Kapitel 14
Nachdem die Kinder gegangen sind, rafft Dita ihre Bibliothek zusammen. Womöglich tut sie das zum letzten Mal, denn sie muss Fredy die Wahrheit sagen: Mengele beobachtet sie. Bevor sie die Bücher zurückbringt, nimmt sie daher das Klebeband aus ihrer Geheimtasche und repariert einen Riss in der russischen Grammatik. Sie holt das Fläschchen mit dem Gummi arabicum heraus und klebt die abgerissenen Buchrücken an zwei weiteren Büchern. In dem Buch von H. G. Wells ist eine Seite abgeknickt, sie streicht sie glatt. Und nebenbei streichelt, nein, liebkost sie den Atlas und nach ihm die anderen Bücher, sogar den Roman, bei dem die Vorderseite des Einbands fehlt und gegen den Hirsch sich so vehement ausgesprochen hat. Weil sie schon dabei ist, fixiert Dita gleich noch eine lose Seite mit einem schmalen Stück Klebeband. Dann verstaut sie die Bücher sorgfältig in der Stofftasche, die die alte Dudine ihr gegeben hat, und bettet sie darin wie eine Krankenschwester, die ein Neugeborenes in seine Krippe legt. Danach geht sie zur Tür des Blockältesten und klopft.
Hirsch sitzt an seinem Schreibtisch, als sie hereinkommt, er verfasst gerade einen seiner Berichte oder plant vielleicht ein Volleyballturnier. Sie bittet um Erlaubnis, ihn sprechen zu dürfen, und er dreht sich zu ihr um, mit seinem ruhigen Gesicht und diesem Lächeln, aus dem niemand schlau wird.
»Ja, Dita?«
»Sie sollten davon erfahren. Dr. Mengele hat mich im Verdacht, möglicherweise wegen der Bibliothek. Es war nach der Inspektion, da hat er mich auf der Lagerstraße abgepasst. Irgendwie hat er gemerkt, dass ich etwas verberge. Er hat mir gedroht, mich im Auge zu behalten, und ich habe das Gefühl, dass er mich beobachtet.«
Hirsch erhebt sich von seinem Stuhl und geht kurz in seiner Kammer auf und ab, sein Gesichtsausdruck ist konzentriert. Schließlich bleibt er stehen, sieht Dita direkt in die Augen und sagt: »Mengele
beobachtet jeden.«
»Er hat gesagt, er würde mich auf seinen Seziertisch legen und mich der Länge nach aufschneiden.«
»Er liebt Autopsien, er zieht Vergnügen daraus.« Ein unbehagliches Schweigen schließt sich an.
»Sie werden mich von der Stelle als Bibliothekarin abziehen, nicht wahr? Ich weiß ja, dass es nur zu meinem Besten ist …«
»Willst du denn aufhören?«
Fredys Augen glänzen. Mit einem Mal ist das kleine Licht angegangen, das, wie er immer sagt, alle Menschen in sich tragen. Und dasselbe gilt auch für Dita, denn Hirschs Begeisterung ist ansteckend.
»Auf keinen Fall!«
Fredy Hirsch nickt, als wollte er sagen: »Ich wusste es.«
»Dann wirst du deinen Posten behalten. Natürlich ist es ein Risiko, aber wir befinden uns im Krieg, auch wenn man das hier manchmal vergisst. Wir sind Soldaten, Edita. Glaub niemals den Schwarzmalern, die behaupten, es sei zu spät. Das ist eine Lüge. In einem Krieg kämpft jeder von uns an seiner eigenen Front. Das hier ist unsere, und wir müssen bis zum Ende durchhalten.«
»Und was ist mit Mengele?«
»Ein guter Soldat ist immer vorsichtig. Und bei Mengele muss man sich besonders vorsehen, man weiß nie genau, was in seinem Kopf vorgeht. Manchmal lächelt er einen an, und man meint, ehrliche Zuneigung darin zu erkennen, aber dann wird er plötzlich ernst, und sein Blick ist so kalt, dass es einen innerlich friert. Wenn Mengele irgendetwas gegen dich in der Hand hätte, wärst du bereits tot. Am besten ist es daher, wenn er von dir so wenig wie möglich sieht oder hört. Du musst jeden Kontakt mit ihm vermeiden. Wenn du merkst, dass er auf dich zukommt, dann geh in eine andere Richtung. Wenn eure Wege sich kreuzen, dann schau unauffällig weg. Am besten wäre es, wenn er vergisst, dass du existierst.«
»Ich werde mir Mühe geben.«
»Gut. Gibt es noch etwas?«
»Fredy … Danke!«
»Ich bitte dich, weiter an vorderster Front zu stehen, dein Leben zu riskieren, und du bedankst dich bei mir?«
Was Dita eigentlich sagen will, ist: Es tut mir leid, bitte verzeihen Sie, dass ich an Ihnen gezweifelt habe.
Aber sie weiß nicht, wie sie das anstellen soll. »Na ja … ich wollte Ihnen einfach dafür danken, dass Sie da sind.«
Hirsch lächelt. »Das musst du nicht. Ich bin da, wo ich sein sollte.«
Dita verlässt die Baracke. Es hat geschneit, und unter der weißen Schneedecke sieht Birkenau gar nicht mehr so beängstigend aus, fast schon verschlafen. Es ist sehr kalt, aber manchmal ist Dita das lieber als die hitzigen Gespräche in den Baracken.
