Kapitel 12
Rudi Rosenberg geht um die Rückseite seiner Baracke im Quarantänelager herum und hinüber zu dem elektrischen Zaun. Auf der anderen Seite wartet Alice Munk auf ihn. Beide bleiben je drei Schritte vor dem Zaun stehen und gehen dann, trotz der mehreren Tausend Volt, die durch den Stacheldraht fließen, einen weiteren Schritt aufeinander zu. Dann setzen sie sich auf den Boden – langsam, um nicht den Verdacht des Wachmanns zu erregen.
Es ist einer der vielen Nachmittage, an denen Rudi und Alice sich treffen. Alice erzählt ihm dann von ihrer wohlhabenden Fabrikantenfamilie im Norden Prags und davon, wie gern sie wieder zu Hause wäre. Rudi redet über seinen Traum, nach Amerika zu gehen, sobald dieser Albtraum aus Krieg und Lagern vorüber ist. Es ist eiskalt, der Boden ist gefroren. Rudi trägt eine Jacke aus schwerem Stoff, aber Alice nur eine dünne Strickjacke und einen alten Wollschal. Als Fredy sieht, wie blau ihre Lippen sind und wie sie vor Kälte zittert, schlägt er ihr vor, zu ihrem Block zurückzukehren, aber sie will nicht. Sie will lieber draußen in der Kälte bleiben, allein mit ihm, als in einer Baracke voller Frauen, die nach Schweiß und Krankheit stinken – und manchmal auch nach Zorn.
Wenn die Kälte unerträglich wird, stehen sie auf und gehen gemeinsam am Zaun entlang. Die Wachen haben sich an sie gewöhnt. Für einige von ihnen besorgt Rudi Tabak, und manchmal dolmetscht er für die russischen und tschechischen Soldaten. Fürs Erste werden ihre nachmittäglichen Treffen daher geduldet.
Rudi erzählt Alice von den lustigen Dingen, die er als Schreiber erlebt. Von dem, was er in den Augen der Neuankömmlinge sieht, will er ihr nicht erzählen. Manchmal erfindet er deshalb Anekdoten, um sie zu unterhalten. Als Alice ihn fragt, ob es stimme, dass jeden Tag Hunderte von Menschen im Gas sterben, sagt er, nur die Todkranken würden vergast, damit sie keine Angst haben muss, und dann wechselt
er das Thema.
»Ich habe dir etwas mitgebracht …« Er zieht seine Hand aus der Jackentasche und öffnet die Faust. Der Gegenstand, der auf seiner Handfläche liegt, ist winzig, aber Alice macht große Augen, als sie begreift, wie wertvoll er ist. Es ist eine Knoblauchzehe.
Inzwischen ist Rudi so etwas wie ein Experte, was den Soldaten im benachbarten Wachturm angeht. Als dessen Gewehrlauf anzeigt, dass er ihnen den Rücken zuwendet, geht er schnell zwei Schritte auf den Zaun zu. Er darf den Draht nicht berühren, aber er darf auch nicht zaudern. Er hat nur zehn Sekunden, bevor der Wachmann sich wieder umdreht. Er presst zwei Finger zusammen und schiebt sie vorsichtig durch eine passende Lücke. Fünf Sekunden. Er lässt die Knoblauchzehe los. Alice streckt die Hand aus und fängt sie auf. Vier Sekunden. Beide kehren wieder auf ihre Plätze zurück, wenige Schritte vom Zaun entfernt.
In Alice’ Gesicht spiegeln sich Furcht und Bewunderung, und Rudi ist froh darüber. Nicht viele Menschen wären bereit, ihre Finger durch einen Zaun zu stecken, in dem tödlicher Strom fließt. Einige Schwarzmarkthändler werfen ihre Ware über die Zäune, die die Lager trennen, aber Rudi befürchtet, dass man eine solche Bewegung von Weitem sehen würde, und es gibt im Lager einfach zu viele Augen, zu viele Münder.
»Iss den Knoblauch, Alice. Da sind viele Vitamine drin.«
»Aber dann kann ich dir keinen Kuss mehr geben …«
»Jetzt mach schon, Alice, das ist wichtig. Du musst essen, du bist sehr dünn.«
»Gefalle ich dir nicht?«, fragt Alice kokett.
Rudi seufzt. »Du weißt doch, dass ich verrückt nach dir bin. Und deine Haare sind heute ganz besonders hübsch.«
»Du hast es also gesehen!«
»Aber du musst den Knoblauch essen. Es war nicht einfach, da ranzukommen.«
»Und ich bin dir wirklich sehr dankbar dafür.« Aber sie schließt die Hand um die Zehe, anstatt sie zu essen. Rudi flucht unterdrückt.
»Das Gleiche hast du schon neulich gemacht, als ich dir eine Stange Sellerie mitgebracht habe.«
Alice wirft ihm einen neckischen Blick zu und hebt das Kinn, als
wolle sie auf etwas zeigen. Und da sieht es Rudi endlich und schlägt die Hand vor die Stirn.
»Du bist ja verrückt, Alice!«
Bis zu diesem Augenblick war ihm noch gar nicht aufgefallen, dass Alice einen rosa Haarreif trägt. Er ist vielleicht ein bisschen kindlich für sie, aber an diesem Ort ist es ein Luxusgegenstand. Der Rudi eine Stange Sellerie gekostet hat. Alice lacht.
