Kapitel 23
Heute nimmt der Morgenappell kein Ende. Als er endlich vorbei ist, wird gepfiffen und auf Deutsch herumgeschrien. Ein SS -Mann kommt und befiehlt, den Appell zu wiederholen. Viele der tschechischen Juden sprechen Deutsch, weshalb der Befehl enttäuschtes Gemurmel auslöst. Noch eine Stunde herumstehen … Niemand weiß, was los ist, aber irgendetwas stimmt nicht, denn die Wachen sind spürbar nervös. Ein geflüstertes Wort macht zwischen den Reihen die Runde: Ausbruch.
An diesem Morgen erklingt in Block 31 donnernd das Volkslied Alouette. Avi Ofir dirigiert den Chor mit seiner gewohnten Heiterkeit, und die Kinder, egal welchen Alters, genießen es, das Lied zu singen, das zur Hymne von Block 31 geworden ist. Auch Dita singt mit. Die Vibration der Musik erfasst sie alle. So gut wie alle der dreihundertsechzig Kinder befreien ihre Lungen und werden zu einer einzigen, vielteiligen Stimme.
Als das Lied zu Ende ist, verkündet Lichtenstern, dass demnächst der Sederabend vor dem Passahfest stattfindet und dass die Barackenältesten des Kinderblocks daran arbeiten, ihn gebührend zu feiern. Die Kinder klatschen, und einige pfeifen Beifall. Im Lager wird erzählt, dass der Blockälteste sich tagelang bemüht hat, auf dem Schwarzmarkt ausreichend Zutaten für das Fest zu besorgen. Es sind Nachrichten dieser Art, die Schwung in das tägliche Einerlei bringen und eine Atmosphäre der Normalität für die Kinder schaffen. Bei einem weiteren Gerücht, das sich mit Lichtgeschwindigkeit im Lager verbreitet hat, geht es um die Flucht eines Häftlings namens Lederer. Das war der Grund, weshalb sie zu einem zweiten Appell antreten mussten, und deshalb wurde angeordnet, dass alle männlichen Gefangenen die Köpfe rasieren. Die Kapos haben zwar immer wieder etwas von Hygiene gebrüllt, aber es ging einfach nur um Vergeltung. Zum Glück für Ditas dichten Schopf sind die Frauen verschont geblieben. Aber wen interessiert das schon.
Offenbar sind die Deutschen besonders erbost über Lederers Flucht, weil diese durch einen SS -Mann ermöglicht wurde, der desertiert ist. Nichts könnte die Nazis mehr aufbringen. Jedes Seil wird gut genug sein, um ihn zu hängen, und sei es noch so rau. Margit hat Dita erzählt, dass der fragliche SS -Mann derselbe ist, der sich immer mit Renée getroffen hat, aber Renée redet mit niemandem. Nicht über dieses Thema und auch sonst über nichts. Und bisher sind die Männer zum Glück nicht geschnappt worden.
Zufall ist Zufall. Dita geht gerade die Lagerstraße entlang, alle Sinne in Alarmbereitschaft für den Fall, dass Mengele auftaucht. Der, den sie beschattet, ist ein hochrangiger Gefangener, den sie schon manchmal hinter dem Zaun gesehen hat. Dita hat sich wochenlang den Kopf zerbrochen, wie sie es einrichten könnte, ihn zu sprechen, und jetzt ist er hier und schlendert allein die Straße entlang, die Hände in den Hosentaschen. Er trägt eine Hose, die wie eine Reithose aussieht, so, als wäre er ein Kapo. Aber es ist der Schreiber des Quarantänelagers, Rudi Rosenberg.
»Verzeihung …«
Rudi verlangsamt seine Schritte, ohne jedoch stehen zu bleiben. In Gedanken ist er bei seinem eigenen Plan. Es gibt kein Zurück mehr. Das Jucken ist inzwischen unerträglich geworden. Er muss hier fort, tot oder lebendig. Er kann nicht mehr länger warten. Das Datum steht fest, nur bei der Verpflegung gibt es noch das eine oder andere Detail zu klären. Die Würfel sind gefallen, und er darf sich jetzt keine Unachtsamkeit erlauben.
»Was willst du?«, fragt er gereizt. »Ich habe nichts Essbares, was ich dir geben könnte.«
»Darum geht es nicht. Ich habe in Block 31 für Fredy Hirsch gearbeitet.«
Rosenberg nickt, aber er geht weiter, und Dita muss sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten.