Gabriel, die Nummer eins, was Tadel und Bestrafungen durch die Lehrer angeht, kommt ihr entgegen. Der rothaarige, zehn Jahre alte Frechdachs trägt eine weite Hose, die ihm mehrere Nummern zu groß ist und die er oben mit einer Schnur zusammengebunden hat, und dazu ein ebenso weites Hemd voller Fettflecken. Er führt ein halbes Dutzend Jungen in seinem Alter an.
Er heckt irgendetwas aus,
denkt Dita.
Hinter den Freunden folgt in ein paar Metern Abstand eine weitere Gruppe von vier- bis fünfjährigen Kindern, die sich bei den Händen halten. Alte Kleider, schmutzige Gesichter und darin Augen, die so unschuldig sind wie der frisch gefallene Schnee.
Die kleinsten Kinder in Block 31 verehren Gabriel wegen seiner Unbekümmertheit und weil er ein Talent für den wildesten Unfug hat. Normalerweise versucht Gabriel, die kleinen Kinder, die ihm wegen seiner Streiche hinterherlaufen, abzuschütteln oder wegzuscheuchen, weshalb Dita überrascht ist, dass er nichts gegen sein Gefolge zu haben scheint. Sie beschließt, ihm in sicherem Abstand zu folgen, um herauszufinden, was es mit seinem Sinneswandel auf sich hat.
Die Gruppe läuft in Richtung Lagerausgang, und Dita wird klar, wohin die Reise geht: zur Küche. Dita beobachtet, wie Gabriels Freunde langsamer werden – die Küche gehört zu den Orten im Lager, die niemand ohne Erlaubnis betreten darf. Aber Gabriel geht hinein, während die anderen vor der Tür stehen bleiben. Bei dem, was als Nächstes passiert, fühlt sich Dita an eine Komödie erinnert: Gabriel kommt im Laufschritt aus der Tür, gefolgt von einer aufgebrachten Köchin namens Beata, die wild mit den Armen rudert, um die Kinder zu verscheuchen wie einen Vogelschwarm.
Dita wird klar, dass es um Kartoffelschalen gehen muss, eine der Leckereien, die bei den Kindern heiß begehrt sind. Nur ist die Köchin
die Bettelei anscheinend leid und hat deshalb beschlossen, die Kinder erbarmungslos zu vertreiben. Gabriel schlägt einen Haken, und beinahe rutscht die Köchin auf einer vereisten Stelle aus. Als sie das Gleichgewicht wiedergefunden hat, stehen die kleineren Kinder vor ihr, die gerade angekommen sind. Sie halten sich immer noch an den Händen und sind ganz außer Atem von der Anstrengung, mit den älteren Schritt zu halten. Beata kann ihren ewig hungrigen Gesichtern nicht ausweichen. Verblüfft über diese kleinen, verdreckten Engel voller Schnee bleibt sie stehen und stemmt die Arme in die Hüften.
Dita kann sie zwar nicht hören, aber das ist auch nicht nötig. Die Köchin ist eine starke Persönlichkeit mit rauen Händen und einem Herzen aus Gold. Dita lächelt über die Gewitztheit von Gabriel, der die Kleinsten mitgebracht hat, um das Herz der Köchin zu erweichen. Vermutlich erklärt Beata gerade streng, dass sie keinerlei Essensreste hergeben darf, dass sie und die Küchenjungen ihre Arbeit verlieren und man sie streng bestrafen wird, wenn die Kapo jemanden dabei erwischt, und so weiter und so fort … Aber die Kinder sehen sie weiter mit ihren großen Augen an, also macht sie eine Ausnahme, sie sollen aber ja nicht auf die Idee kommen, es noch einmal zu probieren, sonst werden sie etwas erleben, und ein paar Kinder nicken gehorsam – sie haben erreicht, was sie wollen.
Die Frau verschwindet in der Baracke und kommt kurz darauf mit einem Metallbehälter voller Kartoffelschalen wieder. Dem beginnenden Tumult gebietet sie Einhalt, indem sie ihre große Hand hebt wie das Signal in den Bahnhöfen, bevor die Züge einlaufen. Dann darf einer nach dem anderen vortreten, zuerst das jüngste Kind und das älteste zuletzt. Anschließend kehren alle in Block 31 zurück, auf ihren Kartoffelschalen kauend.
Gut gelaunt geht Dita die Lagerstraße zurück, aber auf halbem Weg begegnet sie ihrer Mutter, die ungewöhnlich zerzaust aussieht; sie, die es sogar in Auschwitz geschafft hat, ein Stück eines alten Kamms zu ergattern, und die immer ordentlich frisiert ist. Irgendetwas stimmt da nicht. Dita läuft ihrer Mutter entgegen, die sie ungewöhnlich heftig umarmt. Der Vater sei nicht da gewesen, als sie ihn von der Werkstatt abholen wollte, erzählt sie. Herr Brady, ein Kollege von ihm, habe gesagt, er sei schon am Morgen nicht mehr zur Arbeit gegangen, weil er nicht von seiner Pritsche hochkam.
»Herr Brady sagt, dein Vater hat Fieber, aber der Kapo wollte ihn lieber nicht in den Krankenbau bringen.« Ditas Mutter ist durcheinander und weiß nicht, was sie tun soll. »Vielleicht sollte ich beim Kapo darauf bestehen, dass er ihn in den Krankenbau schickt.«
»Papa hat erzählt, dass der Kapo in seiner Baracke ein deutscher Sozialdemokrat ist, kein Jude. Er ist reserviert, aber ziemlich gerecht, sagt er. Vielleicht ist der Krankenbau ja doch keine so gute Idee. Er liegt nämlich direkt vor Block 31 …« Dita verstummt. Beinahe hätte sie gesagt, dass die Kranken, die sie dort hineinhumpeln sieht, den Bau normalerweise auf dem Leichenwagen verlassen, den Herr Lada und andere schieben. Aber sie darf nicht vom Tod sprechen, sie muss den Tod von ihrem Vater fernhalten.
