Kapitel 9
Das Quarantänelager ist voller russischer Soldaten, die gerade angekommen sind. Von ihrer Soldatenehre ist nur noch wenig übrig: Man hat ihnen die Köpfe geschoren, und sie tragen die gestreiften Häftlingsuniformen. Jetzt sind sie eine Armee von Bettlern. Sie warten, bis sie an der Reihe sind, wobei sie entweder auf dem Boden sitzen oder auf und ab gehen, Grüppchen gibt es nur wenige. Die meisten schweigen. Einige schauen durch den Zaun zu dem Familienlager mit den Tschechen, die noch ihre Haare haben, und ihren Kindern, die über die Lagerstraße tollen.
Rudi Rosenberg, der Schreiber des Quarantänelagers, ist eifrig mit der Aufnahme der Neuzugänge beschäftigt. Rudi spricht Russisch, außerdem Polnisch und ein bisschen Deutsch. Das erleichtert die Sache für die SS , die den Registrierungsprozess überwacht, was Rudi sehr bewusst ist. An diesem Morgen hat er bereits dafür gesorgt, dass die drei bis vier Bleistifte, die ihm zur Verfügung stehen, ihren Weg in seine Hosentaschen gefunden haben. Jetzt spricht er einen Gefreiten an, der noch jünger ist als er selbst und mit dem er manchmal Witze reißt, vor allem auf Kosten der jungen Mädchen, die mit den Frauentransporten ankommen.
»Gefreiter Latteck, wir platzen heute ja aus allen Nähten. Sie erwischen wirklich immer die härtesten Aufgaben!« Deutsche werden gesiezt, auch da, wo es sich um achtzehnjährige Burschen handelt.
»Allerdings. Dir ist es also auch schon aufgefallen, Rosenberg, was? Ich bin hier der Einzige, der sich abrackert. Anscheinend gibt es in diesem Abschnitt keine anderen Gefreiten. Dieser verdammte Feldwebel hat es auf mich abgesehen. Er ist ein verfluchter Hinterwäldler aus Bayern. Ich kann nur hoffen, dass ich bald an die Front versetzt werde.«
»Gefreiter, bitte verzeihen Sie, aber ich habe keine Bleistifte mehr.«
»Ich schicke einen Soldaten hinüber zum Wachraum, er soll dir einen holen.«
»Wieso lassen Sie ihn nicht eine ganze Schachtel holen? Dann lohnt sich der Weg wenigstens.«
Der SS -Mann fixiert ihn und lässt dann ein Lächeln aufblitzen. »Eine Schachtel, Rosenberg? Was zum Teufel willst du denn mit so vielen Bleistiften?«
Rosenberg wird klar, dass der Gefreite nicht dumm ist, also setzt auch er ein verschmitztes Lächeln auf, als wären sie Verbündete. »Na ja, hier gibt es schließlich allerhand zu schreiben. Und ja … es stimmt schon, Bleistifte sind im Lager schwer zu bekommen. Wer den Leuten Bleistifte besorgt, dem schenken sie manchmal neue Socken.«
»Verstehe …«
Der forschende Blick des SS -Mannes signalisiert Gefahr. Wenn Latteck ihn verrät, ist Rudi verloren. Er muss ihn schnell überzeugen. »Es geht doch nur darum, ein bisschen nett zu den Leuten zu sein, damit sie auch nett zu dir sind. Von einigen netten Leuten bekomme ich manchmal Zigaretten.«
»Zigaretten?«
»Manchmal steckt ein Päckchen Zigaretten in den Taschen der Kleidung, die in die Wäscherei kommt … ich habe sogar schon welche aus hellem Tabak gesehen.« Rudi zieht eine Zigarette aus seiner Hemdtasche. »So wie die hier.«
»Du bist ein Schweinehund, Rosenberg. Ein ziemlich schlauer Schweinehund.« Der Gefreite lächelt.
»Man kommt nicht leicht an sie heran, aber ich könnte Ihnen vielleicht welche besorgen.«
»Ich liebe hellen Tabak«, sagt der Gefreite, ein gieriges Glitzern in seinen Augen.