»Ich kannte ihn …«
»Mach dir nichts vor. Niemand kannte diesen Mann. Das hat er nicht zugelassen.«
»Aber er war tapfer. Hat er irgendetwas zu Ihnen gesagt, das erklären würde, wieso er sich umgebracht hat?«
Rosenberg bleibt kurz stehen und sieht sie an. Er sieht müde aus. »Er war ein Mensch. Ihr alle habt einen biblischen Patriarchen aus ihm gemacht, einen legendären Golem oder so etwas.« Er seufzt geringschätzig. »Er hatte diesen Nimbus eines Helden um sich erschaffen. Aber er konnte ihm nicht gerecht werden. Ich habe ihn gesehen, er war ein Mensch wie jeder andere. Um es simpel auszudrücken, er konnte einfach nicht mehr. Er ist zerbrochen, so wie jeder zerbrochen wäre. Ist das so schwer zu verstehen? Vergiss ihn. Seine Zeit ist vorbei. Frag dich lieber, wie du hier lebend herauskommst.«
Rudi, der offensichtlich schlechte Laune hat, beendet das Gespräch und entfernt sich. Dita denkt über seine Worte nach, und auch über seinen feindseligen Tonfall. Natürlich war Hirsch ein Mensch; er hatte seine Schwächen, das ist ihr durchaus bewusst. Er hat nie behauptet, keine Angst zu haben; natürlich hatte er die. Gesagt hat er vielmehr, dass man seine Angst hinunterschlucken muss. Rosenberg ist jemand, der vieles weiß, das sagen alle. Er hat ihr gerade einen vernünftigen Ratschlag gegeben: Denk nur an dich selbst. Aber Dita mag nicht vernünftig sein.
Der April hat wärmere Temperaturen mitgebracht, und die schneidende Kälte des Winters hat nachgelassen. Der Regen hat die Lagerstraße in einen Morast voller Pfützen verwandelt, und mit der Feuchtigkeit haben auch die Atemwegsinfekte zugenommen. Der Wagen, mit dem jeden Morgen die Toten im Lager eingesammelt werden, ist voller Menschen, die an Lungenentzündung gestorben sind. Auch die Cholera hat viele dahingerafft, und sogar Typhus ist dabei. Es ist kein plötzlicher Anstieg der Todesfälle wie bei einer Epidemie, sondern ein beständiger Fluss wie aus einem Wasserhahn, der nie zugedreht wird, in diesen feuchten Baracken, die ein Paradies für Bakterien sind.
Der April hat Birkenau nicht nur Regen gebracht, sondern auch einen stetigen Strom von Transporten. An manchen Tagen kommen bis zu drei Züge, in denen sich die Juden drängen, und spülen Wasser und Menschen auf den neuen Bahnsteig. Die Kinder in Block 31 werden langsam unruhig; sie wollen nach draußen und die ankommenden Züge sehen, und sie staunen über die Berge von Koffern und Paketen, die auf dem Boden liegen. Lauter Kartons mit Essen, die die Kinder gierig anstarren, während ihnen das Wasser im Munde zusammenläuft.
»Schaut mal, ein riesiger Käse«, ruft ein zehnjähriger Junge namens Wiki.
»Und da auf dem Boden … sind das etwa Gurken?«
»Mein Gott, eine Kiste Kastanien!«
»Oh, du hast recht. Das sind Kastanien!«
»Wenn der Wind doch nur wenigstens eine Kastanie hierher wehen würde! Ich will ja gar nicht so viel – nur eine Kastanie!« Und Wiki beginnt leise zu beten: »Lieber Gott im Himmel, nur eine Kastanie. Sonst nichts!«
Ein fünfjähriges Mädchen mit schmutzigem Gesicht und Haaren wie ein Mopp macht ein paar Schritte nach vorn, und eine Erwachsenenhand packt sie an der Schulter und hindert sie am Weitergehen.
»Was sind Kastanien?«
Die älteren Jungen und Mädchen beginnen zu lachen, aber sie hören gleich wieder damit auf. Das kleine Mädchen hat noch nie eine Kastanie gesehen, sie kennt weder den Geschmack von heißen Maroni noch von Kastanienkuchen im November. Wenn Gott ihn erhört und der Wind eine Kastanie herüberweht, wird er die Hälfte dem kleinen Mädchen schenken, beschließt Wiki. Man hat nicht richtig gelebt, wenn man nicht weiß, wie eine Kastanie schmeckt.
Die Lehrer schauen weniger auf die Essenspakete, sondern mehr zu den gebrochenen Menschen, die von den SS -Leuten mit Schlägen angetrieben werden, damit sie sich aufstellen, um die übliche, makabre Routine zu durchlaufen, die jeder Transport mitmacht: Die Trennung derer, die man rasieren, tätowieren und hier ins Moor schicken wird, damit sie bis zum Umfallen arbeiten, von denen, die an Ort und Stelle getötet werden. Die sechs- und siebenjährigen Kinder im Familienlager auf der anderen Seite des Zauns machen oft Witze über die Neuankömmlinge. Es lässt sich schwer sagen, ob sie sich tatsächlich lustig über sie machen und ihnen das Leid dieser Fremden egal ist, oder ob sie nur vor ihren Freunden gleichgültig tun, um stark zu wirken und so die eigene Furcht zu bewältigen.