»Wir können nicht einmal zu ihm«, klagt Ditas Mutter. »Wir dürfen ja nicht in die Männerbaracken. Ich habe Herrn Brady gebeten, nach ihm zu sehen.« Sie muss innehalten, um sich wieder zu fassen. Dita nimmt ihre Hand. »Herr Brady sagte, sein Zustand ist seit heute Morgen unverändert. Wegen des Fiebers ist er anscheinend nur halb bei Bewusstsein. Und er soll schlecht aussehen. Dita, vielleicht sollte dein Vater doch in den Krankenbau gehen.«
»Wir gehen zu ihm.«
»Was redest du da? Wir dürfen doch nicht in die Baracke! Das ist verboten.«
»Es ist auch verboten, Leute einzusperren und sie umzubringen, aber das scheint hier niemanden zu interessieren. Warte am Barackeneingang auf mich.«
Dita läuft davon und sucht Milan, einen der Gehilfen in Block 31. Sie findet ihn nicht sonderlich sympathisch, obwohl er gut aussieht. Aber vielleicht ist sie die Unsympathische, schließlich pflegt sie kaum Umgang mit den anderen Hilfskräften. In ihrer freien Zeit liest sie lieber oder trifft sich mit Margit oder ihren Eltern. Mit der Koketterie der Mädchen in ihrem Alter und dem großspurigen Getue der Jungen kann sie nichts anfangen.
Sie findet Milan bei Block 23. Es ist einer der unerbittlich kalten Nachmittage, wie man sie in Polen manchmal erlebt; dennoch sitzen er und zwei seiner Freunde draußen vor der Baracke. Sie schlagen die Zeit tot, indem sie die vorbeigehenden Häftlinge beobachten und über die jungen Mädchen lästern. Dita ist nicht begeistert über die
Aussicht, diesen älteren Jungen gegenüberzutreten, die nur einen Flaum unter der Nase und lauter Pickel im Gesicht haben, aber sich wie Gockel aufführen. Beklommen nähert sie sich den Jungen, wahrscheinlich machen sie sich über ihre dünnen Beine und die kindischen Wollstrümpfe lustig. Aber sie kann sich den Luxus der Schüchternheit nicht leisten, also bleibt sie vor ihnen stehen.
»Sieh mal einer an!«, grölt Milan als Erster, um klarzustellen, wer hier das Sagen hat. »Wen haben wir denn da! Die Bibliothekarin …«
»Darüber darfst du außerhalb von Block 31 nicht sprechen«, unterbricht ihn Dita. Sie bereut ihre Schroffheit augenblicklich, denn der Junge wird rot. Es ist ihm gar nicht recht, dass ihn ein jüngeres Mädchen in Gegenwart seiner Freunde zurechtweist. Dabei will Dita etwas von ihm. »Hör zu, Milan, ich hätte eine Bitte an dich …«
Die drei Freunde stoßen sich gegenseitig in die Rippen und lachen prahlerisch. Auch Milan wird mutiger und wirft sich in die Brust. »Nun, mich bitten die Mädchen hier um alles Mögliche«, sagt er selbstgefällig und blickt aus dem Augenwinkel verstohlen zu seinen Freunden hinüber, um zu sehen, wie sie das aufnehmen. Sie lachen und zeigen dabei ihre kaputten Zähne.
»Ich würde mir gern deine lange Jacke ausleihen.«
Milan macht ein verdutztes Gesicht und hört auf zu lachen. Seine lange Jacke? Sie will seine Jacke von ihm? Es war ein großes Glück, dass er in der Kleiderkammer an diese Jacke gekommen ist; es ist eine der besten Jacken in BII
b. Man hat ihm schon Brot und sogar Kartoffeln dafür angeboten, aber er wird sie um keinen Preis hergeben. Wie soll er ohne seine Jacke die Nachmittage aushalten, an denen die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken? Und außerdem sieht er darin gut aus. Wenn er die Jacke anhat, mögen die Mädchen ihn lieber.
»Spinnst du? Niemand fasst meine Jacke an! Und niemand bedeutet niemand, hast du mich verstanden?«
»Es wäre ja nicht für lange …«
»Hör auf mit dem Quatsch. Ich gebe die Jacke nicht mal für eine Minute her! Du hältst mich wohl für einen Schwachkopf? Wenn ich dir die Jacke gebe, verkaufst du sie, und ich sehe sie nie mehr wieder. Hau lieber ab, bevor ich richtig sauer werde!« Sein Gesicht ist finster, und als er aufsteht, sieht man, dass er mindestens zwanzig Zentimeter größer ist als Dita.
»Ich will sie ja nur für eine kleine Weile. Wenn du möchtest, kannst du die ganze Zeit dabeibleiben, um sicherzugehen, dass die Jacke nicht verschwindet. Ich gebe dir auch meine Abendration Brot.«
Dita hat das Zauberwort gesagt: Essen. Eine Extraration ist ein großes Versprechen für einen Jungen im Wachstum, der sich nicht mehr erinnern kann, wann er sich zum letzten Mal satt gegessen hat. Sein Magen knurrt die ganze Zeit, die Gedanken an Essen sind zur Obsession geworden, und das Einzige, das ihn noch mehr erregt als der Gedanke an die Beine eines Mädchens, ist der Gedanke an ein Hühnerbein.
