir möchten von innen leuchten. Und genau das wird uns am Ende den Sieg bringen. Unsere Stärke kommt nicht von den Uniformen, sondern von Glaube, Stolz und Entschlossenheit.«
Fredy hält inne und lässt den Blick über sein Publikum schweifen, das ihn gespannt ansieht. »Wir sind stärker als sie, weil unsere Seele stärker ist. Wir sind besser als sie, weil unsere Seele mehr Kraft hat. Deshalb können sie uns nicht besiegen. Deshalb werden wir nach Palästina zurückkehren und uns dort erheben. Dann wird uns niemand mehr demütigen. Denn wir werden uns bewaffnen, sowohl mit Stolz als auch mit dem Schwert. Wer behauptet, wir seien ein Volk von Buchhaltern, der lügt: Wir sind eine Nation von Kriegern, und wir werden ihnen alle Attacken und Schläge hundertfach zurückzahlen.«
Dita hört eine Weile schweigend zu, dann geht sie. Hirschs Worte lassen niemanden kalt, auch sie nicht.
Sie wartet, bis die anderen gegangen sind, bevor sie mit ihm redet. Sie will keine Mithörer, wenn sie ihm von dem Vorfall mit Mengele erzählt. Es stehen immer noch zu viele Lehrer und Gehilfen in Grüppchen beisammen und unterhalten sich, außerdem ein paar ältere Mädchen, die miteinander kichern. Und ein paar Jungen, die auf sie wie Hohlköpfe wirken, wie dieser Milan, der sich für so gut aussehend hält. Na schön, er sieht wirklich gut aus, aber wenn so ein Blödmann mit ihr flirten wollte, würde sie ihn zum Teufel jagen. Auch wenn sie weiß, dass Milan für so dünne Mädchen wie sie keinen Blick übrig hat. Trotz der kargen Verpflegung im Lager gibt es hier Mädchen, die volle Hüften und erstaunliche Brüste haben.
Sie beschließt zu warten, bis alle weg sind, und versteckt sich in dem Winkel zwischen den Holzstapeln, in den sich manchmal der alte Professor Morgenstern fortschleicht. Dort setzt sie sich auf eine Bank. Ein Stück Papier fällt ihr in die Hände – ein langer, etwas ramponierter Papierflieger. Am liebsten würde sie das Fotoalbum in ihrem Kopf aufschlagen und wieder in Prag sein, denn auch wenn es keine Zukunft mehr gibt, von der sie träumen kann, von der Vergangenheit kann sie immer träumen.
Ein gestochen scharfes Foto kommt ihr in den Sinn: ihre Mutter, die einen hellgelben Stern auf ihre schöne dunkelblaue Bluse näht. Es ist das Gesicht ihrer Mutter, das sie am meisten aufwühlt. Die Mutter konzentriert sich ganz auf ihre Näharbeit, sie wirkt sachlich und ungerührt, als würde sie nur einen Rock säumen. Dita weiß noch gut, wie sie ihre Mutter wütend fragte, was sie da mit ihrer Lieblingsbluse mache, und wie diese nur antwortete, sie nähe ihr einen Stern darauf. Dabei hob sie nicht einmal den Kopf. Dita weiß noch, wie sie die Fäuste ballte, rasend vor Wut, denn diese groben, gelben Stoffsterne passten denkbar schlecht zu ihrer blauen Seidenbluse, und zu ihrem grünen Kleid würden sie noch weniger passen. Es ging nicht in ihren Kopf, wie ihre Mutter, die sich so elegant kleidete, die Französisch konnte und Modezeitschriften las, die sie in der Wohnzimmerkommode aufbewahrte, ihr solche Flicken auf die Kleidung nähen konnte. »Es ist der Krieg, Edita … es ist der Krieg«, sagte ihre Mutter leise, ohne von der Näharbeit aufzusehen. Und Dita schwieg und fügte sich in das Unvermeidliche, genau wie ihre Mutter und die anderen Erwachsenen es bereits getan hatten. Es war der Krieg, da war nichts zu machen.
Sie verkriecht sich in ihr Versteck und holt ein anderes Bild heraus, von ihrem zwölften Geburtstag. Sie sieht die Wohnung, ihre Eltern, ihre Großeltern, ihre Tanten und Onkel und ein paar Vettern und Cousinen. Die ganze Familie ist versammelt, und sie sitzt in der Mitte und wartet auf etwas. Auf ihrem Gesicht liegt eine Spur von diesem traurigen Lächeln, das so typisch für sie ist, das Lächeln, das sich zeigt, wenn sie die Maske des forschen Mädchens abnimmt und die schüchterne Dita zum Vorschein kommt. Das Seltsame an dem Bild ist, dass außer ihr niemand in der Familie lächelt.