Normalerweise versammelt sich die Familie am Abend vor dem Passahfest um den Tisch, und die Haggada wird vorgelesen, die vom Auszug der Israeliten aus Ägypten erzählt. Die Tradition verlangt, dass zu Ehren Gottes vier Gläser Wein getrunken werden. Es gibt Keará, eine traditionelle Platte mit den folgenden Speisen: Zeroá (normalerweise eine gebratene Lammkeule); Beitzá (ein braunes Ei, um das harte Herz des Pharao zu symbolisieren); Maror (bittere Kräuter oder Meerrettich als Symbol für das harte Schicksal der jüdischen Sklaven in Ägypten); Jaroset (eine süße Paste aus Äpfeln, Honig und getrockneten Früchten, die den Mörtel darstellt, mit dem die Juden in Ägypten ihre Häuser bauten) und Karpás (ein wenig Petersilie in Salzwasser, als Symbol für das tränenreiche Schicksal der Israeliten). Dazu der wichtigste Bestandteil, Matzá, das ungesäuerte Brot, von dem sich jeder am Tisch nimmt. Das letzte Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern geteilt hat, war ein Sedermahl, und die christliche Eucharistie ist aus diesem jüdischen Ritus entstanden. Ota Keller erzählt das alles seiner Gruppe, und keines der Kinder lässt sich auch nur ein Wort entgehen. Für sie sind religiöse Bräuche und das traditionelle Essen heilig.
Lichtenstern hat sich durchgesetzt: Sie werden das Passahfest feiern können. Obwohl die Erwachsenen nicht alle nötigen Zutaten bekommen haben, die man braucht, um das Fest auf orthodoxe Weise zu feiern, warten die Kinder gespannt, bis der Blockälteste aus seiner Kammer kommt, in den Händen ein Brett, das als Platte dient. Darauf liegen, präzise angeordnet, ein Knochen von etwas, das einmal ein Huhn gewesen sein könnte, ein Ei, ein Stück Rettich und eine Schüssel mit Salzwasser, in der ein paar Kräuter schwimmen.
Tante Mirjam hat Rote-Bete-Marmelade mit dem Morgentee gemischt, um so etwas wie Wein zu produzieren. Sie hat auch den Brotteig geknetet. Einer der Männer, die regelmäßig bei den Reparaturarbeiten in den Baracken helfen, hat etwas dicken Draht ergattert und ihn so gebogen, dass man darauf Brot backen kann. Die Kinder verfolgen gebannt die Prozedur. Voller Staunen beobachten sie, wie an diesem Ort, wo Nahrung ein so seltenes Gut ist, aus einer Handvoll Mehl und ein bisschen Wasser ein köstlich schmeckendes Brot entsteht, das betörend duftet. Endlich ein Wunder!
Die jüngsten Kinder, die bis jetzt im hinteren Teil der Baracke herumgetobt sind, werden zur Ruhe gebracht, und respektvolles Schweigen mit einem Hauch von Mystizismus breitet sich aus.
Endlich sind fünf Brotfladen fertig, und man legt sie in die Mitte des Tisches. Es ist nicht viel für die mehr als dreihundert Kinder, aber Lichtenstern ordnet an, dass sich jeder nur ein winziges Stück nehmen soll, gerade genug, um die Matzá zu schmecken.
»Dieses ungesäuerte Brot haben eure Vorväter gegessen, als sie vor der Sklaverei in die Freiheit flohen«, erzählt Lichtenstern den Kindern.
Und einer nach dem anderen tritt vor, um sein geheiligtes Fitzelchen zu empfangen. Anschließend setzen sich die Kinder wieder zu ihren Gruppen und hören ihren Lehrern zu, die die Geschichte vom Auszug der Juden erzählen, während alle ihr rituelles Brot essen und den falschen Wein trinken. Dita wechselt zwischen den Gruppen hin und her und lauscht den verschiedenen Stimmen. Jede erzählt ihre eigene Version der außergewöhnlichen Taten, die den langen Marsch durch die Wüste unter der Führung des Propheten Moses ausmachen. Die Kinder lieben diese Geschichten, und sie hören gespannt zu, während Moses die Hänge des Sinai hinaufsteigt, um sich diesem zürnenden Gott zu nähern, und das Rote Meer sich teilt, um die Juden hindurchzulassen. Es ist wahrscheinlich das unorthodoxeste Passahfest in der Menschheitsgeschichte – es ist noch nicht einmal Abend, sondern Mittag. Und natürlich gibt es auch nicht das traditionelle Lamm; hier ist überhaupt nichts, das sie essen können. Immerhin wird jedes Kind als kleines Extra ein halbes Plätzchen bekommen. Aber die aufgewendete Mühe und der Glaube, mit dem das Fest gefeiert wird, trotz aller Widrigkeiten, machen das alles zu einer ergreifenden Zeremonie.
Avi Ofir ruft den Chor zusammen, und die Kinder singen Beethovens Ode an die Freude , erst scheu, dann immer lebhafter. