Kapitel 19
In BII
a kann Rudi keinen Augenblick länger warten. Er springt abrupt auf und starrt Alice an, ohne etwas zu sagen. Dann lässt er die Finger knacken und beschließt, zu Hirschs Baracke hinüberzugehen und ihn zu einer Entscheidung zu zwingen. Und er wird kein Nein akzeptieren. Die Revolte muss ohne weitere Verzögerung beginnen.
Als er die Baracke verlässt, ist er sehr nervös, aber je weiter er auf der belebten Hauptstraße des Lagers kommt, desto mehr wächst sein Mut und desto entschlossener werden seine Schritte. Er ist bereit, Hirschs Zweifel und Einwände auszuräumen. Er geht zielstrebig und atmet tief ein, um jedes potenzielle Hindernis zu überwinden, das ihm der Leiter des Familienlagers in den Weg legen wird: Er ist gewillt, sie alle zu bezwingen, damit die Trillerpfeife ertönt und der Aufstand losbricht.
Während er gewartet hat, ist er alle Einwände durchgegangen, die Hirsch vorbringen könnte, und hat sich für jeden einzelnen eine unanfechtbare Erwiderung zurechtgelegt. Mit dem ihm eigenen Selbstbewusstsein ist er überzeugt, dass er mit allem fertigwerden kann. Aber auf eines ist er nicht vorbereitet: dass es keine Einwände geben wird. Nie und nimmer hätte er vorhersehen können, was ihn in der Baracke erwartet, in der Hirsch eine Kammer für sich allein hat.
Der Schreiber betritt entschlossen die Baracke, klopft an Hirschs Tür, und als niemand antwortet, betritt er resolut die Kammer. Fredy liegt auf seinem Bett. Als Rudi sich nähert, um ihn zu wecken, sieht er erschrocken, dass Fredy nur mit Mühe atmet und sein Gesicht blau angelaufen ist. Hirsch liegt im Sterben.
Im Laufschritt verlässt Rudi die Baracke und ruft panisch um Hilfe. Er kehrt mit zwei Ärzten zurück, die bereits dabei waren, ihre wenigen Instrumente einzupacken, um vor Anbruch der Dunkelheit ins Familienlager zurückzukehren, wie es Mengele angeordnet hat. Sie untersuchen Hirsch nur kurz. Dann wiederholen sie die Untersuchung
noch zweimal und beraten sich flüsternd und mit ernsten Gesichtern.
»Es handelt sich um einen schweren Fall von Vergiftung, eine Überdosis Schlaftabletten. Wir können nichts mehr für ihn tun.« Dabei blicken sie zu einem leeren Tablettenbehälter, der auf dem Tisch steht.
Alfred Hirsch wird sterben. Rudi Rosenberg spürt, wie sein Herz kurz aussetzt, um ein Haar wird er ohnmächtig. Er muss sich an die Holzwand lehnen, um nicht umzukippen. Er sieht, wohl zum letzten Mal, zu dem großartigen Sportler hinüber, der gerade röchelnd seine letzten Atemzüge tut. Die metallene Trillerpfeife auf Hirschs Brust bewegt sich nicht mehr. Voller Entsetzen wird Rudi klar, dass dieser große Mann es am Ende nicht ertragen hat, seine Schützlinge in den sicheren Tod zu führen, dass er außerstande war, diese tragische Entscheidung zu treffen, und deshalb vor ihnen gegangen ist. Sie haben etwas von ihm verlangt, das zu viel für ihn war. Das für jeden zu viel wäre.
Voller Panik überlegt Rosenberg, dass vielleicht noch Zeit ist, einen anderen Anführer zu finden, dass Szmulewski eine andere Möglichkeit finden wird, die Revolte in Gang zu bringen. Eilig macht er sich auf den Weg, aber als er das Lager verlassen will, um mit dem Anführer des Widerstands zu sprechen, hat sich das Blatt gewendet: Ein Trupp SS
-Männer kommt ihm entgegen. Das Quarantänelager ist abgeriegelt. Niemand kann hinein oder hinaus, unter keinen Umständen.