»Eine ganze Ration«, wiederholt er, während er über den Vorschlag nachdenkt, wobei er sich das Festmahl bereits ausmalt. Er könnte sich sogar ein Stück als Beilage für das Spülwasser am nächsten Morgen aufheben und ein richtiges Frühstück haben. »Du meinst, du ziehst die Jacke für eine Weile an, ich komme mit, und dann bekomme ich sie zurück?«
»Genau. Ich werde dich nicht betrügen. Wir arbeiten doch in der gleichen Baracke, wenn ich dich also hereinlegen würde und du mich melden würdest, würde ich meine Stelle in Block 31 verlieren. Und diesen Block wollen wir doch alle nicht verlassen.«
»Na gut, ich denke darüber nach.« Die drei Jungen stecken die Köpfe zusammen, es wird geflüstert und getuschelt und zwischendurch gelacht. Schließlich hebt ein lächelnder Milan triumphierend den Kopf. »Also gut. Du bekommst die Jacke, gegen eine Ration Brot … aber wir dürfen alle deine Titten anfassen!« Er sieht seine Freunde an, und sie nicken so begeistert, dass es aussieht, als hätten sie Sprungfedern im Hals.
»Sei doch nicht so dumm. Ich habe doch kaum …« Dita bricht ab, die drei lachen, als würden sie sich prächtig amüsieren. Aber vielleicht brauchen sie ihr Gelächter auch, um ihre Nervosität und ihr Unbehagen bei diesem Thema zu überspielen. Dita schnaubt. Wenn sie nicht alle so viel größer wären, würde sie jedem eine runterhauen. Wegen ihrer Unverschämtheit … oder weil sie solche Schwachköpfe sind. Aber sie hat keine Wahl. Und außerdem ist es eigentlich egal. »Na schön, von mir aus. Jetzt lass mich die verdammte Jacke anprobieren.«
Milan zittert vor Kälte, als er nur noch in seinem Hemd mit den drei
Knöpfen dasteht. Dita zieht die Jacke an. Sie ist riesig an ihr, genau wie sie gehofft hatte. Das Kleidungsstück hat außerdem etwas, das es im Moment äußerst wertvoll für sie macht und das nur wenige im Lager überhaupt besitzen: eine Kapuze. Sie läuft los, und Milan folgt ihr.
»Wo gehen wir hin?«
»Zu Baracke 15.«
»Und deine Brüste?«
»Später.«
»Hast du etwa Baracke 15 gesagt? Aber das ist doch eine Männerbaracke …«
»Genau.« Dita zieht die Kapuze hoch, sodass von ihrem Kopf fast nichts zu sehen ist.
Milan bleibt stehen. »Moment mal. Du willst doch nicht etwa wirklich reingehen? Für Frauen ist der Zutritt verboten. Auf keinen Fall gehe ich mit dir in die Baracke. Wenn du erwischt wirst, bestrafen sie mich auch. Bei dir ist wohl eine Schraube locker!«
»Ich gehe. Entweder mit dir oder ohne dich.«
Der Junge macht große Augen und zittert vor Kälte noch mehr.
»Du kannst vor der Tür warten, wenn du willst.«
Milan muss sich beeilen, weil Dita rasch ausschreitet. Ein paar Meter vor sich sieht sie ihre Mutter, die sich vor der Baracke ihres Vaters herumdrückt, aber sie bleibt nicht stehen. Liesl Adlerova ist so verstört, dass sie ihre Tochter in der Männerjacke gar nicht erkennt. Ohne Umschweife betritt Dita die Baracke, und niemand nimmt Notiz von ihr. Milan ist neben der Tür stehen geblieben und flucht vor sich hin, unsicher, ob das Mädchen ihn hereingelegt hat und ob er seine Jacke je wiedersehen wird.
Dita geht zwischen den Reihen der Stockbetten hindurch. Einige Männer liegen auf dem waagrechten Teil des Kamins, der nicht in Betrieb ist, während andere auf ihren Betten sitzen und reden. Ein paar haben sich auf ihre Pritschen gelegt, obwohl das verboten ist, solange noch das Licht brennt. All das deutet auf einen gutmütigen Kapo hin. Der Gestank ist überwältigend, schlimmer als in ihrer Frauenbaracke, ein widerlicher Geruch nach saurem Schweiß. Dita hat die Kapuze nicht abgenommen, und niemand beachtet sie.
Sie findet ihren Vater ganz hinten. Er liegt auf dem Strohsack der untersten Pritsche seines Stockbetts. Sie nimmt die Kapuze ab und
bringt ihr Gesicht ganz nahe zu seinem. »Ich bin’s«, flüstert sie.
Die Augen ihres Vaters sind halb geschlossen, aber als er die Stimme seiner Tochter hört, öffnen sie sich leicht. Dita legt ihm die Hand auf die Stirn, sie ist glühend heiß. Sie ist sich nicht sicher, ob er sie erkannt hat, aber sie ergreift eine seiner Hände und flüstert weiter auf ihn ein. Normalerweise ist es schwierig, mit jemandem zu sprechen, von dem man nicht weiß, ob er einen hören kann, aber die Worte kommen ihr ganz leicht über die Lippen, und sie sagt ihm all die Dinge, für die man sich nie Zeit nimmt, weil man immer denkt, dass dafür noch später Gelegenheit sein wird.