»Das darfst du nicht tun! Der Winter ist noch nicht vorbei, du hast kaum etwas Warmes zum Anziehen, und du musst essen. Verstehst du das denn nicht? Der Vorarbeiter, der für den Leichenwagen verantwortlich ist, sammelt in deinem Lager jeden Tag ein Dutzend Leichen ein – Menschen, die an Erschöpfung, Unterernährung oder einfach nur an einer Erkältung gestorben sind. Hier kann man an einer Erkältung sterben, Alice. Wir sind sehr schwach. Du musst essen!« Zum ersten Mal klingt seine Stimme hart, als er mit Alice spricht: »Ich möchte, dass du diese Knoblauchzehe jetzt sofort isst!«
Für den Knoblauch musste er einer Küchenhilfskraft die Namen und Dienstgrade der kürzlich angekommenen russischen Offiziere nennen. Rudi hat keine Ahnung, wozu der Mann die Liste braucht, und er will es auch nicht wissen, aber solche Informationen sind wertvoll. So ein Gefallen kann ihn das Leben kosten.
Alice sieht ihn betrübt an, und er sieht Tränen in ihren Augen. »Du bist es, der nicht versteht, Rudi.« Mehr sagt sie nicht, sie ist nicht sehr gesprächig.
Und nein, Rudi versteht nicht. Eine Selleriestange, die so nahrhaft und so schwer zu beschaffen ist, im Tausch gegen ein nutzloses Stück Draht in einer Hülle aus Samt, auf die Schnelle hergestellt in einer der Lagerwerkstätten, erscheint ihm töricht. Er begreift nicht, dass Alice demnächst sechzehn Jahre alt wird. Und nachdem sie ihre ganze Jugend mit der Fratze des Krieges verbracht hat, macht es sie glücklich, wenn sie sich einen Nachmittag lang schön fühlen kann. Sie zieht daraus mehr Nahrung als aus einem ganzen Feld Sellerie. In Auschwitz altert man in schwindelerregendem Tempo, und die Hinfälligkeit nimmt ungeahnte Abkürzungen.
Alice macht einen Schmollmund und bittet Rudi mit den Augen um Verzeihung, und er zuckt mit den Schultern. Er versteht sie nicht, aber er schafft es auch nicht, böse auf sie zu sein.
Er weiß es zwar nicht, aber das Schicksal seiner Knoblauchzehe ist bereits beschlossene Sache. Nach dem Nachmittagsappell läuft Alice zu Baracke 9, wo Herr Lada wohnt. Herr Lada ist ein kleiner Mann, der in der Gruppe arbeitet, die für den Totentransport verantwortlich ist. Es ist keine angenehme Arbeit, aber sie erlaubt ihm, sich im Lager frei zu bewegen, und Bewegungsfreiheit ist gleichbedeutend mit der Möglichkeit, Geschäfte zu machen. Alice hält sich ein winziges Stück Seife an die Nase und atmet tief ein, es duftet himmlisch. Das Gleiche tut Lada mit seiner Knoblauchzehe, und auch sie riecht göttlich.
Alice freut sich so sehr über ihr Tauschgut, dass sie die Zeit bis zur Sperrstunde damit verbringt, ihre Kleider zu waschen. Sie zieht einen löchrigen Wollpullover und einen sehr alten karierten Rock an, die sie beide unter dem Strohsack auf ihrer Pritsche aufbewahrt. Es sind die einzigen Kleidungsstücke, die sie tragen kann, wenn sie alle zwei Wochen ihre Unterwäsche, ihre Socken und ihr blaues Kleid – das inzwischen einen verblichenen Grauton angenommen hat – wäscht.
Sie muss anderthalb Stunden in der Schlange stehen, bis sie zu einem der nur drei Wasserhähne gelangt, aus dem ein dünnes Rinnsal kommt. Das Wasser kann man nicht trinken, es sind bereits ein paar Leute daran gestorben, entweder weil sie es für ungefährlich hielten oder weil sie den quälenden Durst nicht ertrugen – vor allem nachts, wenn seit dem letzten Tropfen Flüssigkeit, der Mittagssuppe, schon so viele Stunden vergangen waren.
Das eiskalte Wasser schmerzt auf der Haut, und hinterher fühlen sich Alice’ Hände rau und taub an. Jetzt steht sie erst eine Minute da, aber die Frauen hinter ihr schimpfen bereits, sie solle sich beeilen und endlich fertig werden. Ein paar von ihnen murren extra laut, damit Alice es auch hört. Geheimnisse gibt es nicht im Lager, und die Gerüchte überziehen alles, so wie die Feuchtigkeit, die vom Boden bis zur Decke und zum Dach aufsteigt und dabei alles verfaulen lässt. Die Leute wissen über ihre Beziehung zu dem slowakischen Schreiber Bescheid, und denen, die es nicht ertragen können, dass anderen Gutes widerfährt, ist sie ein Dorn im Auge. Der Überlebensdrang führt bei den Häftlingen zu einem moralischen Niedergang, und Angst und Schmerz verwandeln sich in Groll gegenüber den Mithäftlingen. In den Augen dieser Menschen stellt es so etwas wie Gerechtigkeit her und lindert ihr eigenes Leid, wenn sie anderen schaden.