Am nächsten Tag hat Rosenberg in seiner Hosentasche zwei Päckchen Bleistifte, als er zu seinem Treffen mit Alice geht. Er wird ein paar Leuten einen Gefallen tun müssen, damit der Gefreite seine Zigaretten bekommt, aber das macht ihm nichts aus. Während er sich der umzäunten Abgrenzung nähert, wandern seine Gedanken wieder einmal zum Familienlager. Die Juden durften bisher noch nie mit ihrer Familie zusammenbleiben. Wozu dienen dann die Kinder und die alten Leute in einem Arbeits- und Vernichtungslager? Unter den sechs Lagern innerhalb von Auschwitz ist BII b die große Ausnahme. Wieso haben die Nazis es bewilligt? Beim Widerstand hat man keine Erklärung dafür. Weiß Fredy Hirsch wohl mehr darüber, als er sagt? Verbirgt Fredy irgendetwas? Aber andererseits, hat hier nicht jeder etwas zu verbergen? Rudi erzählt Szmulewski schließlich auch nichts von seinen guten Beziehungen zu einigen der SS -Männer, die es ihm erlauben, kleinere Gegenstände zu schmuggeln. Das wird zwar beim Widerstand nicht gern gesehen, aber für Rudi hat es allerhand Vorteile.
Er schlendert an der Rückseite der Baracken hin und her, bis er Alice kommen sieht, dann geht er zum Zaun. Wenn der Wachmann, der im Turm gerade Dienst schiebt, zu den reizbaren gehört, wird er jeden Moment seine Trillerpfeife zücken und ihnen befehlen auseinanderzugehen. Alice bleibt wenige Meter hinter dem Zaun stehen. Rudi freut sich schon seit zwei Tagen auf das Wiedersehen, und ihr Anblick lässt ihn alle Entbehrungen vergessen.
»Setz dich doch.«
»Ich stehe lieber. Der Boden ist schmutzig.«
»Du musst dich aber hinsetzen, damit der Wachmann weiß, dass wir nur reden. Sonst denkt er, wir würden etwas aushecken.«
Alice setzt sich auf den Boden. Dabei rutscht ihr Rock nach oben, und kurz wird ihre Unterwäsche sichtbar, wunderbar weiß in diesem Morast. Rudi durchzuckt es wie ein Stromstoß.
»Wie geht es dir?«, fragt Alice.
»Jetzt, wo ich dich sehe, ist alles gut.«
Alice errötet, aber sie lächelt erfreut.
»Ich habe die Bleistifte dabei.«
Sie wirkt nicht sonderlich überrascht, und Rudi ist ein wenig enttäuscht. Er hatte gehofft, die Bleistifte würden eine durchschlagende Wirkung haben und sie würde vor Freude fast in Ohnmacht fallen. Das Mädchen scheint nicht zu wissen, wie schwer es ist, im Lager Geschäfte zu machen, was er dafür bei der SS riskiert hat.
Rudi kennt die Frauen nicht. Alice ist durchaus beeindruckt; um das zu merken, müsste er ihr nur in die Augen sehen. Aber Männer erwarten immer, dass man ihnen alles sagt.
»Und wie willst du die Bleistifte zu uns ins Lager schmuggeln? Mit irgendeinem Boten?«
»Heutzutage darf man niemandem vertrauen.«
»Was dann?«
»Warte es ab.«
Aus dem Augenwinkel beobachtet Rudi den Soldaten im Wachturm. Er ist ziemlich weit weg, und nur ein Teil seines Oberkörpers und seines Kopfes sind als Umriss zu erkennen. Aber weil er ein Gewehr über der Schulter trägt, weiß Rudi, wann er ihnen die Vorderseite zuwendet und wann die Rückseite: Dreht sich der Soldat zu ihnen um, zeigt der Gewehrlauf über seiner rechten Schulter vom Lager weg, und wenn er ihnen den Rücken kehrt, zum Lager hin. Dank diesem provisorischen Kompass weiß Rudi, dass der Wachmann sich nur hin und wieder langsam umdreht. Als er sieht, wie der Gewehrlauf in ihre Richtung schwenkt, macht er mutig ein paar Schritte zum Zaun hin. Alice schlägt erschrocken die Hand vor den Mund.
»Komm her, schnell!« Rudi holt die zwei Bleistiftbündel, die jeweils von einem Stück Schnur zusammengehalten werden, aus seiner Tasche, nimmt sie zwischen die Fingerspitzen und schiebt sie vorsichtig durch eine Lücke des elektrisch geladenen Drahtzauns. Rasch hebt Alice sie auf. Sie ist diesem Zaun, durch den mehrere Tausend Volt fließen, noch nie so nahe gekommen. Beide entfernen sich wieder ein paar Meter von dem Zaun, genau in dem Moment, als der Gewehrlauf sich im Uhrzeigersinn von ihnen wegbewegt, bis der Soldat sie wieder im Blick hat.
»Warum hast du mich nicht vorgewarnt?«, fragt Alice, deren Herz noch immer wild klopft. »Dann hätte ich mich ein bisschen vorbereiten können!«
»Es gibt Dinge, auf die man sich besser nicht vorbereitet. Manchmal muss man schnell sein.«
»Ich werde die Bleistifte Herrn Hirsch geben. Wir sind dir sehr dankbar.«
»Wir müssen jetzt gehen … Alice … Ich würde dich sehr gern wiedersehen.«
Alice lächelt. Das ist so viel besser als alle Worte.
»Morgen um dieselbe Uhrzeit?«, fragt Rudi.
Sie nickt und beginnt auf die Hauptstraße ihres Lagers zuzugehen. Rudi winkt ihr nach, und Alice wirft ihm einen gehauchten Kuss von ihren rissigen Lippen zu. Der Kuss fliegt über den Stacheldrahtzaun, und Rudi fängt ihn mit der Hand auf. Niemals hätte er gedacht, dass eine so schlichte Geste ihn so glücklich machen könnte.
Es gibt noch jemanden im Lager, dem an diesem Vormittag der Kopf schwirrt. Dita achtet auf jede Handbewegung, darauf, wie Augenbrauen nach oben wandern oder Kiefer sich verkrampfen, sie beobachtet alles so gespannt, wie die Mikrobenjäger in Paul de Kruifs Buch ihre Studienobjekte durchs Mikroskop betrachten. Sie will die Wahrheit hinter den Worten entdecken. Und wartet darauf, dass diejenigen, die etwas zu verbergen haben, sich mit einem Blick, einem Stottern oder einem Schlucken verraten. Misstrauen ist wie ein Juckreiz – am Anfang spürt man ihn kaum, aber wenn man ihn einmal bemerkt hat, kann man nicht mehr aufhören, sich zu kratzen.
Aber das Leben steht nicht still, und Dita will nicht, dass ihre Unruhe jemandem auffällt. Deshalb sitzt sie schon am frühen Morgen in der Bibliothek auf einer Bank, den Rücken gegen den horizontalen Abschnitt des Kamins gelehnt. Die Bücher hat sie herausfordernd auf einer anderen Bank vor sich ausgelegt. Seppl Lichtenstern hat ihr einen der Gehilfen zugeteilt, der sie dabei unterstützen soll, die Bewegung der Bücher während der stündlichen Ausleihen zu verfolgen, und an diesem Morgen sitzt ein blasser Junge neben ihr.
Als Erster kommt heute ein junger Lehrer zu ihr, der eine Jungengruppe beaufsichtigt. Er begrüßt sie mit einem stummen Nicken. Er soll Kommunist sein und außerdem sehr gebildet, er spricht sogar Englisch. Sie studiert seine Bewegungen, um herauszufinden, ob ihm zu trauen ist, wird jedoch nicht ganz schlau aus ihm. Aber sie spürt durchaus Intelligenz unter der einstudierten Gleichgültigkeit. Er lässt seinen Blick über die Bücher schweifen und nickt beifällig, als er zu dem Buch von H. G. Wells kommt. Bei den Theorien von Freud schüttelt er missbilligend den Kopf. Dita wartet gespannt, fast ängstlich auf seine Reaktion. Nachdenklich bleibt er einen Augenblick stehen.
»Wenn H. G. Wells wüsste, dass er neben Freud liegt, wäre er sehr böse auf dich.«
Dita starrt ihn mit großen Augen an und wird rot. »Ich verstehe nicht …«
»Nicht so wichtig. Ich bin nur verblüfft, einen sozialistischen Rationalisten wie Wells neben einem Fantasten wie Freud liegen zu sehen.«
»Dann schreibt Freud fantastische Geschichten?«
»Ganz und gar nicht. Freud war ein österreichischer Psychiater, aus Mähren, und außerdem Jude. Er wollte wissen, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht.«
»Und was hat er herausgefunden?«
»Viel zu viel, ihm zufolge. In seinen Büchern schreibt er, das Gehirn sei ein Speicher für die Erinnerungen, die dort faulen und die Menschen verrückt machen. Er hat eine Methode erfunden, um Geisteskrankheiten zu kurieren. Dabei muss der Patient sich auf eine Couch legen, und dann lässt man ihn reden, bis er alle seine Erinnerungen ausgespuckt hat. Auf diese Weise kam Freud hinter die verborgensten Gedanken seiner Patienten. Er nannte das Psychoanalyse.«
»Und was ist aus ihm geworden?«
»Er wurde berühmt. Das hat ihm 1938 in Wien das Leben gerettet. Ein paar Nazis drangen in seine Praxis ein, schlugen alles kurz und klein und beschlagnahmten eintausendfünfhundert Schilling. Als Freud davon erfuhr, bemerkte er, er habe noch nie einem Patienten so viel für eine Sitzung berechnet. Er kannte viele einflussreiche Leute. Trotzdem durften er, seine Frau und seine Tochter erst nach London ausreisen, nachdem er eine Erklärung unterschrieben hatte, aus der hervorging, wie gut ihn die Naziobrigkeit behandelt hatte und wie wunderbar es sich im Dritten Reich in Wien lebte. Er fragte, ob er noch etwas hinzufügen dürfe, weil sie seiner Meinung nach ihr Licht unter den Scheffel gestellt hätten, und schrieb: ›Ich kann die Gestapo jedermann auf das Beste empfehlen.‹ Die Nazis waren begeistert.«
»Die kennen eben den jüdischen Humor nicht.«
»Für die Deutschen ist es Humor, wenn einer den anderen an den Füßen kitzelt.«
»Und als er dann nach England kam?«
»Freud ist im Jahr darauf gestorben, 1939. Er war schon sehr alt und sehr krank.« Der Lehrer nimmt das Buch von Freud und blättert darin. »Die Bücher von Freud gehörten zu den ersten, die Hitler 1933 verbrennen ließ. Dieses Buch hier ist Gefahr pur – es ist nicht nur geheim, sondern noch dazu verboten.«
Ein leiser Schauer überläuft Dita, und sie beschließt, das Thema zu wechseln. »Und wer war H. G. Wells?«
»Ein Freidenker und Sozialist. Aber vor allem ein großer Schriftsteller. Hast du schon mal von Der unsichtbare Mann gehört?«
»Ja.«
»Nun, das Buch ist von ihm. Außerdem Krieg der Welten, das von der Ankunft der Marsianer auf der Erde handelt. Und Die Insel des Dr. Moreau, mit dem übergeschnappten Wissenschaftler, der menschliche und tierische Gene miteinander kombiniert. Dr. Mengele müsste das gefallen. Aber Wells’ bestes Buch ist wohl Die Zeitmaschine. Durch die Zeit zu reisen«, sagt er nachdenklich, »kannst du dir das vorstellen? Ist dir klar, was es bedeuten würde, in diese Maschine zu steigen, in das Jahr 1924 zurückzureisen und zu verhindern, dass Adolf Hitler aus dem Gefängnis kommt?«
»Aber das mit der Maschine ist doch nur Fiktion, nicht wahr?«
»Leider ja. Romane fügen dem Leben das hinzu, was es vermissen lässt.«
»Nun, wenn es Ihnen lieber ist, lege ich Herrn Freud und Herrn Wells jeweils ans Ende der Bank.«
»Nein, lass sie, wo sie sind. Vielleicht können sie ja etwas voneinander lernen.« Er sagt das so ernst, dass Dita nicht weiß, ob dieser Lehrer, der trotz seines jugendlichen Aussehens so alt wirkt, sie auf den Arm nimmt.
Ein wandelndes Lexikon, denkt Dita, als der Mann sich umdreht und zu seiner Gruppe zurückkehrt. Der Gehilfe neben ihr hat bisher keinen Ton gesagt. Erst als der Professor sich entfernt, bemerkt er mit einer Fistelstimme, die so hell ist wie eine Piccoloflöte, dass der Mann Ota Keller heißt und Kommunist ist. Dita nickt.
Am Nachmittag wird eines von Ditas »lebendigen« Büchern angefragt, Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Frau Magda ist eine zerbrechlich wirkende Frau mit schneeweißen Haaren und so winzig wie ein Vögelchen. Aber als sie zu erzählen beginnt, wird sie zur Riesin, ihre Stimme gewinnt unerwartet an Kraft, und sie breitet theatralisch die Arme aus, um den Flug der Gänse zu veranschaulichen, die Nils Holgersson durch die Lüfte tragen. Auch eine Kindergruppe gemischten Alters fliegt mit dem Vogelschwarm mit, und die Kinder lauschen gespannt auf jedes Wort, während sie über den schwedischen Himmel gleiten.
Fast alle Kinder haben die Geschichte schon einmal gehört, oft sogar mehrere Male, aber gerade die Kinder, die die Geschichte am besten kennen, lieben sie am meisten. Sie kennen die einzelnen Etappen der Geschichte auswendig und lachen schon vorab, weil sie bereits Teil des Abenteuers sind. Nils ist ein launischer Junge, der den Tieren auf seinem Bauernhof böse Streiche spielt. Als er eines Tages allein zu Hause ist, weil seine Eltern in der Kirche sind, begegnet er einem Tomte , einem Gnom, der von der Arroganz des Jungen die Nase voll hat und ihn schrumpfen lässt, bis er nur noch so groß ist wie ein kleines Waldtier. Um Wiedergutmachung zu leisten, klammert sich Nils am Hals eines zahmen Gänserichs fest und fliegt mit einem Schwarm Wildgänse über den Himmel seiner Heimat. So, wie der aufsässige Nils am Hals seines Gänserichs allmählich reifer wird und begreift, dass die Welt sich nicht nur um ihn dreht, erhebt sich auch die Gruppe der Zuhörer über ihre triste Realität, in der egoistische Menschen sich vordrängeln, um als Erster Suppe zu bekommen, oder ihrem Nachbarn den Löffel stehlen.
Es spielt keine Rolle, wie oft die Kinder die Geschichte schon gehört haben, sie gefällt ihnen immer. Und nicht nur das, sie wollen sie auch immer von Anfang an hören. Manchmal versucht Frau Magda die Geschichte abzukürzen, indem sie einzelne Abschnitte auslässt, aus Furcht, ihre Zuhörer zu langweilen, aber sie erntet jedes Mal Protest.
»Nein, das ist ganz falsch!«
Und dann muss sie noch einmal von vorn anfangen und die ganze Geschichte erzählen, ohne etwas auszulassen. Je öfter die Kinder die Geschichte hören, desto mehr wird sie zu einem Teil von ihnen.
Gleich nach der abendlichen Zählung unter der Aufsicht des stellvertretenden Blockältesten verlassen die Kinder die Baracke und kehren zu ihren Familien zurück. Die Gehilfen erledigen noch schnell den Rest ihrer Aufgaben. Das Fegen mit dem Reisigbesen ist eher ein Ritual oder eine Rechtfertigung ihrer Position, als dass es wirklich nötig wäre. Auch die Schemel zurückzustellen dauert nicht lange, und genauso ist es mit der Beseitigung der nicht vorhandenen Essensreste, denn es bleibt nie etwas übrig. Die Näpfe werden bis zum letzten Tropfen Suppe ausgeleckt; jeder Krümel ist ein Schatz. Nachdem die Gehilfen ihr vorgebliches Aufräumen beendet haben, verlassen sie die Baracke, und Frieden senkt sich über Block 31.
Die Lehrer sitzen auf den Schemeln zusammen und sprechen über die Ereignisse des Tages. Dita sitzt in ihrer Ecke hinter dem Holzstapel, wo sie nach dem Unterricht oft hingeht, um ein bisschen zu lesen, denn die Bücher dürfen die Baracke nicht verlassen. Sie sieht, dass in der Lücke zwischen zwei Brettern in der Wand etwas steckt, und als sie es herauszieht, stellt sie fest, dass es sich um einen Bleistift handelt, kaum mehr als ein Stummel mit schwarzer Spitze. Aber ein Bleistift ist hier ein außergewöhnliches Ding. Sie hebt einen kleinen Papierflieger vom Boden auf, den Professor Morgenstern hat liegen lassen, und faltet ihn sorgfältig auseinander. Jetzt hat sie einen Bogen Zeichenpapier.
Sie hat schon so lange nichts mehr gezeichnet – schon seit Theresienstadt nicht mehr.
Eine sehr nette Kunstlehrerin, die die Kinder im Getto unterrichtet hat, sagte immer, die Malerei sei eine Möglichkeit zur Flucht. Aber anders als Bücher hat die Malerei es nie geschafft, Dita aus sich herauszuholen oder in einen Zug mit anderen Leben steigen zu lassen, so, wie es den Büchern gelang. Ganz im Gegenteil. Malen katapultierte sie immer in ihr Innerstes hinein. Es war kein Weg hinaus, sondern es führte nach innen. Die Bilder, die sie in Theresienstadt malte, waren dunkel, mit wilden Strichen und dunkelgrauen, stürmischen Himmeln. Zeichnen war eine Möglichkeit, ein Gespräch mit sich selbst zu führen, wenn sie damit haderte, dass ihre Jugend, die kaum begonnen hatte, bereits vorbei zu sein schien.
