Kapitel 10
Wenn Dita am Abend Fredy Hirschs Kammer betritt, um die Bücher zu verstecken, macht sie sich jedes Mal so schnell wie möglich aus dem Staub und meidet seinen Blick. Sie will nicht riskieren, etwas in seinem Gesicht zu sehen, das ihr Vertrauen zum Bröckeln bringt. Lieber macht sie die Augen fest zu und glaubt an ihn, so, wie man an das Allerheiligste glaubt. Aber Dita ist stur, und so sehr sie sich auch anstrengt, sie kann nicht vergessen, was sie mitbekommen hat. Umso mehr klammert sie sich an die Bücher in der Bibliothek, um sich aus diesem Sumpf aus Schlamm und Zweifeln zu befreien.
Das Gespräch mit dem jungen Lehrer Ota Keller hat Ditas Neugier geweckt, und so kommt es, dass sie seither nachmittags in ihrem Versteck hockt und H. G. Wells liest, lange nachdem der Unterricht in der Baracke zu Ende ist und wenn die Kinder bereits spielen, um die Wette rätseln oder mit den Stiften zeichnen, die wundersamerweise aufgetaucht sind. Am liebsten hätte Dita einen dieser aufregenden Romane, die der Lehrer erwähnt hat. Eine kurze Geschichte der Welt ist das Buch, das am häufigsten ausgeliehen wird, weil es einem regulären Schulbuch am meisten ähnelt. Und tatsächlich, wenn sie sich in das Buch vertieft, dann ist es, als wäre sie wieder in ihrer Schule in Prag, und wenn sie den Kopf heben würde, würde sie vor sich die Tafel sehen und daneben die kreidebedeckten Hände der Lehrerin.
Wells war dabei eher Romanschriftsteller als Geschichtsschreiber. Sein Buch behandelt die Entstehung der Erde und die bizarren Theorien über den Mond, denen die Wissenschaftler am Anfang des 20. Jahrhunderts anhingen. Von hier aus nimmt er seine Leser mit auf eine Reise durch sämtliche geologischen Epochen. Staunend wandert Dita über einen Planeten, der von Vulkanausbrüchen und den darauffolgenden Klimaveränderungen heimgesucht wird und wo sich Heißzeiten und extreme Eiszeiten abwechseln. Das Zeitalter der Reptilien mit den gewaltigen Dinosauriern, die sich zu den Herrschern des Planeten aufschwangen, fesselt sie besonders. Was würde wohl H. G. Wells über die moderne Welt sagen? Ob er in der Lage wäre, die Reptilien von den Menschen zu unterscheiden?
Das Buch leistet Dita Gesellschaft und führt sie sicher durch die unterirdischen Gänge der imposanten ägyptischen Pyramiden und über die Schlachtfelder von Assyrien. Eine Karte, die die Ausdehnung des persischen Reiches in der Zeit von Kaiser Darius I . zeigt, veranschaulicht ihr, wie gewaltig dieses Reich war, viel größer als jedes andere, das damals existierte. Und dass Wells’ Bemerkung über »Priester und Propheten in Judäa« dem widerspricht, was sie als Kind über die heilige jüdische Geschichte gelernt hat, stürzt sie in Verwirrung. Lieber kehrt sie zu dem Abschnitt über das alte Ägypten zurück, wo sie in die Welt der geheimnisvollen Pharaonen eintaucht und auf den Schiffen mitfahren darf, die den Nil entlanggleiten. H. G. Wells hat recht. Es gibt tatsächlich eine Zeitmaschine: Bücher.
Wenn der Tag zu Ende geht, müssen die Bücher versteckt werden, bevor der Abendappell beginnt. Nachdem Dita qualvolle neunzig Minuten lang stillgestanden hat, während die Häftlingsnummern aufgerufen wurden, macht sie sich erleichtert auf den Weg zu ihrem Vater.