»Es ist einfach unfair, dass eine schamlose Schlampe, die für einflussreiche Häftlinge die Beine breitmacht, ein Stück Seife hat, während anständige Frauen sich mit schmutzigem Wasser waschen müssen!«, schimpft eine Frau. Aus einer Gruppe von Frauen mit Kopftüchern kommt zustimmendes Gemurmel.
»Es gibt keinen Anstand mehr und auch keinen Respekt«, sagt eine andere so laut, dass Alice es hören kann. »Es ist eine Schande.«
Wütend schrubbt das junge Mädchen ihre Kleidung, als würde sie hoffen, dass die Glycerinseife ihren Zorn wegspült. Rasch beendet sie ihre Arbeit, ohne richtig fertig zu sein. Beschämt und nicht in der Lage, sich zu verteidigen, wagt sie nicht, den Kopf zu heben. Als sie geht, lässt sie die restliche Seife im Regal liegen. Mehrere Frauen stürzen sich darauf, und ein Tumult entsteht, als die Frauen miteinander balgen und durcheinanderschreien.
Alice schämt sich so sehr und ist so durcheinander, dass sie ihrer Mutter nicht unter die Augen treten will. Daher geht sie zu Block 31. Die Vorschrift besagt, dass die Türen zu den Baracken immer einen Spalt offen bleiben müssen, und als Alice die Baracke betritt, fällt ein Metallbehälter mit Schrauben zu Boden. Es ist einer von Fredys Tricks, um festzustellen, ob jemand außerhalb der Zeiten die Baracke betritt. Als der Blockälteste aus seiner Kammer kommt, sieht er, dass Alice zittert.
»Was ist denn los, Mädchen?«
»Sie hassen mich, Fredy!«
»Wer hasst dich?«
»All diese Frauen. Sie beschimpfen mich, weil ich Rudis Freundin bin!«
Hirsch legt ihr beide Hände auf die Schultern, Alice kann nicht aufhören zu weinen. »Diese Frauen hassen dich nicht, Alice. Sie kennen dich ja nicht einmal.«
»Doch, sie hassen mich! Sie haben grässliche Dinge zu mir gesagt, und ich konnte ihnen nicht einmal so antworten, wie sie es verdient hätten.«
»Das war genau richtig. Wenn ein Hund einen Menschen anbellt oder sogar beißt, dann geschieht das aus Furcht, nicht aus Hass. Wenn du jemals einem aggressiven Hund gegenüberstehen solltest, darfst du nicht wegrennen oder schreien, sonst erschreckst du ihn und wirst
gebissen. Du musst ganz ruhig stehen bleiben und langsam mit ihm sprechen, damit er seine Angst verliert. Diese Frauen haben Angst, Alice. Sie sind wütend über alles, was hier mit uns passiert.«
Langsam beruhigt sich Alice.
»Du solltest deine Kleider aufhängen.«
Alice nickt und will sich bei ihm bedanken, aber Fredy hindert sie mit einer Handbewegung daran. Es gibt nichts, für das sie sich bedanken müsste. Er ist für all diese Menschen verantwortlich. Die Hilfskräfte sind seine Soldaten, und ein Soldat bedankt sich nicht; er steht stramm und salutiert, alles Weitere ist überflüssig.
Nachdem Alice gegangen ist, sieht Hirsch sich um, dann geht er wieder in seine Kammer und schließt die Tür hinter sich. Aber die Baracke ist nicht leer. Jemand kauert hinter dem Holzstapel und hat stumm zugehört.
Ditas Vater kämpft seit Tagen erfolglos mit einer Erkältung, und ihre Mutter hat ihn gezwungen, mit dem Unterricht im Freien aufzuhören, weshalb Dita jetzt an ihren Nachmittagen in ihrem Schlupfwinkel im hinteren Teil der Baracke Wache hält. Sie wartet auf die Rückkehr des geheimen SS
-Mannes, aber bisher ohne Erfolg. Wenn es keinen Menschen gibt, dem sie trauen kann, dann muss sie das Rätsel um Hirsch eben alleine lösen. Fredy kommt regelmäßig aus seiner Kammer, um Liegestützen und Sit-ups zu machen, oder er hebt Schemel, als wären sie Gewichte. Ein paarmal ist Mirjam Edelstein vorbeigekommen, aber das war alles. Dita vermisst die Gespräche mit Margit, die, wie sie weiß, manchmal ein wenig mit Renée plaudert.
Hirsch hat in der Meinung, die Baracke sei leer, das Licht ausgemacht, und so sitzt Dita im Dunkeln. Um sich warm zu halten, schlingt sie die Arme um ihren Leib. Ihr Zittern erinnert sie an die Patienten im Internationalen Sanatorium Berghof, die abends mit Blick auf die Alpen im Liegestuhl verharren, damit die kalte, trockene Bergluft ihre Lungen von der Tuberkulose reinigt. Nach all den Wochen im Lager kann sie sich nur noch mit Mühe daran erinnern, wie sie in Theresienstadt Der Zauberberg
verschlungen hat. Das Buch hat einen derart tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen, dass die Figuren zu ihrem Erinnerungsschatz gehören.
