Kapitel 21
Mengele passiert den Eingang zum Familienlager, er bringt einen kalten Windstoß und die Klänge von Wagners Walkürenritt mit. Sein Röntgenblick scheint nach etwas Ausschau zu halten oder nach jemandem, aber Dita befindet sich in Block 31. Hier ist sie in Sicherheit … zumindest fürs Erste.
Es heißt, eine der von Lagerkommandant Rudolf Höß gefeierten Heldentaten sei Mengeles Vorgehen bei einem schlimmen Typhusausbruch in Birkenau gewesen, von dem bereits siebentausend Frauen betroffen waren. Die Krankheit geriet außer Kontrolle, weil die Baracken verlaust waren. Aber Mengele fand eine Lösung. Er schickte eine ganze Baracke von sechshundert Frauen in die Gaskammer und ließ anschließend ihre Baracke gründlich desinfizieren. Vor der Baracke wurden Badewannen mit Desinfektionskits aufgestellt, und die Frauen der benachbarten Baracke mussten sich desinfizieren lassen, bevor sie die gereinigte Baracke betreten durften. Anschließend desinfizierte man die Baracke, in der die Frauen zuvor gelebt hatten, und wiederholte diese Prozedur mit sämtlichen Frauen im Lager. So machte Mengele der Epidemie ein Ende.
Die Kommandantur beglückwünschte den Arzt. Man wollte ihm sogar eine Medaille für sein energisches Einschreiten verleihen, bei dem er so tatkräftig war, dass er sich am Ende sogar selbst mit Typhus ansteckte. Dieser Persönlichkeitszug beherrschte sein Handeln: Für ihn zählten die übergeordneten Ergebnisse oder der wissenschaftliche Fortschritt; die Menschenleben, die dabei geopfert wurden, hatten für ihn keine große Bedeutung.
Ein SS -Oberscharführer bringt ihm seine Zwillingspaare. Ein wenig schüchtern kommen die Kinder herein und begrüßen ihn im Chor mit »Guten Tag, Onkel Pepi«. Er lächelt sie an und wuschelt der kleinen Irene durch die Haare. Dann gehen sie alle in seine Räume in Lager F, das die Leute den »Zoo« nennen, wenn Mengele gerade nicht da ist. Hier gibt es mehrere Pathologen, die für Mengele arbeiten. Die Kinder werden gut ernährt, haben saubere Bettwäsche und sogar Spielsachen und Süßigkeiten. Aber wann immer sie diesen Ort zusammen mit dem Arzt betreten, halten ihre Eltern den Atem an, bis sie wieder zurück sind. Bisher sind die Kinder immer wohlbehalten zurückgekehrt, in der Tasche ein Brötchen als Belohnung, und mit Schilderungen, wie man sie von Kopf bis Fuß vermessen hat, mit Berichten über Blutproben und ab und zu einer Spritze, nach der der Doktor ihnen immer ein Stück Schokolade schenkt.
Andere Kinder hatten weniger Glück. Mengele interessiert, wie sich Krankheiten bei Zwillingen auswirken; im Zigeunerlager hat er bei mehreren Zwillingspaaren Typhusbakterien injiziert, um zu sehen, wie ihr Organismus reagiert. Anschließend hat er sie getötet, um sie obduzieren und die Veränderungen in ihrem Organismus studieren zu können.
Heute jedoch tätschelt Mengele seinen Zwillingen die Köpfe und lächelt sogar freundlich, als er ihnen Gute Nacht sagt. »Vergesst Onkel Pepi nicht«, sagt er, denn er hat nicht vor, sie zu vergessen.
Vergessen ist keine Option. In Auschwitz sind ein paar Tage in einer Art Friedhofsroutine vergangen, aber Dita kann nicht vergessen. Im Grunde will sie nicht vergessen. Fredy Hirsch hat seinem Leben ein Ende gesetzt, aber eine Frage geht Dita beständig im Kopf herum: Wieso?
Sie erfüllt weiter ihre Pflichten als Bibliothekarin, aber sie hat sich in sich selbst verkrochen. Zwar ist sie froh, dass es in Block 31 trotz allem weitergeht. Aber seit Hirsch nicht mehr da ist, wirkt alles kleiner – vielleicht weil es jetzt weniger Kinder sind – und sogar gewöhnlicher.
Ihr heutiger Gehilfe ist ein sehr netter Junge und sogar hübsch, mit goldenen Sommersprossen im Gesicht. Unter anderen Umständen würde sie sich vielleicht bemühen, freundlicher zu ihm zu sein, schließlich gibt es hier nicht allzu viele gut aussehende Jungen, aber als er ein Gespräch in Gang bringen will, antwortet sie nur einsilbig. Sie ist mit den Gedanken nicht bei der Sache.