Als sie an Baracke 14 vorbeikommt, sieht sie Margit, die zusammen mit Renée an der Seitenwand lehnt. Die beiden Mädchen haben gerade den Appell hinter sich gebracht, der bei ihnen draußen stattfindet und daher eine viel größere Strapaze ist. Die beiden wirken besorgt, weshalb Dita stehen bleibt. »Was ist denn los? Ist etwas passiert? Ihr werdet euch hier draußen noch den Tod holen.«
Margit sieht Renée an, die etwas auf dem Herzen zu haben scheint. Renée zieht eine blonde Locke auf ihrer Stirn glatt und kaut nervös darauf herum. Sie seufzt, und eine weiße Wolke dringt aus ihrem Mund und verschwindet in der Nacht. »Dieser Nazi … er stellt mir nach.«
»Hat er dir etwas angetan?«
»Noch nicht. Aber heute Morgen ist er wieder zu unserem Graben gekommen und ist genau vor mir stehen geblieben. Ich wusste, dass er es war, und habe nicht aufgesehen. Aber er ist nicht weggegangen. Er hat mich am Arm angefasst.«
»Und was hast du gemacht?«
»Ich habe dem Mädchen neben mir Erde auf die Füße geschaufelt, und sie fing an zu kreischen wie ein wildes Tier. Es gab einen kleinen Tumult, und die anderen kamen zu uns herüber. Er ist dann gegangen, ohne etwas zu sagen. Aber er hatte es auf mich abgesehen … ich habe mir das nicht ausgedacht. Margit hat es gestern auch gesehen.«
»Ja. Nach dem Appell. Wir haben uns noch unterhalten, bevor wir zur Baracke und zu unseren Eltern zurückgingen, und er ist ein paar Schritte von uns entfernt stehen geblieben. Er hat Renée angesehen, ohne jeden Zweifel.«
»Hat er einen wütenden Eindruck gemacht?«, fragt Dita.
»Nein. Er hat sie nur angestarrt. Du weißt schon … mit diesem schmutzigen Blick, wie ihn manche Männer haben.«
»Schmutzig?«
»Ich glaube, er will mit Renée schlafen.«
»Bist du verrückt, Margit?«
»Ich weiß, wovon ich rede. Man sieht das bei den Männern ganz deutlich in ihrem Blick. Es ist, als würden sie sich vorstellen, wie man nackt aussieht.«
»Ich habe Angst«, flüstert Renée.
Dita umarmt sie und sagt, dass sie alle Angst haben. Sie versichert ihr, dass sie bei ihr sein werden, so oft es geht. Renée hat Tränen in den Augen, und sie zittert, aber es ist nicht ganz klar, ob das von der Kälte oder von der Angst kommt. Auch Margit sieht so aus, als würde sie gleich losheulen oder niesen. Dita hebt einen Stock vom Boden auf und beginnt, auf der Schneedecke Kästchen zu zeichnen.
»Was tust du da?«, fragen ihre Freundinnen unisono.
»Ich zeichne ein Hüpfspiel.«
»Um Himmels willen, Ditinka! Wir sind sechzehn. Wir spielen nicht mehr Himmel und Hölle, das ist etwas für Kinder.«
Dita zeichnet sorgfältig weiter ihre Kästchen, als hätte sie Margit gar nicht gehört. Als sie fertig ist, sieht sie die Freundinnen an, die darauf warten, dass sie etwas sagt. »Im Moment sind alle in ihren Baracken. Niemand wird uns sehen!«
Renée und Margit schütteln stirnrunzelnd die Köpfe, während Dita den Boden absucht. »Das Stück Holz wird es tun«, sagt sie und wirft es auf eines der Kästchen. Sie hüpft und landet ein wenig schwankend.
»Du bist so ein Tollpatsch«, sagt Renée lachend.
»Und du denkst, dass du das mit so viel Schnee besser hinbekommst?«, gibt Dita mit gespieltem Ärger zurück.
Renée rafft ihren Kittel, wirft das Stöckchen und beginnt eine perfekte Sprungfolge. Margit applaudiert. Sie kommt als Nächste an die Reihe und ist die Schlechteste der drei: Auf einem Bein hüpfend, kommt sie ins Stolpern und legt eine spektakuläre Bruchlandung im Schnee hin. Als Dita ihr aufhelfen will, rutscht sie auf einer vereisten Stelle aus und plumpst auf ihr Hinterteil.
Renée lacht sie beide aus. Margit und Dita werfen vom Boden aus Schneebälle nach ihr, die in ihrem Haar landen und es weiß färben.
Und die drei lachen. Endlich lachen sie.
Dita verabschiedet sich rasch, durchnässt, aber glücklich, um zu ihrer Geografiestunde zu laufen, wie jeden Mittwoch. Montags hat sie Mathematik und freitags Latein. Ihr Lehrer ist Herr Adler, ihr Vater, und das Schreibheft ist ihr eigener Kopf.
Sie kann sich genau erinnern, wie sie eines Tages nach Hause in die Wohnung in der Josephstadt kam und ihren Vater, der inzwischen nicht mehr ins Büro musste, im Wohnzimmer vorfand. Dort saß er an dem einzigen Tisch, den sie besaßen, und ließ den Globus kreisen. Wie jeden Nachmittag ging Dita mit ihrer Schultasche zu ihm und gab ihm einen Kuss. Oft zog er sie dann auf seinen Schoß, und sie spielten Ländersuche, wobei sie den Globus langsam um seine Metallhalterung kreisen ließen und ihn dann unvermittelt dort anhielten, wo sie das jeweilige Land vermuteten. An jenem Tag wirkte ihr Vater abwesend. Es sei ein Brief von der Schule gekommen, erzählte er Dita: Ferien. Normalerweise ist dieses Wort in Kinderohren Musik. Aber die Art, wie ihr Vater es aussprach und die Plötzlichkeit dieser unerwarteten Schulferien waren ein Missklang. Dita weiß noch, wie aus ihrer Freude Verzweiflung wurde, als sie begriff, dass sie nie wieder in die Schule gehen würde. Ihr Vater winkte sie zu sich und zog sie auf seinen Schoß.
»Du wirst zu Hause lernen. Onkel Emil, der Apotheker, wird dir Chemie beibringen, und meine Cousine Ruth wird dich in Kunst unterrichten. Ich rede mit ihnen, keine Sorge. Du wirst schon sehen. Und ich werde dich in den Sprachen und in Mathematik unterrichten.«
»Und in Geografie?«
»Aber natürlich. Du wirst die Reisen um die Welt noch leid bekommen!«
Und genauso kam es.
Das war noch in Prag, bevor sie 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden. Und im Vergleich mit dem Abgrund von Auschwitz war diese Zeit gar nicht so übel. Vor der Besetzung Prags hatte ihr Vater so viel gearbeitet, dass er für seine Tochter kaum Zeit fand. Deshalb war Dita froh darüber, dass er ihr Lehrer wurde und ihr erklärte, dass der höchste Berg der Erde Mount Everest hieß und die Oasen in der Wüste aus unterirdischen Quellen gespeist wurden.
Der Unterricht fand am Nachmittag statt. Morgens stand ihr Vater zur gleichen Zeit auf wie immer, rasierte sich und zog seinen Anzug an, wie er es sein Leben lang getan hatte, wobei er viel Sorgfalt auf den Knoten seiner Krawatte verwendete. Bevor er dann das Haus verließ und sich auf den Weg zu seiner Stelle bei der Sozialversicherung machte, bekamen Dita und ihre Mutter noch jede einen Kuss von ihm, der nach Rasierschaum roch.
Als Dita jetzt zur Baracke ihres Vaters geht, sieht sie sich ein paarmal um, um sicherzugehen, dass Mengele ihr nicht folgt. Auch wenn sie im Moment mehr mit dem Gedanken beschäftigt ist, was sie vom Blockältesten von Block 31 halten soll.
Ihr Vater steht bereits neben der Baracke und wartet auf sie, wie an jedem Montag, Mittwoch und Freitag, an dem es nicht regnet. Die beiden setzen sich auf einen großen Findling. Das ist ihre Schule. Ihr Vater hat bereits mit einem Stock eine Weltkarte in den Erdboden gezeichnet. In der Zeichnung im Schlamm von Auschwitz ist es nicht ganz einfach, die Welt zu erkennen.
»Heute befassen wir uns mit den Ozeanen, Edita.«
Aber Dita ist nicht bei der Sache. Ständig muss sie daran denken, wie sehr sich ihr Vater über den Atlas in Block 31 freuen würde. Aber sie darf die Bücher nicht aus der Baracke mitnehmen, und Mengele sitzt ihr im Nacken, es geht einfach nicht. Sie ist viel zu zerstreut, um auf die Erklärungen ihres Vaters zu achten. Außerdem ist es eiskalt, und inzwischen hat es angefangen zu schneien.
Dita ist erleichtert, als ihre Mutter etwas früher auftaucht. »Es ist viel zu kalt. Macht Schluss für heute, sonst erkältet ihr euch noch.«
In Auschwitz, wo es weder ausreichend Medikamente, Decken noch Nahrung gibt, kommen Erkältungen einem Todesurteil gleich. Dita und ihr Vater stehen auf, und obwohl er derjenige ist, der vor Kälte zittert, legt er Dita seine Jacke um die Schultern. Dita nutzt die Gelegenheit, um zur Sprache zu bringen, was ihr Kopfzerbrechen bereitet, ohne das Thema direkt anzuschneiden.