Die Klinik erinnerte Dita an das Getto. Dort war das Leben besser als in Auschwitz. Es war längst nicht so grausam und grässlich wie die
Fabrik des Schmerzes, in der sie jetzt um das Überleben kämpfen, und das, obwohl Theresienstadt eine Klinik war, in der niemand geheilt wurde.
Hans Castorp wollte ursprünglich nur ein paar Tage bleiben, aber es wurden Monate und schließlich Jahre daraus. Immer wenn es so aussah, als könnte er die Klinik verlassen, diagnostizierte Dr. Behrens einen kleinen Schatten auf seiner Lunge, und er musste seinen Aufenthalt verlängern. Als Dita mit dem Buch begann, hatte sie keine Ahnung, wann sie diese Gefängnisstadt würde verlassen können. Angesichts der Gerüchte über das, was sich hinter den Mauern abspielte – die Nazis marschierten erbarmungslos durch ein vom Krieg zerrissenes Europa, in dem schon Millionen Menschen gestorben waren und wo es Vernichtungslager gab, wohin man die Juden deportierte –, empfand Dita die Mauern von Theresienstadt zwar als Gefängnis, doch sie beschützten sie auch. Genau das Gleiche galt für Hans und die Berghof-Klinik. Er wollte sie nicht mehr verlassen und dem Leben die Stirn bieten.
Damals tauschte Dita ihre Arbeit in den Theresienstädter Gemüsegärten gegen eine angenehmere Aufgabe in einer Anlage, in der Militärkleidung hergestellt wurde. Und während ihre Mutter immer mehr an Kraft verlor und ihr Vater immer weniger geistreiche Bemerkungen machte, las Dita weiter. Die Geschichte von Hans Castorp faszinierte sie, und sie leistete ihm Gesellschaft, bis er am Wendepunkt seines Lebens ankam: Es war ein Abend in der Fastnachtszeit, und im Schutz der Freiheit, die die Masken den Menschen schenken, wagte er es zum ersten Mal, Madame Chauchat anzusprechen, eine bildschöne Russin, in die er hoffnungslos verliebt war, obwohl sie nie mehr als ein paar höfliche Floskeln gewechselt hatten. In der erdrückend förmlichen Atmosphäre der Berghof-Klinik und im Schutz der Freiheiten, die der Karneval ihnen gewährte, war er so tollkühn, sie zu duzen und sie mit ihrem Vornamen anzusprechen. Während Dita die Augen schließt, erlebt sie noch einmal, wie Hans Castorp – so romantisch! – vor Madame Chauchat niederkniet und ihr auf galante und leidenschaftliche Weise seine rasende Liebe gesteht. In diesem Moment der Freiheit, den der Karneval ihm gewährt und in dem nicht die im Korsett der Etikette gefangenen Menschen die Sprecher sind, sondern die Masken, sagt Madame Chauchat zu Hans:
»Die Deutschen lieben die Ordnung mehr als die Freiheit, ganz Europa weiß das.«
Und Dita, die in ihrem Schlupfwinkel aus Brettern hockt, nickt zustimmend. Madame Chauchat hat so recht. Dita wäre gerne wie die kultivierte, gebildete Madame Chauchat. Dann würden alle Jungen verstohlen zu ihr hinsehen, wenn sie ins Zimmer käme. Nach den zweifellos gewagten, aber charmanten Komplimenten des jungen Deutschen, gegen die die Russin übrigens gar nichts hat, geschieht etwas völlig Unerwartetes: Madame Chauchat beschließt, dass es Zeit für eine Luftveränderung ist, und entschwindet nach Dagestan, oder vielleicht auch nach Spanien. An Madame Chauchats Stelle hätte Dita dem Charme und der Liebenswürdigkeit von jemandem wie Hans Castorp nicht widerstehen können. Und das nicht, weil ihr der Mut fehlt, die Welt zu erkunden. Wenn dieser Albtraum von einem Krieg vorbei ist, würde sie mit ihrer Familie gern überall hinfahren. Vielleicht sogar nach Palästina, wovon Fredy Hirsch ständig redet.
In diesem Augenblick hört sie, wie die Tür zur Baracke aufgeht. Als sie vorsichtig durch den Holzstoß späht, sieht sie die gleiche hochgewachsene Gestalt mit den Stiefeln und dem dunklen Regenmantel wie beim ersten Mal in Hirschs Kammer verschwinden. Ihr Herz macht einen kleinen Sprung.
Der lang erwartete Augenblick der Wahrheit ist da. Aber ist sie wirklich bereit dafür? Immer wenn die Wahrheit enthüllt wird, geht etwas kaputt. Dita seufzt, am besten wäre es, sie würde die Baracke verlassen; aber die Ungewissheit quält sie. Auch wenn die Wahrheit wehtun könnte – Dita will sie erfahren. Also bleibt sie.