Rudi geht zu dem Zaun zwischen dem Quarantänelager und Lager BII
b hinüber und gibt einem Kontaktmann aus dem Widerstand, der dort drüben auf und ab geht, ein Zeichen, zu ihm herüberzukommen. Er sagt dem Mann, dass er Szmulewski sofort eine wichtige Nachricht überbringen soll. »Fredy Hirsch hat Selbstmord begangen. Herr im Himmel, sagen Sie Szmulewski Bescheid!«
Der Mann sagt, das gehe nicht, sie hätten gerade die Anweisung bekommen, dass niemand das Familienlager verlassen darf. Rudi dreht sich um und kämpft sich durch die Lagerstraße des Quarantänelagers, die sich in einen nervösen Ameisenhaufen verwandelt hat. Überall wimmelt es von Häftlingen und bewaffneten SS
-Männern, die auf etwas warten. Alice, Helena und Vera kommen ihm entgegen. Rasch erzählt er ihnen, was passiert ist: Fredy Hirsch wird nie wieder etwas anführen, und Szmulewski ist nicht erreichbar. Der Abstand zwischen den drei Lagern ist vorübergehend zu einem
Abgrund geworden.
»Aber der Aufstand kann doch trotzdem stattfinden«, sagen die Mädchen. »Gib du den Befehl, dann bringen wir die Sache in Gang.«
Rudi versucht ihnen zu erklären, dass das nicht so einfach ist, dass es nicht funktionieren wird, dass er nicht die Befugnis hat, ohne Anweisung von Szmulewski eine Entscheidung von solcher Tragweite zu treffen. Sie begreifen nicht richtig, was er ihnen sagen will. Rudi ist ausgelaugt.
»Ich kann das nicht entscheiden, ich bin ein Niemand …« In diesem Moment fühlt sich der stolze Rudi Rosenberg wie der unbedeutendste Mensch auf Erden. Nicht nur hat er das Gefühl, dass alles um ihn herum auseinanderfällt, auch er selbst ist einem Zusammenbruch nahe.
Im Familienlager verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Sie ist so kurz wie ein Telegramm mit einer Todesnachricht. Die kürzesten Sätze sind die zerstörerischsten, weil sie keine Erwiderung zulassen. Die Nachricht rollt durch das Lager wie eine Dampfwalze und hinterlässt eine Spur der Verwüstung.
Fredy Hirsch ist tot.
Die Gerüchte wuchern, und hier und da hört man das Wort »Selbstmord«. Auch das Wort »Luminal« ist zu hören, ein Schlafmittel, dessen Einnahme in großen Mengen tödlich ist.
Ein Schauer überläuft diese vielen Hundert Menschen im Familienlager. Sechs Monate lang hat der Tod nicht ein einziges Mal in Block 31 eindringen können. Auf wundersame Weise war es Fredy Hirsch gelungen, alle Kinder am Leben zu halten. Und jetzt ist der Mann, der das Wunder vollbracht hat, selbst tot.
Alle fragen nach dem Grund, aber in Wahrheit lautet ihre Frage: Was soll jetzt ohne Fredy aus uns werden? Dann hört man Trillerpfeifen und gebellte Befehle in deutscher Sprache: Alle sollen sofort zum Abendappell zu ihren Baracken zurückkehren.
Liesl wartet bereits auf Dita, sie umarmt sie. Inzwischen wissen alle, dass Hirsch tot ist. Zwischen Mutter und Tochter braucht es keine Worte, für einen Augenblick halten sie einander im Arm, die Wangen aneinandergeschmiegt, die Augen fest geschlossen.
Ihre neue Blockälteste klettert auf den horizontalen Kamin, der parallel zum Boden verläuft, und fordert alle so erregt zum Schweigen
auf, dass das Gemurmel aufhört. Sie ist Jüdin, kaum älter als achtzehn, aber sie hat jetzt hier das Sagen. Sie wird die Suppe ausgeben und auch die Brotrationen. Sie wird keinen Hunger mehr leiden, und sie wird auch nicht mehr diese übel riechenden Holzpantinen tragen müssen, weil sie die unterschlagenen Brotrationen auf dem Schwarzmarkt gegen Stiefel tauschen kann. Deswegen wird sie sich keine Schwäche erlauben. Wenn die Kapos oder die SS
sie auffordern herumzubrüllen, dann wird sie herumbrüllen; und wenn sie mit einem Knüppel auf die Häftlinge einschlagen soll, dann wird sie das tun. Sie wird sogar brüllen und zuschlagen, bevor der Befehl kommt. Und zwar gleich doppelt, um niemanden zu enttäuschen. Vorerst schreit sie die Leute grob an, dass bis zum Weckruf am nächsten Morgen niemand die Baracke verlassen darf. Die Wachen werden jeden erschießen, der gegen diese Anweisung verstößt.