»Papa … Wenn du jemandem im Lager ein Geheimnis anvertrauen müsstest, wen würdest du da wählen?«
»Dich und deine Mutter.«
»Ja, das ist mir klar. Ich meine, außer uns.«
»Frau Turnovská ist eine gute Frau. Sie ist vertrauenswürdig«, wirft ihre Mutter ein.
»Bei ihr kannst du dich jedenfalls darauf verlassen, dass selbst der Anführer der Latrinebrigade dein Geheimnis erfährt. Diese Frau ist der reinste Volksempfänger«, erwidert ihr Mann.
»Das stimmt, Papa.«
»Der anständigste Mensch, den ich hier kenne, ist Herr Tomásek. Erst vor Kurzem war er hier und hat sich erkundigt, wie es uns geht. Er ist ein Mensch, für den es Wichtigeres gibt, als der Erste vor der Essensausgabe zu sein. Es gibt nicht viele Menschen wie ihn.«
»Du meinst also, wenn man ihn nach seiner ehrlichen Meinung fragt, würde er einem die Wahrheit sagen?«
»Bestimmt. Wieso fragst du?«
»Ach, nur so.«
Insgeheim notiert sich Dita Herrn Tomáseks Namen. Sie wird zu ihm gehen und ihn fragen müssen, was er von Fredy hält.
»Deine Großmutter hat immer gesagt, Kinder und Verrückte sagen die Wahrheit«, fügt ihre Mutter hinzu.
Kinder und Verrückte … die Kinder wissen über Hirsch vermutlich wenig bis gar nichts. Doch da kommt Dita ein Gedanke. Morgenstern … sie kann über ihre Zweifel, was Hirsch angeht, nicht einfach mit jedem sprechen. Sie könnte sich einen schweren Tadel einfangen, man würde ihr womöglich Verrat vorwerfen oder wer weiß was sonst noch. Aber bei Professor Morgenstern besteht da keine Gefahr. Wenn der alte Mann ihre Geschichte weitererzählen würde, könnte sie die Sache einfach leugnen und behaupten, es wäre eine seiner Spinnereien. Ob er etwas über Hirsch weiß? Dita wird es herausfinden müssen.
Zu ihren Eltern sagt sie, dass sie noch zu Margit geht. Sie weiß, dass der alte Architekt meistens in Block 31 bleibt, bis es Suppe gibt, oft in seinem Schlupfwinkel hinter dem Holzstoß, in den Dita sich zurückzieht, wenn sie lesen will.
Den gewöhnlichen Hilfskräften ist es nach dem Unterricht nicht gestattet zu bleiben, aber Dita genießt als Bibliothekarin gewisse Privilegien. Vielleicht ist das die Erklärung dafür, dass die anderen Gehilfen sie anscheinend nicht leiden können. Aber eigentlich ist es egal. Sie weiß ohnehin nicht, wo ihr der Kopf steht. Seit die Zweifel an ihr nagen und sie nicht weiß, ob Fredy zu den Guten oder den Bösen gehört, ist ihr das Herz schwer.
In Block 31 unterhalten sich noch ein paar Lehrer, sie nehmen keine Notiz von Dita. Sie geht bis ganz nach hinten und späht um den Holzstoß herum. Professor Morgenstern ist gerade damit beschäftigt, ein reichlich mitgenommenes Blatt Papier zum zweiten Mal zu einem Flieger zu falten. Gebrauchte Papierbögen sind nicht leicht zu bekommen, sie sind für alle möglichen Zwecke heiß begehrt, unter anderem für hygienische.