»Weißt du noch, wie du mich früher in Geografie unterrichtet hast? Ich kann mich noch richtig gut daran erinnern … du weißt so viel! Ich war immer sehr stolz auf dich, Papa. Immer.«
Sie redet über die guten Zeiten während ihrer Kindheit in Prag und über die schönen Augenblicke im Getto und darüber, wie sehr sie und ihre Mutter ihn lieben. Immer wieder sagt sie es ihm, damit die Worte durch sein Fieber zu ihm dringen. Und sie hat den Eindruck, dass er sich ein wenig bewegt. Vielleicht hört er sie ja, irgendwo da drin.
Hans Adler hat den Bakterien, die seine Lungenentzündung verursacht haben, nur wenig entgegenzusetzen: ein unterernährter Mann, geschwächt von den Entbehrungen des Krieges, allein gegen eine Armee von Mikroben, die vor Energie strotzen. Dita muss an das Buch Mikrobenjäger
von Paul de Kruif denken, das sie vor der Abfahrt aus Prag gelesen hat: Unter dem Mikroskop sehen Mikroben wie ein winzig kleines Raubtierrudel aus. Es sind zu viele, um mit ihnen fertigzuwerden.
Sie lässt seine Hand los, schiebt sie unter das schmutzige Laken und küsst ihn auf die Stirn. Dann zieht sie die Kapuze wieder hoch und wendet sich zum Gehen. Da erblickt sie Milan, der in ein paar Schritten Entfernung stehen geblieben ist. Zuerst befürchtet sie, dass er wütend ist, aber der Junge sieht sie unerwartet freundlich an.
»Dein Vater?«, fragt er.
Dita nickt. Sie sucht unter ihrer Kleidung, holt ihre abendliche Brotration hervor und hält sie Milan hin, aber der Junge behält die Hände in den Taschen und schüttelt den Kopf.
Draußen vor der Baracke zieht Dita die Jacke aus. Ihre Mutter ist verblüfft, als sie sie erkennt.
»Würdest du deine Jacke kurz meiner Mutter leihen?« Und ohne die Antwort abzuwarten, sagt sie zu Liesl: »Zieh sie an und geh rein.«
»Aber Dita …«
»Niemand wird dich erkennen. Geh schon! Es ist ganz hinten rechts. Er ist nicht bei Bewusstsein, aber ich glaube, er hört uns.«
Die Frau zieht die Kapuze hoch und betritt so vermummt die Baracke. Milan ist verstummt, er weiß nicht, was er tun oder sagen soll.
»Danke, Milan.«
Der Junge nickt, er zögert, als würde er nach den richtigen Worten suchen.
»Was das hier angeht … du weißt schon«, sagt Dita mit einem Blick auf ihre beinahe flache Brust.
»O bitte, vergiss es!«, sagt Milan errötend und winkt theatralisch ab. »Ich muss jetzt los, gib mir die Jacke morgen wieder.« Dann dreht er sich auf dem Absatz um und läuft davon, wobei er sich fragt, wie er seinen Freunden erklären soll, dass er ohne Jacke und ohne Mädchen zurückkehrt. Sie werden ihn für einen Trottel halten. Er könnte ihnen vielleicht sagen, dass er das Brot auf dem Rückweg gegessen und ihre Brüste für sie alle berührt hat, weil die Jacke ja schließlich ihm gehört. Aber dann schüttelt er den Kopf und verwirft diese Idee. Sie würden die Lüge sofort erkennen. Er wird ihnen die Wahrheit sagen. Wahrscheinlich werden sie ihn auslachen und ihn einen Weichling nennen. Aber er weiß schon, wie er das wieder in Ordnung bringt. Der Erste, der etwas sagt, bekommt so fest eins auf die Nase, dass er seine Zähne mit einer Lupe suchen muss. Und danach vertragen sie sich wieder.
Während Dita auf Liesl wartet, taucht Margit auf. Dem bestürzten Gesichtsausdruck ihrer Freundin nach zu urteilen hat Margit schon von Ditas Vater gehört. In Auschwitz verbreiten sich Nachrichten schnell, und schlechte Nachrichten ganz besonders. Margit kommt auf sie zu und umarmt sie.
»Wie geht es deinem Vater?«
Dita weiß, dass sich hinter dieser Frage eine weitaus ernstere verbirgt: Wird er es überleben?
»Er ist sehr krank, er hat hohes Fieber, und wenn er atmet, rasselt
seine Brust.«
»Du darfst die Hoffnung nicht verlieren, Dita. Dein Vater hat schon vieles überstanden.«
»Zu vieles.«
»Er ist stark. Er wird kämpfen.«
»Er war einmal stark, Margit. Aber in diesen letzten Jahren ist er stark gealtert. Ich bin immer eine Optimistin gewesen. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll. Ich weiß nicht mehr, ob wir das durchstehen können.«
»Natürlich können wir das.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
Ihre Freundin schweigt für ein paar Sekunden und kaut auf ihrer Unterlippe, während sie nach der Antwort sucht. »Weil ich daran glauben will.«
Die beiden Mädchen schweigen, keine sagt mehr etwas. Sie sind langsam aus dem Alter heraus, in dem man glaubt, man müsste etwas nur genug wollen, damit es wahr wird. Die Sirene, die die Sperrstunde anzeigt, ertönt, und ihre Mutter kommt aus der Baracke geschlurft wie ein Geist.
»Wir müssen uns beeilen«, sagt Margit.
»Geh schon – lauf«, sagt Dita. »Wir gehen etwas langsamer.«
Ihre Freundin verabschiedet sich, und Mutter und Tochter gehen allein weiter. Ihre Mutter wirkt verloren.