An diesen Geburtstag erinnert sie sich noch gut. Es war der letzte Geburtstag, den sie richtig feiern konnte, mit einem wunderbaren Kuchen von ihrer Mutter. So etwas hat es seither nicht mehr gegeben. Hier besteht das Fest in einem Stück Kartoffel in der Plörre, die sie hier Suppe nennen. Der Strudel, bei dem ihr jetzt, als sie sich daran erinnert, noch das Wasser im Mund zusammenläuft, war zwar kleiner als die Strudel, die ihre Mutter sonst backte, aber Dita beschwerte sich nicht, denn ihre Mutter war die ganze Woche lang in Dutzende von Geschäften gegangen, um mehr Rosinen und Äpfel zu ergattern. Aber sie bekam keine. Jeden Tag wartete sie vor Ditas Schule, in der Hand die leere Einkaufstasche, ohne eine Spur von Ärger.
So war ihre Mutter – sie gab nicht viel auf Erklärungen, als wäre es ungehörig zu erzählen, was einem auf der Seele lag. Manchmal hätte ihr Dita am liebsten gesagt: Mama, es ist schon gut, erzähl es mir … aber ihre Mutter stammte aus einer anderen Epoche, in der man die Dinge für sich behielt. Die zwölfjährige Dita war völlig anders – sie redete gern und viel, machte Handstand an der Hausmauer und schlürfte, wenn sie ihre Suppe aß. Sie war ein fröhliches Mädchen, und eigentlich ist sie das immer noch, selbst in diesem grässlichen Lager.
An Ditas zwölftem Geburtstag kam ihre Mutter ins Wohnzimmer, ein nervöses Lächeln im Gesicht, um ihr ihr Geschenk zu überreichen. Ditas Augen leuchteten auf, denn es war ein Schuhkarton, und sie wünschte sich schon seit Monaten neue Schuhe. Vorzugsweise helle, mit Schnallen, und am liebsten mit einem kleinen Absatz. Als sie rasch den Karton öffnete, lagen darin schwarze Alltagsschuhe, sehr schlicht und vorne geschlossen. Dita betrachtete sie genauer und sah, dass sie nicht einmal neu waren; an den Schuhspitzen befanden sich Kratzer, die mit Schuhcreme ausgebessert worden waren. Mit einem Mal war es still im Zimmer: Ihre Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel sahen sie erwartungsvoll an und warteten darauf, dass sie etwas sagte. Dita setzte ein strahlendes Lächeln auf und bedankte sich überschwänglich. Sie gab ihrer Mutter, die sie fest umarmte, einen Kuss, und dann ihrem Vater, der in seinem feinen Humor scherzte, zum Glück für sie seien geschlossene Schuhe gerade in Mode.
Sie muss lächeln, als sie daran denkt. Aber für ihren zwölften Geburtstag hatte sie eigene Pläne. Als ihre Mutter abends zu ihr ins Zimmer kam, um ihr Gute Nacht zu sagen, bat sie darum, sich noch etwas wünschen zu dürfen. Noch bevor ihre Mutter protestieren konnte, sagte Dita, es werde auch nichts kosten. Sie sei nun schon zwölf und wünsche sich von ihrer Mutter die Erlaubnis, eins der Bücher für Erwachsene lesen zu dürfen. Ihre Mutter schwieg kurz, dann deckte sie Dita zu und verließ wortlos das Zimmer.
Als Dita schon dabei war einzuschlafen, hörte sie, wie die Tür leise aufging, und sah eine Hand Die Zitadelle von A. J. Cronin auf den Nachttisch legen. Ihre Mutter verließ das Zimmer, und Dita verstopfte die Ritze unter der Tür rasch mit ihrem Nachthemd, damit ihre Eltern nicht merkten, dass bei ihr Licht brannte. Sie schlief keine Sekunde in dieser Nacht.
An einem Spätnachmittag im Oktober des Jahres 1924 blickte ein schäbig gekleideter junger Mann mit gespannter Aufmerksamkeit durch das Fenster eines Abteils dritter Klasse in dem fast leeren Zug, der sich von Swansea das Penowelltal hinaufarbeitete.
Dita nahm neben dem jungen Doktor Manson Platz und reiste mit ihm bis Drineffy, einem armen Bergarbeiterstädtchen in den Walliser Bergen. Sie hatte den Lesezug bestiegen. In dieser Nacht machte Dita eine spannende Entdeckung: Es spielte keine Rolle, wie viele Hindernisse all die »Reiche« dieser Welt ihr in den Weg legten, denn sie konnte sie alle überwinden, indem sie ein Buch aufschlug.
Sie lächelt bei dem Gedanken an Die Zitadelle, mit Zuneigung und auch mit einer gewissen Dankbarkeit. Ihre Mutter wusste zwar nichts davon, aber Dita versteckte das Buch in ihrer Schultasche, um während der Pausen weiterlesen zu können. Es war das erste Buch, das sie wütend machte. Und es war auch das erste Buch, bei dem sie weinen musste.
Dita lächelt erneut, als sie daran denkt. Seither hat sie herausgefunden, um wie viel größer ihr Leben sein kann, denn Bücher vervielfachen das Leben des Lesers und ermöglichen es einem, Menschen wie Andrew Manson kennenzulernen, und vor allem Menschen wie Christine, eine Frau, die sich weder von Geld noch von der feinen Gesellschaft beeindrucken lässt. Die niemals ihre Prinzipien opfert, die stark bleibt und sich nichts gefallen lässt, das sie für ungerecht hält. Seit damals hat sie immer wie Christine sein wollen. Christine hätte auch im Krieg niemals den Mut verloren. Dita nickt vor sich hin und wird dabei immer langsamer, bis der Schlaf sie übermannt.
Als sie wieder aufwacht, ist es dunkel, und in der Baracke ist es ganz still. Für einen Moment steigt Panik in ihr auf bei dem Gedanken, sie könnte die Sperrstunde verpasst haben. Es wäre ein grober Fehler, nicht in ihre Baracke zurückzukehren, genau die Sorte Fehler, auf die Mengele nur wartet, um ein Versuchskaninchen aus ihr zu machen. Doch als sie draußen Stimmen hört, beruhigt sie sich wieder. Auch im Inneren der Baracke wird gesprochen, und ihr wird klar, dass die Stimmen sie aufgeweckt haben. Sie sprechen Deutsch.
Sie späht um den Holzstoß herum und sieht, dass die Tür zu Hirschs Kammer offen steht und Licht bei ihm brennt. Hirsch begleitet gerade jemanden zum Barackeneingang und öffnet vorsichtig die Tür.
»Warte kurz, da sind Leute.«
»Machst du dir etwa Sorgen, Fredy?«
»Ich glaube, Lichtenstern ahnt etwas. Er und die anderen in Block 31 dürfen es auf keinen Fall herausfinden. Sonst bin ich erledigt.«
Der zweite Mann lacht. »Ach komm, mach dir nicht so viele Gedanken. Was können sie dir schon anhaben? Sie sind schließlich auch nur jüdische Häftlinge … sie können dich nicht erschießen!«
»Wenn sie herausfinden, wie ich sie getäuscht habe, wird es mit Sicherheit Leute geben, die das nur zu gerne täten.«
Schließlich verlässt der andere die Baracke, und Dita erhascht einen kurzen Blick auf ihn. Er ist kräftig gebaut und trägt einen weiten Regenmantel. Sie sieht, wie er die Kapuze hochzieht, obwohl es nicht regnet, als wollte er vermeiden, dass man ihn erkennt. Aber seine Füße sind noch sichtbar, und er trägt keine Holzpantinen wie die Häftlinge, sondern glänzende Stiefel.
Was macht ein SS -Mann inkognito hier?, fragt sie sich. In dem Lichtschein, der aus der geöffneten Tür fällt, sieht sie Fredy mit gesenktem Kopf in seine Kammer zurückkehren. So hat sie ihn noch nie gesehen. Dieser aufrechte Mann lässt die Schultern hängen.
Dita sitzt in ihrem Versteck, sie kann sich nicht bewegen. Sie begreift nicht, was sie gerade gesehen hat; im Grunde will sie es auch nicht begreifen. Klar und deutlich hat sie gehört, was Hirsch gesagt hatte: Dass er sie alle betrügt.
Aber wieso?
Dita hat das Gefühl, dass der Boden unter ihr nachgibt, also setzt sie sich wieder auf die Bank. Sie hat sich so sehr geschämt, weil sie Hirsch nicht die ganze Wahrheit gesagt hat … und jetzt stellt sich heraus, dass er viel größere Geheimnisse vor ihnen allen hat. Er trifft sich heimlich mit SS -Leuten, die sich im Schutz der Dunkelheit durch das Lager zu ihm schleichen.
O mein Gott … Seufzend legt sie die Hände an den Kopf.
Wie soll ich jemandem die Wahrheit sagen, der selbst etwas verbirgt? Wenn ich Hirsch nicht vertrauen kann, wem dann?
Sie ist so durcheinander, dass ihr schwindlig wird, als sie aufsteht. Als Hirsch die Tür zu seiner Kammer hinter sich schließt, verlässt Dita leise die Baracke.
In diesem Moment ertönt die Sirene, das Zeichen, dass die Sperrstunde kurz bevorsteht. Die letzten Nachzügler, die der kalten Nacht und dem Zorn der Barackenkapos getrotzt haben, machen sich eilig auf den Weg zu ihren Pritschen. Aber Dita fühlt sich zu schwach, um zu rennen. Die Fragen lasten zu schwer auf ihr.
Was, wenn der Mann, mit dem Fredy geredet hat, gar nicht zur SS gehört, sondern zum Widerstand? Aber wieso fürchtet Fredy sich dann davor, dass die Leute in Block 31 davon erfahren, wenn der Widerstand doch auf unserer Seite ist?
Im Gehen schüttelt sie den Kopf. Es hat keinen Sinn, das Offensichtliche zu leugnen. Es war ein SS -Mann. Hirsch muss natürlich mit der SS reden, aber das war kein offizieller Besuch. Der Nazi war inkognito dort und hat vertraulich mit Fredy geredet, sogar freundschaftlich. Und wie Fredy danach aussah, so niedergeschlagen und voller Reue …
In den Gruppen kursieren schon lange Gerüchte, dass es unter den Häftlingen Informanten und Nazispione gibt. Unwillkürlich beginnen Ditas Beine zu zittern.
Nein, nein, das kann nicht sein. Hirsch, ein Informant? Noch vor zwei Stunden hätte sie jedem die Augen ausgekratzt, der so etwas gesagt hätte! Es wäre völlig unlogisch – schließlich führt er die SS doch mit der Schule in Block 31 hinters Licht. Nichts von all dem ergibt einen Sinn. Plötzlich kommt ihr der Gedanke, dass er sich vielleicht vor den Nazis als Informant ausgibt, aber nur irrelevante oder falsche Informationen weitergibt, um sie zufriedenzustellen. Das würde alles erklären!
Aber dann fällt ihr ein, wie niedergeschlagen Hirsch aussah, als er allein in seine Kammer zurückging. Er wirkte nicht stolz auf sich. Er fühlte sich schuldig, das sah man deutlich an seiner Körperhaltung.
Als sie zu ihrer Baracke kommt, steht die Kapo bereits an der Tür, in der Hand den Stock, mit dem sie nach den Frauen schlägt, die nach der Sperrstunde kommen, und Dita hebt die Hände über den Kopf, um den Schlag abzumildern. Die Kapo schlägt fest zu, aber Dita spürt den Schmerz kaum. Als sie zu ihrer Pritsche hinaufklettert, sieht sie, wie jemand im Nachbarbett den Kopf hebt. Es ist ihre Mutter.
»Du kommst spät, Dita. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, Mama.«
»Geht es dir auch wirklich gut? Lügst du mich auch nicht an?«
»Nein«, erwidert Dita mürrisch.
Es ärgert sie, dass ihre Mutter sie wie ein kleines Kind behandelt. Am liebsten würde sie ihr sagen, dass sie sie natürlich anlügt, dass in Auschwitz jeder jeden anlügt. Aber es wäre nicht fair, ihre Mutter für den Zorn büßen zu lassen, der in ihrem Inneren tobt.
»Dann ist also alles gut?«
»Ja, Mutter.«
»Maul halten dahinten, sonst schlitze ich euch die Kehlen auf!«, brüllt jemand.
»Schluss jetzt!«, befiehlt die Kapo.
In der Baracke wird es still, aber die Stimme in Ditas Kopf verstummt nicht. Hirsch ist nicht der, für den ihn alle halten. Aber wer ist er dann? Sie versucht sich in Erinnerung zu rufen, was sie über ihn weiß, und ihr wird klar, wie wenig das ist. Nach jener flüchtigen Begegnung am Stadtrand von Prag hat sie ihn das nächste Mal in Theresienstadt gesehen. Im Getto Theresienstadt …