»Guten Abend, Herr Professor.«
»Sieh an, sieh an, das Fräulein Bibliothekarin! Wie nett, dass Sie mich besuchen.« Er steht auf und macht eine Verbeugung. »Kann ich Ihnen mit etwas behilflich sein?«
»Ach, es ist nichts weiter. Ich kam nur gerade vorbei …«
»Das ist gut. Ein täglicher Spaziergang von einer halben Stunde kann das Leben um zehn Jahre verlängern.«
»Dieser grässliche Ort animiert leider nicht zum Spazierengehen.«
»Nun, man kann sich doch immerhin die Beine vertreten. Beine haben keine Augen.«
»Professor Morgenstern … kennen Sie Herrn Hirsch schon länger?«
»Wir haben uns auf der Fahrt hierher kennengelernt.«
»Und was halten Sie von ihm?«
»Ich glaube, er ist ein hervorragender junger Mann.«
»Das ist alles?«
»Erscheint Ihnen das wenig? In diesen Zeiten sind Menschen mit Klasse nicht leicht zu finden. Gute Manieren scheinen heutzutage nicht mehr zu zählen.«
Dita zögert, aber sie hat nicht oft Gelegenheit, offen mit jemandem zu sprechen. »Professor … glauben Sie, dass Fredy etwas verbirgt?«
»Ja, natürlich.«
»Und was?«
»Bücher.«
»Herrje, das ist mir klar!«
»O bitte, Fräulein Adlerova, regen Sie sich doch nicht auf. Sie haben gefragt, und ich habe Ihnen geantwortet.«
»Ja, natürlich. Entschuldigen Sie bitte. Was ich Sie eigentlich, ganz unter uns, fragen wollte: Glauben Sie, man kann ihm vertrauen?«
»Sie stellen heute merkwürdige Fragen.«
»Das stimmt. Bitte vergessen Sie, was ich gesagt habe.«
»Ich habe noch nicht ganz verstanden. Geht es um seine Zuständigkeit als Blockältester?«
»Nicht direkt. Ich meinte: Glauben Sie, dass er wirklich der ist, der er zu sein scheint?«
Nach kurzem Nachdenken erwidert der Professor: »Nein, das glaube ich nicht.«
»Er ist also nicht der, der er zu sein scheint?«
»Nein. Und das Gleiche gilt auch für mich. Und für Sie. Niemand ist der, der er zu sein scheint. Deshalb hat Gott die Gedanken stumm gemacht – damit nur wir selbst sie hören können. Niemand darf wissen, was wir wirklich denken. Bei mir werden die Leute immer wütend, wenn ich sage, was ich denke.«
»Das ist wahr …«
»Kann es sein, dass Sie eigentlich von mir wissen wollen, wem Sie in diesem Loch namens Auschwitz vertrauen können?«
»Richtig!«
»Also, was Vertrauen angeht, oder was man gemeinhin dafür hält, so muss ich gestehen, dass ich es nur meinem besten Freund schenke.«
»Und wer ist Ihr bester Freund?«
»Ich. Ich bin mein bester Freund.«
Dita starrt den alten Professor an, der immer noch damit beschäftigt ist, die Spitze seines Papierfliegers zu glätten. Sie gibt auf. Aus diesem Mann wird sie nie etwas Brauchbares herausbekommen.
Als sie in ihre Baracke kommt, ist alles still. Von Mengele hat Dita schon seit zwei Tagen nichts mehr gesehen. Das ist gut. Aber sie darf sich nicht darauf verlassen, dieser Mann hat seine Augen überall. Als sie sich auf ihren Strohsack legt – wobei sie sich bemüht, nicht in die Delle zu rollen, die das massige Hinterteil ihrer Bettnachbarin hinterlässt –, erwägt sie kurz, mit Mirjam Edelstein, der stellvertretenden Blockältesten, über Hirsch zu sprechen. Aber was, wenn Mirjam mit ihm unter einer Decke steckt? Ihr Mann Jakub war im Getto Theresienstadt Vorsitzender des Ältestenrats, und die Nazis haben ihn von den anderen tschechischen Häftlingen getrennt. Frau Edelstein macht sich große Sorgen um ihn, man sieht ihr deutlich an, wie traurig sie ist. Sie kann unmöglich auf der Seite der Nazis sein. Wird Dita allmählich paranoid?
Aber vielleicht gibt es ja noch mehr als nur Nazis und Häftlinge, vielleicht gibt es mehr als zwei Seiten, und Dita erfasst diese Abstufungen nur nicht. Das alles ist so verwirrend. Doch als Dita die Augen zumacht, taucht ein Bild vor ihrem inneren Auge auf, das sie bei ihren kostbarsten Fotos aus Auschwitz archivieren wird: Margit und sie, die beide im Neuschnee liegen, während Renée auf sie herunterblickt und sie alle drei in Gelächter ausbrechen. Solange sie noch lachen können, ist nicht alles verloren.