»Wie geht es Papa?«
»Ein wenig besser«, erwidert Liesl. Aber ihre Stimme klingt so brüchig, dass die Lüge leicht zu durchschauen ist. Und außerdem kennt Dita sie viel zu gut. Liesl hat ihr Leben lang immer so getan, als wäre alles gut, als könnte nichts die Ordnung der Dinge zerstören.
»Hat er dich erkannt?«
»Ja, natürlich.«
»Dann hat er also etwas zu dir gesagt?«
»Nein … er war ein bisschen müde. Morgen wird es ihm besser gehen.«
Beide schweigen, bis sie bei der Baracke ankommen.
Morgen wird es ihm besser gehen.
Ihre Mutter hat es mit einer Überzeugung gesagt, die keinen Zweifel zulässt, und Mütter wissen solche Dinge. Dita nimmt die Hand ihrer Mutter, und sie gehen
schneller.
Als sie in die Baracke kommen, liegen schon fast alle Frauen auf ihren Pritschen, und sie kommen an der Kapo vorbei, einer Ungarin, die den orangefarbenen Winkel einer gewöhnlichen Kriminellen trägt, was ihr einen höheren Status verleiht. Eine Diebin, eine Betrügerin, eine Mörderin … alles ist besser als eine Jüdin. Die Kapo kontrolliert die Behälter, die die Frauen während der Nacht für ihre Notdurft benutzen, und beim Anblick von Dita und ihrer Mutter, die zu spät kommen, droht sie ihnen mit ihrem Stock.
»Es tut mir leid, Kapo, aber mein Vater …«
»Halt den Mund und leg dich hin, du dummes Ding.«
»Ja, Kapo.«
Dita zieht ihre Mutter weiter, und sie gehen zu ihren Pritschen. Liesl steigt langsam hinauf und dreht sich noch kurz zu Dita um. Ihre Lippen bewegen sich nicht, aber ihr Blick ist gequält.
»Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagt ihre Tochter aufmunternd. »Wenn es Papa morgen nicht besser geht, reden wir mit seinem Kapo, damit er mit ihm zum Arzt geht. Notfalls spreche ich mit dem Ältesten von Block 31. Fredy Hirsch hilft uns bestimmt.«
»Morgen wird es ihm besser gehen.«
Das Licht geht aus, doch Dita ist so verstört, dass sie nicht einmal die Augen zumachen kann. Sie beschwört Bilder ihres Vaters herauf und versucht, die besten herauszufiltern. Da ist eines, das sie ganz besonders mag: ihre Eltern, die am Klavier sitzen. Beide sind attraktiv und elegant – ihr Vater trägt ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, eine dunkle Krawatte und Hosenträger; ihre Mutter eine enge Bluse, die ihre schlanke Taille betont. Sie lachen, offenbar weil es ihnen nicht gelingt, ihre Hände zu koordinieren, um ein vierhändiges Stück zu spielen. Das Beste daran ist, wie glücklich sie sind, weil sie noch jung und gesund sind und die Zukunft noch nicht tot ist.
Das letzte Bild aus dieser Zeit der Normalität, die mit ihrer Abreise aus Prag zu Ende ging, stammt aus der Josephstadt. Es ist der Augenblick, in dem sie aus der Wohnung treten, die Koffer auf den Treppenabsatz stellen und sich anschicken, eine Tür hinter sich zu schließen, von der sie nicht wissen, ob sie sich jemals wieder öffnen wird. Ihr Vater geht noch einmal kurz in die Wohnung, während sie ihn vom Absatz aus beobachten. Er geht bis zur Anrichte im
Esszimmer und dreht zum letzten Mal die Weltkugel. Dann schläft Dita endlich ein.
Aber ihr Schlaf ist unruhig, etwas lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Im Morgengrauen wacht sie mit einem Ruck auf, überzeugt, dass jemand sie gerufen hat. Verstört öffnet sie die Augen, ihr Herz schlägt heftig. Neben sich sieht sie nur die Füße ihrer schlafenden Bettnachbarin, und die einzigen Geräusche, die die Stille durchdringen, sind das Schnarchen und das Gemurmel der Frauen, die im Schlaf reden. Es war nur ein Albtraum … aber Dita hat ein Gefühl der Vorahnung. Sie ist sich sicher, dass es ihr Vater war, der sie gerufen hat.
Früh am Morgen füllt sich das Lager mit Wachleuten und Kapos – der Morgenappell steht bevor. Zwei Stunden dauert er, es sind die längsten ihres Lebens. Während sie und ihre Mutter in der Reihe stehen, werfen sie sich Blicke zu. Reden dürfen sie nicht, aber eigentlich ist es im Moment fast besser, nichts zu sagen. Als die Reihen sich endlich auflösen, nutzen die beiden die endlose Frühstücksschlange, die sich vor Baracke 15 bildet. Als sie dort ankommen, verlässt Herr Brady die Schlange. Er sieht niedergeschlagen aus.
»Mein Ehemann? Hat sein Zustand sich verschlechtert?«, fragt Liesl.