Dita hat sich so lange nach einer Pritsche für sich allein gesehnt, aber jetzt, da ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist, kann sie nicht schlafen. Es ist Nacht geworden in Birkenau, die Lager sind still, und die einzigen Geräusche draußen sind der Wind und das monotone Summen der elektrischen Stacheldrahtzäune. Irgendwann springt sie vom Bett und geht zu ihrer Mutter, die jetzt ebenfalls eine Pritsche für sich allein hat. Dita kuschelt sich an sie, wie sie es früher als kleines Mädchen getan hat, wenn sie Albträume hatte. Damals ist sie dann immer zu ihren Eltern ins Bett gekrochen, weil ihr dort nichts zustoßen konnte.
Rudi versucht noch einmal, in Lager BII
d zu gelangen, um Szmulewski zu informieren. Er behauptet, wichtige Dokumente überbringen zu müssen, aber man gewährt ihm keinen Zutritt. Er bleibt beharrlich und sagt, sie müssten Hirschs Leichnam überführen, aber ohne Erfolg. Er kehrt zum Zaun zurück, um mit seinem Kontaktmann in BII
b zu sprechen, aber der ist verschwunden, alle sind in ihren Baracken, es gibt niemanden, mit dem man sprechen könnte. Rudi kehrt in seine kleine Kammer zurück und verlässt sie kurz darauf wieder, in der Hoffnung, dass die Wache am Eingang gewechselt hat und er den Offizier diesmal überreden kann, ihn in Lager BII
d hineinzulassen. In diesem Augenblick betritt ein Trupp Kapos das Quarantänelager, die aus anderen Lagern hierher versetzt wurden. Sie haben Knüppel und
beginnen die Leute zu schlagen und sie anzuschreien, damit sie rasch zwei Gruppen bilden, auf der einen Seite die Männer und auf der anderen die Frauen. Es wird geschlagen, es wird gebrüllt, man hört Trillerpfeifen und Panik- und Schmerzensschreie.
Alice kommt auf Rudi zugelaufen, sie packt ihn am Arm. Ein Wachmann schreit sie an, dass Frauen und Männer sich zu trennen haben. »Männer hier und Frauen da!«
Neben ihm hagelt es Stockhiebe, und Blut spritzt auf den Boden. Alice verlässt Rudi, ohne ihn aus den Augen zu lassen, wobei sie die ganze Zeit traurig lächelt. Sie treiben sie zu einer Gruppe weiblicher Gefangener und bringen sie dann rasch zu einem Lastwagen, der am Eingang des Lagers parkt. Immer mehr Fahrzeuge treffen ein, bis eine Kolonne von Lkws mit laufenden Motoren dort steht.
Rudi ist vorübergehend wie betäubt und lässt sich von der Menschenmenge mitziehen, bis zu ein paar Männern, die sich zusammendrängen, um sich vor den Schlägen zu schützen. Plötzlich wird ihm bewusst, dass er dabei ist, von der Gruppe der Männer aufgesogen zu werden, die man zu den Todeslastern treibt. Er stemmt sich gegen den Strom, bevor der Mob ihn verschluckt. Die Kapos mit ihren Knüppeln und die SS
-Männer mit ihren Maschinengewehren sorgen dafür, dass keiner entkommt: Sie treten und schlagen nach jedem, der es versucht. Rudi steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen, täuscht eine Gelassenheit vor, die er nicht fühlt, und stößt andere Häftlinge beiseite, bis er zu einem Kapo gelangt, den er vom Sehen kennt und der ganz am Rand steht.