Vorsichtig schleicht Dita sich zu der Wand, die an die Kammer des Blockältesten grenzt. Es ist riskant. Wenn man sie beim Spionieren erwischt, könnte alles Mögliche passieren. Als sie das Ohr an die Bretterwand legt, bemerkt sie ein kleines Loch, durch das sie ins Innere der Kammer sehen kann. Sie erblickt Hirsch, dessen Miene düster ist. Von dem blonden Mann, der ihm gegenübersteht, kann sie nur den Rücken sehen. Er trägt zwar keine SS
-Uniform, aber auch nicht die normale Häftlingskleidung. Dann sieht sie das braune Armband, das die Barackenkapos tragen.
»Das ist heute das letzte Mal, Ludwig.«
»Warum?«
»Ich kann meine Leute nicht weiter hintergehen.« Fredy streicht sich das Haar zurück. »Sie halten mich für etwas völlig anderes als das, was ich wirklich bin.«
»Und was genau ist dieses so furchtbar andere, was du bist?«
Fredy lächelt ein bitteres Lächeln. »Das weißt du doch. Du weißt es besser als jeder andere.«
»Komm schon, Fredy, trau dich und sprich es aus …«
»Es gibt nichts mehr zu bereden.«
»Wieso nicht?« Zorn und Ironie schwingen in den Worten von Fredys Gesprächspartner mit. »Der furchtlose Fredy Hirsch hat nicht den Mumm, zuzugeben, was er ist? Wagst du etwa nicht, es auszusprechen?«
Der Blockälteste seufzt und sagt sehr leise: »Verkehrt herum.«
»Verdammt, jetzt nenn das Kind doch endlich beim Namen! Der große Fredy Hirsch ist schwul!«
Außer sich vor Wut stürzt sich Hirsch auf den Mann und packt ihn am Jackenaufschlag. Er drückt ihn gegen die Wand, und an seinem Hals tritt eine Ader hervor. »Sei still! Sag das nie wieder!«
»Ach komm schon! Ist das denn so schlimm? Ich bin es schließlich auch, und ich halte mich trotzdem nicht für ein Ungeheuer. Hältst du mich denn für eines? Bist du der Meinung, dass ich es verdient habe, ein Kennzeichen tragen zu müssen wie ein Paria?« Dabei zeigt der Mann auf das aufgenähte rosa Dreieck auf seinem Hemd.
Hirsch lässt ihn los. Er schließt die Augen und streicht sich die Haare zurück, während er versucht, seine Fassung wiederzuerlangen. »Verzeih mir, Ludwig. Ich wollte dir nicht wehtun.«
»Nun, das hast du aber.« Mit der Sorgfalt eines Dandys glättet Ludwig seine zerknitterten Jackenaufschläge. »Du hast gesagt, du willst die Leute, die dir folgen, nicht täuschen. Was hast du eigentlich vor, wenn du hier herauskommst? Suchst du dir dann ein nettes jüdisches Mädchen, das dir koscheres Essen kocht, und heiratest die Kleine? Willst du sie
täuschen?«
»Ich will niemanden täuschen, Ludwig. Deswegen müssen wir auch aufhören, uns zu treffen.«
»Mach doch, was du willst. Unterdrück deine Gefühle, wenn du dich damit besser fühlst. Versuche mit einem Mädchen ins Bett zu gehen. Ich habe es versucht: Es ist, als würde man Suppe essen, der jeder
Geschmack fehlt. Auch wenn es nicht ganz und gar furchtbar ist. Und glaubst du, damit wäre es mit der Täuschung vorbei? Nie und nimmer! Einen wirst du immer belügen: dich selbst.«
»Ich habe dir bereits gesagt, dass es aus ist, Ludwig.«
Fredys Worte lassen keine weitere Erwiderung zu. Die beiden sehen sich traurig an, keiner von ihnen sagt etwas. Der Kapo mit dem rosa Dreieck nickt langsam und gibt sich geschlagen. Er geht auf Hirsch zu und küsst ihn auf die Lippen. Eine stumme Träne rinnt über Ludwigs Wange.
Auf der anderen Seite der Holzwand würde Dita am liebsten schreien. Es ist mehr, als sie ertragen kann. Sie hat noch nie gesehen, wie sich zwei Männer küssen, und sie findet es ekelhaft. Umso mehr, als es sich um Fredy Hirsch handelt. Ihren Fredy Hirsch. Leise verlässt sie die Baracke und bemerkt die kalte Nachtluft gar nicht, die sie wie ein Schlag trifft. Sie ist so durcheinander, dass sie nicht einmal daran denkt, sich nach Dr. Mengele umzusehen. Äußerlich fühlt sie sich wie betäubt und innerlich schmutzig. Sie empfindet maßlosen Zorn auf Fredy Hirsch; sie kommt sich betrogen vor. Vor lauter Zornestränen kann sie kaum sehen.
Und so stößt sie mit jemandem zusammen, der in die entgegengesetzte Richtung geht.
»Pass auf, Mädchen!«
»Sie sind es doch, der nicht aufgepasst hat, verdammt!«, gibt Dita grob zurück. Aber als sie aufblickt, sieht sie das Gesicht und den weißen Bart von Professor Morgenstern, und ihr wird klar, wie unhöflich sie war. Sie hat den armen alten Mann fast umgerannt. »Bitte entschuldigen Sie, Herr Professor. Ich hatte Sie gar nicht erkannt.«
»Ach Sie sind es, Fräulein Adlerova!« Und er reckt den Hals nach vorn, um Dita mit seinen kurzsichtigen Augen anzublinzeln. »Weinen Sie etwa?«
»Das ist nur die Kälte, die mich in den Augen beißt«, erwidert Dita scharf.
»Kann ich vielleicht etwas für Sie tun?«
»Nein, das kann niemand.«
Der Professor stemmt die Arme in die Hüften. »Sind Sie sicher?«
»Ich kann es Ihnen nicht erklären. Es ist ein Geheimnis.«
»Dann erzählen Sie mir nichts. Geheimnisse muss man für sich
behalten.«
Der Professor macht eine kleine Verbeugung und geht dann ohne ein weiteres Wort weiter zu seiner Baracke. Jetzt ist Dita noch verwirrter als zuvor. Vielleicht war es ja ihre Schuld. Vielleicht hat er recht, und sie sollte ihre Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Sie muss mit jemandem reden, Mirjam Edelstein fällt ihr ein. Sie ist der einzige Mensch, der Hirsch außerhalb der normalen Zeiten besucht.
Dita trifft Mirjam mit ihrem Sohn Arjeh in Baracke 28 an. Bis zur Sperrstunde dauert es nicht mehr lange. Es ist nicht die beste Zeit für einen Besuch, aber als die stellvertretende Blockälteste sieht, wie aufgelöst Dita ist, hat sie nicht das Herz, Nein zu sagen, als diese sie bittet, einen Moment nach draußen zu kommen und mit ihr zu reden.
Die Dunkelheit und die Kälte laden nicht zu langen Gesprächen ein, aber Dita erzählt alles von Anfang an: Mengeles Warnung, wie sie zufällig Hirschs erstes Treffen mit einem Mann belauscht hat, ihre Zweifel und ihre Versuche, sie durch Nachforschungen auszuräumen. Mirjam hört ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Als Dita ihr von Hirschs Heimlichkeiten mit anderen Männern erzählt, wirkt sie nicht sonderlich überrascht. Nachdem Dita fertig ist, schweigt sie eine ganze Weile.
»Und?«, fragt Dita ungeduldig.
»Du hast jetzt die Wahrheit, die du wolltest«, sagt Mirjam. »Da bist du doch sicher froh.«
Dita bemerkt einen vorwurfsvollen Unterton in ihren Worten. »Wie meinen Sie das?«
»Du wolltest die Wahrheit, aber eine Wahrheit, die passend für dich ist. Du wolltest, dass Fredy Hirsch ein tapferer, tüchtiger, unbestechlicher, charmanter, makelloser Mensch ist … und jetzt fühlst du dich betrogen, weil er homosexuell ist. Du hättest dich dafür entscheiden können, froh über die Bestätigung zu sein, dass er kein Informant der SS
ist, dass er wirklich einer von uns ist, und zwar einer der besten. Aber stattdessen bist du gekränkt, weil er nicht so ist, wie du ihn sehen möchtest.«
»Nein, da tun Sie mir unrecht. Natürlich bin ich erleichtert, dass er nicht zu denen gehört. Es ist nur … ich hätte nicht gedacht, dass er so
einer ist!«
»Dita, du redest, als wäre das ein Verbrechen. Der einzige
Unterschied ist, dass er sich statt zu Frauen zu Männern hingezogen fühlt. Das ist kein Verbrechen.«
»In der Schule hat man uns beigebracht, dass es eine Krankheit ist.«
»Die wahre Krankheit ist die Intoleranz.«
Für einen Augenblick schweigen beide.
»Sie haben es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr, Frau Edelstein?«
Die andere nickt. »Du kannst Mirjam zu mir sagen. Wir teilen jetzt ein Geheimnis miteinander. Aber es ist nicht unser Geheimnis, wir haben deshalb nicht das Recht, es zu enthüllen.«
»Sie kennen Fredy sehr gut, nicht wahr?«
»Einiges hat er mir erzählt, und andere Dinge habe ich dann selbst herausgefunden …«
»Wer ist Fredy Hirsch?«
Mirjam bedeutet Dita, mit ihr zur Rückseite der Baracke zu gehen. Ditas Füße sind eiskalt.
»Fredy Hirschs Vater starb, als er noch sehr klein war. Er fühlte sich ganz verloren. Und dann wurde er beim JPD
angemeldet, dem deutschen Verein, in dem sich damals jüdische Kinder und Jugendliche trafen. Dort wuchs er auf, dort fand er ein Zuhause. Und der Sport bedeutete alles für ihn. Im Verein entdeckte man schnell, wie begabt er als Trainer und Jugendleiter war.«
Während sie gehen, hakt sich Dita bei Mirjam Edelstein unter, um sich zu wärmen. Mirjams Erzählung vermischt sich mit dem Geräusch ihrer Holzschuhe auf dem nächtlichen, gefrorenen Boden.