»Es tut mir leid, aber man hat ihn bereits abtransportiert.«
Sie hätten es wissen müssen. Die Leichen werden morgens gleich als Erstes geholt, auf den wartenden Wagen verladen und zu den Verbrennungsöfen gebracht. Ditas Mutter scheint für einen Augenblick zu schwanken, sie ist kurz davor, zusammenzubrechen. Dabei ist es wohl nicht die Nachricht vom Tod ihres Mannes, die sie so sehr aus der Fassung bringt; wahrscheinlich wusste sie es schon in dem Moment, als sie ihn auf seiner Pritsche sah. Aber dass sie sich nicht einmal von ihm verabschieden konnte, trifft sie hart. Dann gewinnt Liesl die Fassung wieder, die sie nur für ein paar wenige Sekunden verloren hat, und legt ihrer Tochter tröstend die Hand auf die Schulter. »Wenigstens hat dein Vater nicht gelitten.«
Dita, die ohnehin das Gefühl hat, dass sie vor Wut zerspringen muss, wird noch zorniger, weil ihre Mutter mit ihr spricht wie mit einem kleinen Kind. »Er hat nicht gelitten?«, sagt sie und schüttelt brüsk die Hand ihrer Mutter ab. »Sie haben ihm alles weggenommen, sein Haus,
seine Würde, seine Gesundheit … und dann haben sie ihn auch noch allein sterben lassen, wie einen Hund, auf einem Strohsack voller Flöhe. Ist das nicht Leid genug?« Die letzten Worte schreit sie beinahe.
»Es war Gottes Wille, Edita. Wir müssen uns damit abfinden.«
Dita schüttelt heftig den Kopf. Nein und Nein. »Ich habe aber keine Lust, mich damit abzufinden!«, kreischt sie mitten auf der Lagerstraße. Obwohl gerade Frühstückszeit ist, achten nur wenige Leute auf sie. »Wenn Gott hier wäre, dann würde ich ihm schon sagen, was ich von ihm und seiner miesen Barmherzigkeit halte.«
Sie fühlt sich schrecklich, und es wird noch schlimmer, als ihr bewusst wird, wie grob sie zu ihrer Mutter ist – genau in dem Moment, in dem diese Trost und Hilfe am nötigsten hat. Aber Dita kann einfach nicht anders, die Fügsamkeit ihrer Mutter bringt sie zur Weißglut. Zu ihrer Erleichterung taucht Frau Turnovská auf, die sich in ihren riesigen Schal gehüllt hat. Sie muss bereits erfahren haben, was geschehen ist. Mitfühlend drückt sie Ditas Arm und umarmt Liesl herzlich, die sich unerwartet aufgewühlt an ihrer Freundin festklammert. Genau das hätte ich tun sollen, denkt Dita, meine Mutter in den Arm nehmen. Aber sie kann es nicht, sie ist zu wütend für Umarmungen, sie will nur zubeißen und zerstören, so, wie man sie zerstört hat.
Drei Frauen kommen, die sie kaum vom Sehen kennt, und beginnen laut zu weinen. Dita, deren Augen trocken sind, sieht sie verblüfft an. Sie nähern sich ihrer Mutter, aber Frau Turnovská hält sie auf. »Verschwindet, lasst sie in Ruhe!«
»Wir wollen ihr doch nur unser Beileid aussprechen.«
»Wenn ihr nicht in zehn Sekunden hier weg seid, mache ich euch Beine!«
Liesl ist zu benommen, um etwas mitzubekommen, und Dita hat nicht die Kraft, um sich bei den Frauen zu entschuldigen und sie zum Bleiben aufzufordern.
»Was tun Sie da, Frau Turnovská? Sind denn hier alle verrückt geworden?«
»Das sind Aaskrähen. Sie wissen, dass die Angehörigen bei einem Todesfall den Appetit verlieren, also vergießen sie ein paar Krokodilstränen und machen sich dann mit einer Essensration aus dem Staub.«
Dita ist sprachlos, im Augenblick hasst sie die ganze Welt. Sie bittet Frau Turnovská, sich um ihre Mutter zu kümmern, und geht. Es ist nicht, weil sie sich erst an den Gedanken gewöhnen muss, ihren Vater nie wiederzusehen – sie will sich nicht daran gewöhnen. Sie ist nicht bereit, es zu akzeptieren, sie will sich nicht damit abfinden, nicht jetzt, nicht irgendwann.
Mit geballten Fäusten geht sie davon, ihre Fingerknöchel sind weiß, glühend heiße Wut verzehrt sie innerlich.
Nie wieder wird er in seinem Zweireiher und mit seinem Filzhut von der Arbeit kommen oder das Ohr an das Radio halten, während er zur Decke blickt; nie wieder wird er sie auf seinen Schoß ziehen, um ihr die Länder der Welt zu zeigen, oder sie sanft wegen ihrer schiefen Handschrift tadeln.
Und Dita kann nicht einmal um ihn weinen, ihre Augen sind trocken. Das macht sie noch wütender. Weil sie nirgends hinkann, tragen ihre Füße sie zu Block 31. Die Kinder frühstücken gerade, und ohne stehen zu bleiben geht sie nach hinten in die Baracke, zu ihrem Schlupfwinkel hinter dem Holzstoß. Zu ihrer Verblüffung findet sie dort auf der Bank in der Ecke eine einsame Gestalt vor.
Morgenstern begrüßt sie wie immer mit altmodischer Höflichkeit, aber diesmal lächelt Dita nicht, und der alte Professor unterbricht seine theatralische Verbeugung.
»Mein Vater …« Ditas Blut beginnt in ihren Adern zu kochen. Und ein einzelnes Wort steigt wie Galle in ihrer Kehle auf: »Mörder!« Sie behält es im Mund, wiederholt es fünfmal, zehnmal, fünfzigmal: »Mörder, Mörder, Mörder, Mörder …!«
Sie tritt nach einem Schemel, dann hebt sie ihn auf und schwingt ihn wie eine Keule. Am liebsten würde sie etwas zertrümmern, aber sie weiß nicht, was. Am liebsten würde sie jemanden verprügeln, aber sie weiß nicht, wen. Ihr Blick ist wild, und sie kann kaum atmen vor lauter Wut.