Sie kann einfach nicht begreifen, wieso Hirsch sich das Leben genommen hat. Es passt nicht zu ihm. Nach allem, was er erduldet hat, und unter Berücksichtigung seiner Disziplin, erscheint es ihr abwegig, dass er vor der Verantwortung geflohen sein soll. Dita schüttelt den Kopf, und ihr Haar, das vor und zurück schwingt, bekräftigt ihr Nein. Es fehlt ein Teil des Puzzles. Fredy hat zu ihr gesagt, sie seien Soldaten und müssten bis zum Schluss kämpfen. Wie kann es da sein, dass er seinen Posten verlassen hat? Nein, das ist nicht Fredy Hirschs Art. Er war Soldat. Er hatte eine Mission. Gut, er war melancholischer als sonst, als sie ihn an jenem letzten Nachmittag gesehen hat, müder vielleicht. Wahrscheinlich war ihm klar, dass die Zeichen für die Verlegung schlecht standen. Aber sie begreift einfach nicht, wieso er sich umgebracht hat. Und Dita hält es nicht aus, wenn sie etwas nicht versteht. Sie ist dickköpfig, das sagt ihre Mutter auch immer. Und damit hat sie recht: Dita gehört zu den Menschen, die es nicht ertragen, wenn ein Puzzle unvollendet bleibt.
Als sie ihren Pflichten in Block 31 nachgekommen ist, geht sie deshalb schnurstracks zu ihrer Baracke. Sie hat Glück, ihre Mutter ist gerade mit Frau Turnovská allein.
»Bitte entschuldigen Sie die Unterbrechung, Frau Turnovská, aber ich würde Sie gern etwas fragen.«
»Edita, musst du immer so mit der Tür ins Haus fallen?«, fragt ihre Mutter vorwurfsvoll.
Frau Turnovská lächelt. Sie mag es, wenn junge Frauen sie um Rat fragen. »Lass sie doch. Mit jungen Leuten zu sprechen hält mich jung, liebe Liesl.« Sie kichert.
»Es geht um Fredy Hirsch. Sie wissen doch, wie er war, oder nicht?«
Frau Turnovská sieht ein wenig verschnupft aus. In ihren Augen grenzt Ditas Frage an eine Beleidigung.
»Ich wüsste gerne, was man sich über seinen Tod erzählt.«
»Es heißt, dass er sich mit diesen schrecklichen Pillen vergiftet hat. Angeblich sollen Tabletten ja alles heilen, aber ich glaube nicht daran. Ich nehme nie die Pillen, die mir der Arzt gegen meine Erkältungen verschreibt. Ich habe schon immer lieber mit Eukalyptusöl inhaliert.«
»Sie haben ja so recht! Ich mache das auch immer so. Haben Sie es schon einmal mit einem Aufguss aus Pfefferminz versucht?«, fragt Ditas Mutter.
»Nein, das habe ich nicht – meinen Sie pur oder mit Eukalyptus gemischt?«
Dita stöhnt ungeduldig. »Das mit den Tabletten wusste ich schon, aber ich will wissen, wieso er es getan hat! Was erzählen sich die Leute darüber, Frau Turnovská?«
»Ach, Liebes, die erzählen sich alles Mögliche! Der Tod dieses Mannes hat schon für viel Gesprächsstoff gesorgt.«
»Edita meinte, er sei ein guter Mensch gewesen«, wirft ihre Mutter ein.
»Natürlich. Allerdings genügt es nicht, ein guter Mensch zu sein. Mein armer Mann, möge er in Frieden ruhen, war ein sehr guter Mensch, aber er war gleichzeitig so schüchtern, dass aus seiner Obsthandlung nichts werden konnte. Die Bauern haben ihm immer die überreifen Früchte angedreht, die keiner haben wollte.«
»In Ordnung«, unterbricht Dita sie, die drauf und dran ist zu schreien, »aber was sagen die Leute über Hirsch?«
»Ich habe die verschiedensten Theorien gehört, mein Kind. Einige sagen, er habe Angst vor der Gaskammer gehabt; andere behaupten, er sei tablettenabhängig gewesen und habe eine Überdosis genommen. Einer ist der Meinung, er habe es aus Traurigkeit getan, als er sah, dass sie die Kinder umbringen würden. Eine Frau sagte mir, die Nazis hätten ihn mit dem bösen Blick verhext, schließlich würden sie schwarze Magie praktizieren.«
»Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen …«
»Etwas sehr Schönes habe ich auch gehört: Ein Mann meinte, es sei ein Akt der Auflehnung gewesen. Fredy habe sich das Leben genommen, um den Nazis diese Möglichkeit zu nehmen.«
»Und Sie glauben, das stimmt?«
»Ich kann dir versichern, dass jede Theorie in dem betreffenden Moment überzeugend klang.«
Dita nickt und sagt den beiden Frauen Gute Nacht. Die Wahrheit nimmt in einem Krieg als Erstes Schaden. Aber Dita ist fest entschlossen, sie zu finden, und wenn sie noch so tief unter dem Schlamm begraben liegt. Deshalb huscht Dita noch am selben Abend, als ihre Mutter bereits in ihr Bett geklettert ist, zur Pritsche von Radio Birkenau hinüber.