»Sein Ansehen als JPD
-Trainer wuchs immer mehr. Aber der Aufstieg der Nazis ruinierte alles. Fredy sagt, die Anhänger von Adolf Hitler seien eine Bande gemeiner Kneipenschläger gewesen, die sich nicht um die Gesetze der deutschen Republik scherten. Später machten sie dann selbst Gesetze, die für ihre Zwecke maßgeschneidert waren.«
Hirsch erzählte Mirjam, er habe nie vergessen können, wie er eines Nachmittags ins JPD
-Zentrum kam und jemand auf eine der Wände die Worte »Die Juden sind Verräter« geschmiert hatte. Er habe sich damals gefragt, was sie denn angeblich verraten hätten, aber ihm sei nichts eingefallen. An manchen Nachmittagen wurden die Fenster eingeworfen, wenn gerade ein Töpferkurs stattfand oder der Chor probte. Mit jedem Steinwurf gegen die Scheiben zerbrach etwas in
Fredy.
Eines Tages bat ihn seine Mutter, gleich nach der Schule nach Hause zu kommen, sie hätten wichtige Dinge zu besprechen. Eigentlich hatte Fredy schon etwas vor, aber er kam der Aufforderung nach, denn zu den Dingen, die man ihm beim JPD
beigebracht hatte, gehörte auch der Respekt vor Rang und Hierarchie; irgendwie ähnelte der JPD
mit seinen Uniformen, seinen Abzeichen und seiner Befehlskette einer Armee ohne Waffen.
Als er ankam, war die ganze Familie versammelt; die Stimmung war ungewöhnlich ernst für diesen Haushalt. Seine Mutter sagte ihm, sein Stiefvater habe seine Arbeit verloren, weil er Jude sei, und die Lage werde zunehmend bedrohlich. Deswegen hätten sie beschlossen, nach Südamerika auszuwandern, genauer gesagt, nach Bolivien, um dort neu anzufangen.
»Nach Bolivien auswandern? Du meinst, ihr wollt fliehen!«, sagte Fredy feindselig.
Sein Stiefvater, der es noch nie geschafft hatte, Fredys Widerstand zu brechen, biss die Zähne zusammen und wollte auf Fredy losgehen, aber es war Fredys älterer Bruder Paul, der ihm sagte, er solle den Mund halten.
Wie betäubt verließ Fredy das Haus. Seine Verwirrung und die Gewohnheit führten ihn zu dem einzigen Ort, wo alles noch in Ordnung war – dem JPD
-Zentrum. Als er dort ankam, sah er, wie einer der Leiter die Feldflaschen für den nächsten Ausflug überprüfte. Normalerweise redete Fredy nicht über persönliche Angelegenheiten, aber die Feigheit, wegzulaufen, ging ihm gegen den Strich. Der Leiter der Freiluftaktivitäten, dessen blondes Haar allmählich weiß wurde, hatte Fredy im JPD
aufwachsen sehen. Er sah ihn eindringlich an und sagte, wenn er bleiben wolle, werde sich im JPD
ein Platz für ihn finden.
Fredy war zwar erst siebzehn, aber schon damals sehr selbstbewusst. Als seine Familie das Land verließ, blieb er allein zurück. Allerdings nicht ganz allein: Er hatte ja den JPD
. 1935 wurde er als Jugendtrainer in die Zweigstelle Düsseldorf geschickt. Zuerst, so erzählte er Mirjam, habe er sich über die neue Stelle in der so lebendigen Stadt sehr gefreut, aber die Feindseligkeit, die gegenüber den Juden herrschte, habe seine Freude rasch schwinden lassen. Im JPD
-Zentrum wurden die Fenster nicht mehr repariert, weil die Scheiben tagtäglich eingeworfen wurden. Auf der Straße wurden die Juden beschimpft, und die Zahl der Kinder, die teilnahmen, nahm mit jedem Tag ab. An manchen Vormittagen bestand Fredys Basketballmannschaft nur noch aus einem einzigen Spieler.
Eines Nachmittags entdeckte Fredy von einem Fenster im oberen Stockwerk, wie jemand ein gelbes X auf die große, hölzerne Haustür malte. Er rannte die Treppe hinunter. Der Junge, der den Pinsel hielt, sah ihn spöttisch an und malte einfach weiter, ohne sich um ihn zu scheren. Fredy packte den Burschen so heftig am Hemd, dass Farbe aus seinem Eimer schwappte.
»Wieso tust du das?«, fragte Fredy. Er sah die Hakenkreuzbinde am Arm des Jungen, und eine Mischung aus Verwirrung und Zorn über das, was in seinem Land passierte, stieg in ihm auf.
»Ihr Juden seid eine Gefahr für die Zivilisation«, sagte der Junge verächtlich.
»Zivilisation? Willst du mir mit deinen Freunden vielleicht Nachhilfe in Zivilisation geben, während ihr alte Leute zusammenschlagt und Fenster einwerft? Was wisst ihr denn schon von Zivilisation! Während ihr Arier in Nordeuropa noch in Holzhütten gehaust habt, Tierhäute getragen und Fleisch an Holzspießen gebraten habt, haben wir Juden ganze Städte erbaut.«
Ein paar Leute sahen, dass Fredy den jungen Nazi gepackt hielt, und kamen näher. »Da ist ein Jude, der einen Jungen verprügelt!«, rief eine Frau.
Ein Gemüsehändler kam auf sie zugerannt, in der Hand den Metallstock, mit dem er abends seine Fensterläden schloss, hinter sich etwa ein Dutzend weitere Männer. Eine Hand packte Fredy am Arm und zog ihn weg.