Bevor der Kapo seinen Knüppel niedersausen lassen kann, um Rudi zurückzutreiben, brüllt Rudi, dass er der Sekretär von Block 14 ist. »Ich soll sofort zum Blockältesten kommen!«
Der Kapo ist ein Deutscher, der das Abzeichen der gewöhnlichen Sträflinge trägt. Er mustert Rudi kurz in dem Gewühl, erkennt ihn, und seine Hand mit dem Knüppel verharrt in der Luft. Er gibt einem Soldaten mit einer Maschinenpistole ein Zeichen, und man lässt Rudi gehen. Ein Mann, der Rudis Jacke zu fassen bekommt und versucht, mit ihm zusammen zu entkommen, fängt sich einen Hieb mit der Maschinenpistole ein. Rudi hört seine flehentliche Bitte, aber er dreht sich nicht um. Mit scheinbar gleichgültiger Miene entfernt er sich, doch seine Beine tragen ihn kaum mehr.
Auf dem Weg zu seiner Baracke hört er die Schreie, die Befehle, das Weinen, das Zuschlagen der Lastwagentüren, die Motoren, die sich immer weiter entfernen. Er denkt an Alice. Er erinnert sich an den letzten Blick aus ihren Rehaugen und schüttelt heftig den Kopf, wie um die Erinnerung loszuwerden, die ihn zu Boden zieht. Rasch entfernt er sich, und endlich ist er in seinem Zimmer und schließt die Tür hinter sich ab. Es ist nicht schriftlich überliefert, ob Rudi Rosenberg geweint hat.
Dita liegt immer noch wach, so wie alle Frauen in ihrer Baracke. Es ist so still, dass man sogar das Quietschen hört, wenn die Lastwagen auf dem feuchten Untergrund immer wieder bremsen und halten müssen, ohne dass der Motor abgestellt wird. Und immer noch mehr Lastwagen.
Kurz darauf explodiert die Nacht. Im Nachbarlager wird gebrüllt und gepfiffen, Weinen und Flehen und die Rufe nach einem abwesenden Gott dringen zu ihnen herüber. Und dann hört man erneut, wie Lastwagentüren zugeknallt werden, gleich darauf das Quietschen von Metallbolzen. Statt der Schreckensschreie sind jetzt Schluchzen und jämmerliches Klagen zu hören, Hunderte von Stimmen, die sich zu einer Wolke des Schmerzes mischen.
Im Familienlager tut niemand ein Auge zu. Keiner spricht, keiner rührt sich. Als eine Frau in Ditas Baracke ängstlich fragt: »Was ist da los? Was machen sie mit ihnen?«, bringen die anderen Frauen sie gereizt zum Schweigen. Sie wollen weiter zuhören und herausfinden, was dort geschieht. Vielleicht ist der Grund aber auch, dass die SS-Offiziere sie nicht hören sollen, dass sie sie nicht bemerken und sie auf ihren fauligen Pritschen am Leben lassen – wenigstens noch eine kleine Weile.
Das Knallen der Lastwagentüren hört allmählich auf, und das Stimmengewirr wird leiser. Das Brummen der Motoren verrät, dass die ersten Lastwagen sich mit ihrer Fracht entfernen. Und dann meinen Dita, ihre Mutter und die anderen Barackenbewohner Musik zu hören. Eine Halluzination vielleicht, die ihnen ihr eigenes Elend einflüstert. Aber jetzt hören sie es immer deutlicher. Sind das etwa Stimmen?
Der Chor übertönt das Rumpeln der Lastwagen. Jemand spricht es
voller Verblüffung aus, und andere wiederholen es, als wäre es so schwer zu glauben, dass sie es den anderen oder auch sich selbst erzählen müssen: Die Gefangenen in den Lastwagen, die wissen, dass sie sterben werden, singen.
Die tschechische Nationalhymne erklingt, Kde domov můj
– »Wo ist mein Zuhause?«. Dann kommt ein weiterer Lastwagen und bringt die Melodie der jüdischen Hymne Hatikvah
mit, während aus einem dritten die Internationale
zu hören ist. Die Musik hat etwas unweigerlich Gebrochenes, wie bei einer Fuge, und wird immer leiser, je weiter die Lastwagen sich entfernen. Die Stimmen werden immer schwächer, bis sie nicht mehr zu hören sind. In dieser Nacht wird man Tausende von Stimmen zum Verstummen bringen.
In der Nacht zum 9. März 1944 wurden dreitausendsiebenhundertzweiundneunzig Gefangene aus dem Familienlager BII
b vergast und anschließend im Krematorium III
von Auschwitz-Birkenau verbrannt.