Professor Morgenstern steht auf; für einen alten Mann, der so zerbrechlich wirkt, ist er erstaunlich flink. Er nimmt ihr den Schemel weg, sanft, aber bestimmt.
»Ich werde sie alle umbringen!«, brüllt Dita. »Ich werde mir eine Pistole besorgen und sie umbringen!«
»Nein, Edita, nein«, sagt er ganz sanft. »Unser Hass ist ihr Sieg.«
Dita zittert, und der Professor legt die Arme um sie. Sie vergräbt den Kopf an seiner Brust. Mehrere Lehrer und ein Trupp neugieriger Kinder spähen über den Holzstoß, alarmiert von dem Lärm, und der Professor legt den Finger an die Lippen, damit sie still sind, und signalisiert ihnen mit einer Kopfbewegung, dass sie gehen sollen. Erstaunt, den alten Professor so ernst zu sehen, gehorchen sie und lassen die beiden allein.
Dita gesteht dem Professor, wie sehr sie sich dafür hasst, dass sie weggelaufen ist, dass sie nicht weinen kann, dass sie ihren Vater im Stich gelassen hat, dass sie ihn nicht retten konnte. Sie hasst sich für alles. Aber der alte Professor beruhigt sie. Ihre Tränen werden kommen, wenn ihre Wut verschwindet, sagt er.
»Wie könnte ich denn nicht wütend sein? Mein Vater hat niemandem etwas getan, er hat sich niemandem gegenüber respektlos verhalten. Sie haben ihm alles genommen, und jetzt, in diesem elenden Loch, haben sie ihm auch noch das Leben genommen.«
»Hör mir jetzt gut zu, Edita: Wer stirbt, muss nicht mehr leiden.«
Wer stirbt, muss nicht mehr leiden … wieder und wieder flüstert er es ihr ins Ohr. Morgenstern weiß, dass es ein schwacher Trost ist, ein abgenutzter, altmodischer, nur eine Redewendung, aber in Auschwitz hilft diese Medizin den Menschen, die Trauer um die Verstorbenen zu ertragen. Dita hört auf, ihre Finger zu verknoten, sie nickt und setzt sich langsam auf den Schemel. Professor Morgenstern steckt eine Hand in seine Jackentasche und zieht einen etwas zerknitterten und verblichenen Papiervogel heraus. Er hält ihn Dita hin.
Das Mädchen blickt den mitgenommenen Papiervogel an, der genauso verletzlich ist, wie es ihr Vater noch kürzlich war. So zerbrechlich wie der verrückte alte Professor mit seiner kaputten Brille. Sie alle sind so zerbrechlich … und mit einem Mal fühlt sie sich unwichtig und unerwartet schwach. Ihr Zorn legt sich, und endlich beginnen die Tränen zu fließen und löschen die Wut aus, die alles zu verbrennen drohte.
Der Architekt nickt, während Dita sich an seiner Schulter ausweint.
Wer stirbt, muss nicht mehr leiden …
Niemand weiß, welches Leid auf die wartet, die zurückbleiben.
Dita hebt den Kopf und wischt die Tränen mit dem Ärmel weg. Sie dankt dem Professor, sagt ihm, dass es da etwas gibt, das sie noch
erledigen muss, bevor das Frühstück vorbei ist. Dann läuft sie zu ihrer Baracke. Ihre Mutter braucht sie. Oder vielleicht braucht auch Dita ihre Mutter. Was spielt das schon für eine Rolle?
Gar keine.
Ihre Mutter sitzt mit Frau Turnovská auf dem erloschenen Kamin. Als Dita sich den beiden Frauen nähert, sieht sie, dass ihre Mutter reglos dasitzt, tief in sich versunken, während Frau Turnovská, deren leerer Blechnapf auf dem Fußboden steht, den Morgentee aus Liesls Napf trinkt, wobei sie ein Stück Brot hineintunkt, das die frisch verwitwete Liesl am Vorabend liegen gelassen haben muss.
Die ehemalige Gemüsehändlerin erstarrt, als sie sieht, wie Dita auf die Schüssel ihrer Mutter blickt. »Deine Mutter wollte nichts«, sagt sie, ein wenig aus dem Konzept gebracht von Ditas plötzlichem Auftauchen, durch das sie Frau Turnovská auf frischer Tat ertappt hat. »Obwohl ich sie mehrmals gedrängt habe. Und jetzt müssen wir gleich in die Werkstatt … wir hätten es sonst wegwerfen müssen …«
Die beiden sehen sich stumm an. Ditas Mutter ist wie weggetreten, wahrscheinlich wandert sie durch die Gefilde ihrer Erinnerungen. Frau Turnovská hält Dita die Schüssel hin, damit sie die letzten Schlucke trinken kann, aber Dita schüttelt den Kopf. Da ist kein Vorwurf in ihrem Blick, nur eine Mischung aus Verständnis und Trauer.
»Trinken Sie den Tee nur. Sie müssen bei Kräften bleiben, damit Sie Mama helfen können.«
Das Gesicht ihrer Mutter ist so starr wie bei einer Wachsfigur. Dita kauert sich vor sie hin, und ihre Mutter reagiert, indem sie die Augen bewegt. Ihr Blick heftet sich auf ihre Tochter, die ausdrucklose Maske bröckelt. Dita umarmt sie heftig, sie hält sie ganz fest. Und endlich kann ihre Mutter weinen.