Dita zeichnet die Baracke: die Schemel, die gerade, steinerne Linie des Kamins und die beiden Bänke – eine für sie selbst und die andere für die Bücher.
Die Stimmen der Lehrer kann sie nicht ausblenden. An diesem Nachmittag klingen sie gereizt. Frau »Truthahn« beschwert sich bitterlich darüber, dass sie den Kindern wohl kaum etwas über Geografie beibringen und ihnen den Unterschied zwischen dem mediterranen und dem kontinentalen Klima begreiflich machen kann, während die Schreie, die Befehle und das Weinen der Neuankömmlinge im Lager zu hören sind, die nur wenige Meter von der Baracke zu den Duschen und in den Tod gehen.
»Da kommen Züge an, und wir sollen so tun, als würden wir nichts hören. Wir unterrichten weiter, während die Kinder flüstern. Wir tun so, als wüssten wir von nichts … Wäre es nicht besser, ehrlich zu sein und mit den Kindern über das Lager zu sprechen? Sie wissen alle Bescheid, also reden wir doch mit ihnen über ihre Ängste.«
Fredy Hirsch ist heute nicht hier. Er zieht sich gern in seine Kammer zurück, um zu arbeiten, und nimmt immer weniger am sozialen Leben in der Baracke teil. Wenn Dita zu ihm kommt, um die Bücher zurück in ihr Versteck zu legen, wirkt er oft völlig vertieft in seine Schreibarbeit. Er hat ihr einmal erklärt, es sei ein Bericht für Berlin; man interessiere sich dort für das Experiment von Block 31. Dita fragt sich, ob diese Berichte etwas mit dem Schatten zu tun haben, den Hirsch vor den anderen zu verbergen versucht.
Es ist Mirjam Edelstein, die in seiner Abwesenheit gegenüber der hartnäckigen Frau Krizková eisern bleibt und sie an die Weisungen des Blockältesten erinnert.
»Aber sind Sie wirklich der Meinung, die Kinder hätten keine Angst?«, mischt sich ein anderer Lehrer ein.
»Gerade deshalb«, erwidert Mirjam Edelstein. »Welchen Sinn hat es, ständig darüber zu reden? Ständig Salz in die Wunde zu reiben? Diese Schule hat eine Mission, die über reine Bildung hinausgeht: den Kindern ein Gefühl der Normalität zu vermitteln, dafür zu sorgen, dass sie nicht verbittern, und ihnen zu zeigen, dass das Leben weitergeht.«
»Für wie lange?«, fragt jemand, und die Diskussion entbrennt erneut. Pessimistische und optimistische Stimmen erheben sich, und es werden verschiedene Möglichkeiten erörtert, wie man die Tätowierung an den Armen der Kinder aus dem Septembertransport erklären könnte, die auf eine Sonderbehandlung nach sechs Monaten hindeutet. Irgendwann schreien alle durcheinander. Dita ist beklommen zumute, während sie dem Streit der Lehrer beiwohnt, und das Wort Tod klingt ihr in den Ohren, als wäre es etwas Obszönes, Anstößiges, das ein junges Mädchen nicht hören sollte. Also geht sie. Fredy hat sie heute noch nirgendwo gesehen. Offenbar hat er Wichtiges zu tun: Er muss sich auf einen offiziellen Besuch der obersten Lagerleitung vorbereiten. Mirjam Edelstein hat den Schlüssel zu seiner Kammer. Sie schließt die Tür auf, damit Dita hineingehen und die Bücher verstecken kann. Die beiden wechseln rasch einen Blick. Dita forscht nach Spuren von Verrat oder Unaufrichtigkeit in den Augen der stellvertretenden Blockältesten, aber sie weiß nicht mehr, was sie denken soll. Alles, was sie an Frau Edelstein wahrnimmt, ist tiefe Traurigkeit.
Als Dita Block 31 verlässt, ist sie in Gedanken versunken. Sie überlegt, ob sie mit ihrem Vater sprechen sollte, der ein vernünftiger Mann ist. Dann fällt ihr plötzlich ein, dass sie sich vor Mengele in Acht nehmen muss, und sie sieht sich mehrmals rasch nach beiden Seiten um, um sicherzugehen, dass sie nicht verfolgt wird. Der Wind hat sich gelegt, und im Lager hat es angefangen zu schneien. Abgesehen von ein paar Menschen, die rasch zu ihren Baracken und ins Warme streben, ist die Lagerstraße leer. Von der SS ist nichts zu sehen.