»Schnell weg hier!«, rief der JPD
-Leiter.
Sie schafften es gerade noch, ins Gebäude zu kommen und die Eingangstür hinter sich zuzuschlagen, bevor eine Horde erzürnter Bürger auf sie losging. Fredy erschien das Ganze wie ein Schauspiel kollektiven Wahnsinns.
Am nächsten Tag wurde die JPD
-Zweigstelle geschlossen, und man schickte Fredy nach Böhmen. Dort arbeitete er weiter für Makkabi Hatzair und organisierte das Training für die Jugendlichen in Ostrava,
in Brünn und schließlich in Prag. Die tschechische Hauptstadt gefiel ihm nicht besonders, und die Tschechen, die lässiger und weniger förmlich wirkten als die Deutschen, verwirrten ihn. Aber in Hagibor, am Stadtrand von Prag, fand er eine perfekte Umgebung für sportliche Aktivitäten. Dort leitete er eine Gruppe von zehn- bis zwölfjährigen Jungen. Der Plan war, sie aus Böhmen herauszuschmuggeln und sie über neutrale Länder nach Palästina zu bringen. Sie mussten in ausgezeichneter körperlicher Verfassung sein und sich außerdem in der Geschichte der Juden und dem von ihnen erlittenen Ungemach auskennen, um Stolz zu empfinden und auf die Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren zu brennen.
Hirsch übernahm diese Aufgabe mit der ihm eigenen Hingabe und widmete sich mit Enthusiasmus den erhaltenen Anweisungen. Er erwies sich als derart tüchtig und charismatisch, dass die Leiter der Jugendabteilung des Prager Judenrats beschlossen, diesem verantwortungsvollen und zähen jungen Mann die Verantwortung für die jugendlichen Neuankömmlinge zu übertragen, die oft ein wenig verloren wirkten.
Fredy sollte nie vergessen, wie schwer es war, diese Kinder aufzuheitern. Anders als jene Kinder, die von ihren Eltern einen starken Sinn für das Judentum und den Zionismus eingeimpft bekommen hatten und die geistig gestählt und voller Enthusiasmus waren, wenn sie ankamen, bestand diese neue Gruppe aus schüchternen, traurigen und apathischen Kindern. Sie hatten keinerlei Interesse an Sport und Spiel, und Fredys lustige Geschichten konnten ihnen nicht einmal ein Lächeln entlocken.
Eines Nachmittags kam der stellvertretende Leiter für die Jugendabteilung im Prager Judenrat zu Hirsch, um mit ihm zu sprechen. Grimmig erklärte er Fredy, die Nazis würden immer härter durchgreifen, die Grenzen seien dicht, und es werde immer schwieriger, Menschen aus Prag zu evakuieren. Die erste Gruppe müsse deshalb sofort abreisen – innerhalb von vierundzwanzig bis maximal achtundvierzig Stunden. Fredy sollte als ihr Cheftrainer mitreisen.
Es war das beste Angebot, das Fredy jemals bekommen hatte. Er würde die Gruppe begleiten, das Grauen des Krieges hinter sich lassen und nach Palästina gehen, wie er es sich immer erträumt hatte. Auf
der anderen Seite bedeutete das, die Gruppen zurückzulassen, mit deren Training er in Hagibor gerade begonnen hatte. Er wusste, welche Bedeutung das Training für die Jungen hatte, die im Würgegriff der Verbote, der Entbehrung und der Demütigung des Reiches gefangen waren. Fortzugehen bedeutete, sie im Stich zu lassen. Er erinnerte sich, was der JPD
in Aachen für ihn gewesen war, als sein Vater starb und er sich so verloren fühlte. Dort hatte er seinen Platz gefunden.
»Jeder andere wäre gegangen«, fährt Mirjam fort, »aber Hirsch war nicht einfach irgendjemand. Er blieb in Hagibor.«
Der Leiter der Jugendabteilung nickte sehr langsam mit dem Kopf, und die beiden saßen eine Weile schweigend da, als würden sie die Folgen jener Entscheidung abwägen. Es war unmöglich, sie ließen sich nicht abwägen. Man kann die Zukunft nicht ermessen.
»Nach allem, was passiert ist … ich fühle mich richtig schuldig, weil ich an ihm gezweifelt habe.«
Mirjam seufzt, und ihr Atem verwandelt sich in weißen Dampf. In diesem Augenblick ertönt die Sirene – das Zeichen, dass alle in ihre Baracken zurückmüssen. »Edita …«
»Ja?«
»Du musst morgen zu Hirsch gehen und ihm das mit Dr. Mengele erzählen. Er wird wissen, was zu tun ist. Was den Rest angeht …«
»Das ist unser Geheimnis.«
Mirjam nickt, und Dita geht, sie fliegt beinahe über die gefrorene Erde. Tief in ihrem Inneren, wo unsere geheimsten Gefühle wohnen, an die wir nicht einmal selbst gerne rühren, verspürt sie einen scharfen Schmerz. Aber Hirsch ist einer von ihnen. Und auch wenn es wehtut, seinen Prinzen zu verlieren, ist Dita doch zutiefst erleichtert.