»Frau Turnovská …«
»Was gibt es denn, Edita?«
»Ich würde Sie gern etwas fragen … und ich bin mir auch sicher, dass Sie die Antwort kennen.«
»Schon möglich«, erwidert die Frau ein wenig eitel. »Du kannst mich alles fragen, ich habe keine Geheimnisse vor dir.«
»Können Sie mir jemanden beim Widerstand nennen, mit dem ich sprechen könnte?«
»Aber mein liebes Kind …« Jetzt bereut Frau Turnovská ihre Versicherung, es gebe keine Geheimnisse zwischen ihnen. »Das ist nichts für junge Mädchen. Es ist sehr gefährlich. Wenn ich dich mit dem Widerstand in Kontakt brächte, würde deine Mutter nie wieder ein Wort mit mir reden.«
»Ich will ja gar nicht beitreten, auch wenn das vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre, jetzt, wo Sie es sagen. Aber so jung, wie ich noch bin, wollen die mich bestimmt nicht. Ich will nur mit jemandem über Fredy Hirsch reden. Die wissen doch vermutlich besser als alle anderen, was ihm zugestoßen ist.«
»Du weißt ja, der Letzte, der ihn gesehen hat, war der Schreiber des Quarantänelagers, Rosenberg …«
»Ich weiß, aber den zu sprechen ist schwierig. Ich könnte doch vielleicht mit jemandem aus diesem Lager hier reden? Bitte!«
Frau Turnovská murrt ein wenig. »Na schön, aber du hast das nicht von mir. Es gibt da einen Mann aus Prag, er wird Anders genannt. Er arbeitet in Werkstatt Nummer 3, und du erkennst ihn mit Leichtigkeit, sein Kopf ist nämlich so glatt wie eine Billardkugel, und er hat eine riesige Nase, die aussieht wie eine Kartoffel. Aber ich weiß von nichts.«
»Vielen Dank. Ich stehe in Ihrer Schuld.«
»Du schuldest mir überhaupt nichts, mein Kind, mir nicht und auch sonst niemandem. Wir alle in diesem Lager haben unsere Schuld mehr als beglichen.«
Dita lässt den folgenden Tag in Block 31 verstreichen. Am nächsten Tag sind die Gruppen nicht mehr ganz so unruhig, aber weiter dominieren der Hunger und die Furcht, dass es für alle der letzte Tag sein könnte. Sobald sie mit der Arbeit fertig ist, wird Dita nach diesem Anders suchen.
Heute ist einer der Tage, an denen sie Mirjam Edelstein mit dem Schreibunterricht der Siebenjährigen helfen muss. Draußen regnet es, weshalb kein Sport und auch keine Spiele im Freien stattfinden. Die Kinder sind missmutig, weil sie weder »Himmel und Hölle« noch »Räuber und Gendarm« spielen können, und Dita hat schlechte Laune, weil es schon seit Tagen regnet und die Leute sich in ihren Baracken verkriechen. Deswegen hat sie auch den Glatzköpfigen nicht ausfindig machen können.
Mirjam Edelstein verbirgt ihre Angst vor den Kindern, aber seit Hirschs Tod ist sie sehr einsam. Außerdem hat sie immer noch keine Nachricht von ihrem Mann Jakub, nachdem sie bei Eichmanns Besuch im Familienlager von diesem erfahren hat, dass Jakub nach Deutschland geschickt worden sei und es ihm gut gehe. Aber Eichmann hat sie angelogen. Die Wirklichkeit ist ganz anders: Jakub befindet sich immer noch in dem entsetzlichen Gefängnis von Auschwitz I , das nur drei Kilometer von Birkenau entfernt liegt. In diesem Gefängnis gibt es Zellen, die aussehen wie Schränke aus Zement. Die Gefangenen können sich darin nicht hinsetzen und müssen im Stehen schlafen. Sie werden systematisch gefoltert: Elektroschocks, Schläge, Injektionen. Eine der beliebtesten Foltermethoden bei den Wachen sind die Scheinhinrichtungen. Dazu bringt man die Gefangenen in den Hof, verbindet ihnen die Augen, legt die Gewehre an, und wenn die Häftlinge zu zittern beginnen und die Kontrolle über den Schließmuskel verlieren, kommt das metallische Klicken der nicht geladenen Gewehre. Anschließend bringen die Wachen die Häftlinge in ihre Zellen zurück. Die echten Hinrichtungen sind so häufig, dass nicht einmal die Wand gereinigt wird, vor der sich die Häftlinge aufstellen müssen, und in der Höhe, die der durchschnittlichen Körpergröße der Opfer entspricht, zieht sich eine rötliche Linie aus Haaren und Hirnmasse über die Mauer.
Dita müht sich mit den Löffeln der Mädchen ab, deren Ende sie mit einem Stein anspitzt. Mit diesen Löffeln stellen die Kinder dann mit Mirjams Hilfe ihre provisorischen Bleistifte her, mit denen man jeweils drei bis vier Worte schreiben kann. Auch Papier ist ein rares Gut, und Lichtenstern beschafft sich die Bögen einzeln, indem er den Nazis die Ausrede auftischt, dass er Listen führen muss.
Die Bibliothekarin nimmt sich einen der behelfsmäßigen Stifte und ein Stück Papier. Sie hat schon lange nicht mehr gezeichnet, und ihre Finger fliegen über das Papier, aber die rußige Holzspitze lässt rasch nach. Mirjam Edelstein nähert sich von hinten und wirft einen Blick über Ditas Schulter. Sie sieht ein paar gerade Linien und einen Kreis – mehr hat Dita dem Stift nicht abringen können – und macht große Augen.
»Die astronomische Uhr in Prag«, sagt sie wehmütig.
»Sie haben sie erkannt!«
»Die würde ich auch auf dem Meeresgrund erkennen. Für mich ist sie das Sinnbild des Prags der Uhrmacher und Handwerker.«
»Ein Symbol des ganz normalen Lebens.«
»Des Lebens, ja.«
Dita spürt, wie die stellvertretende Blockälteste ihr etwas in ihren Wollstrumpf steckt, und dann korrigiert sie weiter die Arbeit der Mädchen, so, als wäre nichts geschehen. Als Dita ihr Bein berührt, spürt sie eine kleine Erhebung. Es ist ein echter Bleistift, das beste Geschenk, das sie seit Jahren bekommen hat. Vorfälle wie dieser sind der Grund, weshalb Mirjam Edelstein bei allen Tante Mirjam heißt.
Während des restlichen Vormittags arbeitet Dita mit Feuereifer an ihrer Zeichnung von der astronomischen Uhr in Prag, mit dem Sensenmann, dem Hahn, den Tierkreiszeichen und den zwölf Aposteln. Ein paar Kinder haben mitbekommen, dass sie zeichnet, und kommen zu ihr, um zuzusehen. Geduldig erklärt Dita, dass der Sensenmann stündlich die Glocke schlägt und die Figuren dann von der einen Tür zur nächsten ziehen. Als die Zeichnung fertig ist, faltet sie sie sorgfältig zusammen und geht hinüber zu Arjeh, Mirjams Sohn, der einen der anderen Jungen bei der Hand hält und Telegraf spielt. Sie steckt ihm das Blatt in die Tasche und sagt ihm, es sei ein Geschenk für seine Mutter.
Um sich zu beschäftigen, nimmt sie sich die Zeit, Freuds Essay zu kleben, bei dem sich nach dem Ausleihen der Buchrücken gelöst hat. Außerdem streichelt sie die Seiten und glättet eine nach der anderen, nach dem harten Tag, den sie hinter sich haben.
SS -Offizier Viktor Pestek ist ebenfalls glücklich, während er Renée Neumanns Locken bürstet und anschließend durcheinanderbringt.
Renée lässt ihn gewähren. Sie erlaubt weder Küsse noch andere Annäherungsversuche. Aber als Viktor gefragt hat, ob er ihr die Haare bürsten darf, konnte oder wollte sie es ihm nicht verweigern. Er ist ein Nazi, ein Unterdrücker, ein Verbrecher … aber er behandelt sie mit einem Respekt, den sie bei ihren eigenen Gefährten im Lager nur schwer findet. Renée muss wegen der häufigen Diebstähle mit ihrem Blechnapf unter dem Arm schlafen oder sich das Gefäß ans Bein binden. Manche Frauen verkaufen ihren Körper, und Verräter gibt es auch. Andere, die besonders rechtschaffen und religiös sind, beschimpfen Renée und bezeichnen sie als Schlampe, weil sie ihrer Mutter ein Stück Obst mitbringt, das ihr ein SS -Offizier geschenkt hat.
Damit verglichen ist die Zeit mit Viktor ein Labsal. Viktor – meistens redet er, während sie zuhört – hat ihr erzählt, dass er vor dem Krieg auf einem Bauernhof gearbeitet hat. Wenn dieser verdammte Krieg nicht ausgebrochen wäre, wäre er wahrscheinlich ein ganz normaler, ehrlicher, fleißiger junger Mann wie alle anderen. Wer weiß, womöglich hätte sie sich sogar in ihn verliebt.
An diesem Nachmittag jedoch ist Viktor nervöser als sonst. Wie immer bringt er ihr ein Geschenk mit. Er hat seine Lektion gelernt – diesmal ist es eine Wurst, die in Papier eingewickelt ist. Aber das Geschenk, das er ihr geben möchte, ist etwas anderes.
»Ein Plan, Renée.«
Sie sieht ihn fragend an.
»Ich will mit dir von hier weggehen, heiraten und ein neues Leben beginnen.«
Renée sagt kein Wort.
»Ich habe mir alles genau überlegt. Wir werden durch das Tor gehen, ohne Verdacht zu erregen.«
»Du bist wahnsinnig …«
»Nein, nein. Du wirst eine SS -Uniform tragen. Es wird Nacht sein. Dann sage ich das Losungswort, und anschließend spazieren wir seelenruhig aus dem Lager. Du darfst natürlich kein Wort sagen. Danach fahren wir mit dem Zug nach Prag. In dieser Stadt habe ich eine Kontaktperson. Ein paar Gefangene sind meine Freunde; sie wissen, dass ich nicht so bin wie die anderen SS -Männer. Wir besorgen uns gefälschte Ausweise und gehen von dort aus nach Rumänien. Dort warten wir dann, bis der Krieg vorbei ist.«
Renée sieht diesen dünnen, etwas kurz gewachsenen, etwas linkischen Wachmann mit dem schwarzen Haar und den blauen Augen aufmerksam an. »Das würdest du für mich tun?«
»Ich würde alles für dich tun, Renée. Kommst du mit?«
Kein Zweifel, Liebe und Wahnsinn haben einiges gemeinsam.
Renée seufzt. Aus Auschwitz zu entkommen ist der Traum jedes Einzelnen der mehreren Tausend Häftlinge, die zwischen den Zäunen und den Krematorien gefangen gehalten werden. Sie sieht auf, zupft an einer ihrer Locken und knabbert daran.
»Nein.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, es klappt bestimmt. Wir machen es an einem Tag, an dem einer von meinen Freunden Dienst hat. Es wird keinerlei Schwierigkeiten geben – es wird ganz leicht sein. Hier erwartet dich nur der Tod, wenn du bleibst.«
»Ich kann aber meine Mutter nicht hier allein lassen.«
»Aber Renée, wir sind jung – sie wird das verstehen. Wir haben unser Leben noch vor uns.«
»Ich lasse meine Mutter nicht allein. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Renée …«
»Ich habe dir doch schon gesagt, dass das mein letztes Wort ist. Es ist mir egal, was du sagst, ich werde meine Meinung nicht ändern.«
Pestek überlegt kurz. Ein Pessimist war er noch nie. »Dann kommt deine Mutter eben mit.«
Renée beginnt sich zu ärgern. Die ganze Sache klingt nach heißer Luft, nach einem Zeitvertreib, den sie kein bisschen amüsant findet. Pestek geht kein Risiko ein, sie und ihre Mutter dagegen sehr wohl. Sie sind nicht in der Position, Spiele zu spielen und über eine Flucht aus Auschwitz herumzualbern. »Für uns ist das alles kein Spiel. Mein Vater ist an Typhus gestorben, und mein Cousin und seine Frau sind mit dem Rest des Septembertransports ermordet worden. Das ist nicht lustig.«
»Glaubst du etwa, ich scherze? Du kennst mich immer noch nicht richtig. Wenn ich dir sage, dass ich dich und deine Mutter hier raushole, dann tue ich das auch.«
»Es ist unmöglich, und das weißt du! Sie ist zweiundfünfzig Jahre alt, sie ist winzig, und sie hat Rheuma. Willst du sie vielleicht auch als Wachmann verkleiden?«
»Wir werden den Plan abändern. Lass mich nur machen.«
Renée mustert ihn, wieder einmal weiß sie nicht, was sie von all dem halten soll. Gibt es wirklich eine Chance, und sei sie auch noch so klein, dass er sie beide lebendig hier herausholt? Und angenommen, sie schaffen es … Wie geht es danach weiter? Könnten sich zwei Jüdinnen, die aus Auschwitz geflohen sind, und ein Verräter vor den Nazis verstecken? Und danach … würde sie sich an einen Nazi binden wollen, selbst wenn er ein Deserteur ist? Würde sie den Rest ihres Lebens mit jemandem verbringen wollen, der bis heute kein Problem damit zu haben scheint, Hunderte unschuldiger Menschen in den Tod zu schicken? So viele Fragen.
Wieder einmal schweigt sie. Sie begnügt sich damit, nichts zu sagen, und Pestek fasst ihr Schweigen als Zustimmung auf, weil er es so verstehen will.
Es hat endlich aufgehört zu regnen, weshalb Dita ihre Mittagspause nutzt, um den Mann vom Widerstand ausfindig zu machen. Aber die Erde, die sich in dicken Schlamm verwandelt hat, scheint ihn verschluckt zu haben. Während die Häftlinge ihre Pause hatten, hat sie sich in der Nähe der Werkstatt herumgedrückt, aber sie hat ihn nirgendwo gesehen.
Jetzt sitzt sie auf ihrer Bank, glättet sorgsam die zerknitterten Seiten des französischen Romans, bei dem die Vorder- und Rückseite des Einbands fehlen, und trägt Klebstoff auf den Buchrücken auf. Der Klebstoff ist ein Geschenk von Margit, die ihn heimlich aus ihrer Werkstatt geschmuggelt hat, in der Militärstiefel hergestellt werden. Dita will das Buch gründlich verarzten, bevor sie es an den einzigen Menschen verleiht, der je danach gefragt hat: eine etwas säuerliche Lehrerin namens Markéta. Ihr glattes Haar ist für ihr Alter ein wenig zu grau, und ihre Arme sind dünn wie Besenstiele. Angeblich war sie vor dem Krieg bei einem Regierungsminister als Gouvernante angestellt. Sie unterrichtet eine Gruppe von Neunjährigen, und manchmal hört Dita, wie sie ihren Schülern ein paar Worte auf Französisch beibringt. Ihre Schüler sind immer sehr aufmerksam, denn Französisch ist die Sprache, die von vornehmen jungen Damen gesprochen wird. In Ditas Ohren klingen die musikalischen Worte, als seien sie von Spielleuten erfunden worden.
Auch wenn Dita Markéta etwas zurückhaltend findet und den Eindruck hat, dass sie an Gesprächen nicht interessiert ist, hat die Lehrerin den Roman schon so oft ausgeliehen, dass Dita sie irgendwann gefragt hat, ob sie das Buch kennt. Markéta hat sie verblüfft gemustert.
Dank Markéta konnte Dita das Buch endlich korrekt katalogisieren: Es handelt sich um Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas. Außerdem hat ihr die Lehrerin erzählt, dass das Buch in Frankreich sehr berühmt ist.
Heute wollte Markéta das Buch für eine Weile ausleihen; nachdem Dita es repariert hat, geht sie daher zu dem Schemel hinüber, auf dem die Lehrerin, tief in Gedanken versunken, sitzt. Markéta spricht nur selten mit jemandem, aber Dita überlegt schon länger, wie sie sich ihr nähern könnte, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen. Die Baracke ist leer, weil weiter hinten Avi Ofirs Chor probt und mit seinem Geträller alle anderen vertrieben hat. Ohne darauf zu warten, dass Markéta sie auffordert, sich zu setzen, lässt sich Dita auf den Nachbarschemel fallen.
»Ich würde gerne wissen, worum es in diesem Buch geht. Würden Sie es mir erzählen?«
Wenn die Lehrerin jetzt sagt, dass sie verschwinden soll, wird sie aufstehen und gehen. Aber Markéta sieht sie nur an und schickt sie gegen alle Wahrscheinlichkeit nicht weg, sie scheint sich sogar über Ditas Gesellschaft zu freuen. Noch überraschender ist, dass diese wortkarge Frau beginnt, ihr die Geschichte mit unerwarteter Herzlichkeit zu erzählen.
Sie berichtet, dass die Geschichte von einem jungen Mann namens Edmond Dantès handelt, dessen Namen Markéta französisch ausspricht, mit offenen, harten Vokalen, was der Figur eine unmittelbar literarische Qualität verleiht. Edmond sei ein ehrlicher, bodenständiger junger Mann, der als Kapitän der Pharao nach Marseille zurücksegle, voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit seinem Vater und seiner katalanischen Verlobten.
»Nachdem der Kapitän auf der Überfahrt gestorben ist, hat Edmond das Kommando über das Schiff übernehmen müssen. Das Leben meint es gut mit ihm: Der Eigentümer des Schiffs macht ihn zum Kapitän, und seine Verlobte, die schöne Mercedes, liebt ihn über alle Maßen. Sie wollen in Kürze heiraten. Aber ein Cousin von Mercedes, der sie ebenfalls umwirbt, ist voller Groll, weil man nicht ihn zum neuen Kapitän gemacht hat. Er denunziert Dantès wegen Verrats. Es ist schlimm. So stürzt Dantès an seinem Hochzeitstag vom Gipfel der Glückseligkeit in einen Abgrund aus Verzweiflung. Noch während der Hochzeitszeremonie wird er verhaftet und als Gefangener auf die berüchtigte Sträflingsinsel Île d’If gebracht.«
»Wo ist das?«
»Es ist eine kleine Insel, die gegenüber vom Hafen von Marseille liegt. Dort verbringt er viele Jahre in einer Zelle. Aber der unglückliche Dantès lernt in einer Nachbarzelle einen Gefährten kennen, den Abbé Faria. Faria ist ein Abt, den alle für verrückt halten, weil er den Wachen ständig von einem wunderbaren Schatz erzählt, den er gewillt ist, mit ihnen zu teilen, wenn sie ihn freilassen.«
Dita hört gespannt zu. Sie identifiziert sich mit Edmond Dantès, einem Mann, der durch Heimtücke unschuldig ins Gefängnis kommt, genau wie es ihr und ihrer Familie passiert ist.
»Wie sieht Dantès aus?«
»Stark und gut aussehend, sehr gut aussehend. Aber vor allem hat er ein gutes Herz, ist gütig und großzügig.«
»Wie geht es mit ihm weiter? Kommt er wieder frei, so, wie er es verdient?«
»Er und Faria planen gemeinsam die Flucht. Mehrere Jahre lang graben sie einen Tunnel, und in dieser Zeit wird Abbé Faria für Dantès zum Vater und Mentor. Aber als der Tunnel fast fertig ist, stirbt Abbé Faria.«
Als hätte sie nicht schon genug an ihrem eigenen Unglück zu tragen, schiebt Dita die Unterlippe vor, voll Trauer über das Unglück des armen Dantès. Markéta lächelt.
»Dantès ist tapfer und einfallsreich. Nachdem die Wärter den Tod des Abbé festgestellt haben, näht er sich selbst in den Leichensack des Toten ein. Als die Männer kommen, die den Leichnam abholen sollen, nehmen sie Dantès mit. Sein Plan sieht vor, dass er sich aus dem Sack befreit und flieht, sobald er in der Leichenhalle allein ist. Aber er weiß nicht, dass es in dem düsteren Gefängnis von If keine Leichenhalle gibt und auch keine Begräbnisse, denn die Leichen der Gefangenen landen dort im Meer. Dantès, der noch in dem Sack steckt, wird aus großer Höhe in den Ozean geworfen.«
»Und, stirbt er?«, fragt Dita ängstlich.
»Nein, Dantès kann sich aus dem Sack befreien, und trotz seiner Erschöpfung gelingt es ihm, das Ufer zu erreichen. Aber weißt du, was das Beste ist? Abbé Faria war gar nicht verrückt; er hatte tatsächlich einen Schatz gefunden. Edmond Dantès macht sich auf die Suche, und die Reichtümer, die er findet, ermöglichen es ihm, eine neue Identität anzunehmen: Er wird der Graf von Monte Christo.«
»Und dann lebt er glücklich bis zu seinem Ende?«, fragt Dita naiv.
»Nein! Wie könnte er so tun, als ob nichts geschehen wäre? Er tut das, was getan werden muss: Er rächt sich an denen, die ihn verraten haben.« Sie schildert kurz den raffinierten Plan, mit dem Dantès, jetzt als Graf von Monte Christo, an den Menschen, die sein Leben ruiniert haben, furchtbare Rache nimmt. Es ist ein komplizierter, machiavellistischer Plan, der nicht einmal Mercedes verschont, die nach Dantès’ vermeintlichem Tod schließlich ihren Cousin geheiratet hat, ohne jede Ahnung von den betrügerischen Machenschaften ihres künftigen Ehemanns. Dantès hat auch mit ihr kein Mitleid. In seiner Rolle als reicher, weltgewandter Graf gewinnt er das Vertrauen und die Freundschaft dieser Menschen, und dann zermalmt er sie.
Beide schweigen, als Markéta die Geschichte der unerbittlichen Rache des Grafen von Monte Christo beendet hat. Dita steht auf und will gehen, aber dann dreht sie sich noch einmal zu der Lehrerin um und sagt: »Markéta … Sie haben diese Geschichte so gut erzählt, dass es sich fast so angefühlt hat, als würde ich sie lesen. Möchten Sie nicht eines unserer ›lebendigen Bücher‹ sein? Dann hätten wir Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen, die Geschichten über die amerikanischen Indianer, die Geschichte der Juden und nun auch noch Der Graf von Monte Christo. «
Markéta wendet den Blick ab und blickt auf den Fußboden aus gestampfter Erde. Jetzt ist sie wieder so scheu und ausweichend wie immer. »Es tut mir leid, aber das ist unmöglich. Der Unterricht stellt kein Problem für mich dar, aber mich mitten in die Baracke zu stellen … auf keinen Fall.«
Dita sieht, dass Markéta allein schon bei dem Gedanken daran errötet. Aber sie können es sich nicht leisten, auf ein Buch zu verzichten, und Dita ruft sich rasch ins Gedächtnis, was Fredy in einer Situation wie dieser gesagt hätte. »Ich weiß, dass es ein großes Opfer für Sie wäre, aber … solange die Geschichte andauert, sind die Kinder nicht mehr in einem Stall voller Flöhe, sie riechen das verbrannte Fleisch nicht mehr, sie hören auf, Angst zu haben. In diesen Minuten sind sie glücklich. Wir dürfen den Kindern das nicht wegnehmen.«
Ein wenig widerstrebend stimmt die Frau ihr zu. »Das ist wahr …«
»Die Wirklichkeit flößt uns Zorn und Widerwillen ein. Uns bleibt nur die Fantasie, Markéta.«
Endlich hört die Lehrerin auf, auf den Fußboden zu starren, und hebt das kantige Gesicht. »Setz mich auf deine Liste der Bücher.«
»Danke, Markéta. Vielen Dank. Willkommen in der Bibliothek.«
Die Lehrerin sagt, dass es jetzt schon zu spät für sie zum Lesen ist, weshalb sie das Buch morgen ausleihen wird. Ein Hauch von Freude liegt in ihrer Stimme, und ihre Schritte federn etwas mehr als sonst, als sie sich entfernt. Vielleicht findet sie langsam Gefallen daran, ein »lebendiges« Buch zu sein. Dita bleibt noch ein wenig sitzen, blättert in dem Buch, flüstert den Namen Edmond Dantès vor sich hin und versucht, ihn französisch klingen zu lassen. Sie fragt sich, ob sie wohl von hier fliehen könnte, so wie der Held des Buches. Sie glaubt zwar nicht, dass sie so tapfer wie er ist, aber wenn sie die Chance hätte, auf den Wald zuzurennen, würde sie nicht zögern.
Außerdem stellt sie sich die Frage, ob sie ihr Leben danach der Aufgabe widmen würde, sich an sämtlichen SS -Wachen und Offizieren zu rächen, und ob sie dabei ebenso methodisch, unerbittlich und, ja, sogar schonungslos vorgehen würde wie der Graf von Monte Christo. Natürlich wäre es schön, wenn ihre Peiniger denselben Schmerz erleiden müssten, den sie so vielen unschuldigen Menschen zugefügt haben. Aber der Gedanke, dass sie den fröhlichen, selbstbewussten Edmond Dantès zu Beginn der Geschichte viel lieber mochte als den berechnenden, hasserfüllten Mann, in den er sich verwandelt, macht Dita ein wenig traurig. Hat man denn eine Wahl?, fragt sie sich. Oder verändern einen Schicksalsschläge, auch ohne dass man es will, so wie die Axt einen lebendigen Baum in Feuerholz verwandelt?
Sie erinnert sich an die letzten Tage ihres Vaters, als er auf seiner schmutzigen Pritsche im Sterben lag, ohne Medikamente, die ihm Erleichterung gebracht hätten, während er langsam an der Krankheit zugrunde ging, mit der die Nazis sich verbündet haben, besessen vom Tod, wie sie sind. Bei diesem Gedanken beginnen ihre Schläfen schmerzhaft zu pochen, und ein unstillbarer Wunsch nach Rache steigt in ihr auf.
Aber dann erinnert Dita sich an das, was Professor Morgenstern sie gelehrt hat: Unser Hass ist ihr Sieg. Und sie nickt. Wenn Professor Morgenstern verrückt war, dann sperrt mich mit ihm zusammen ein.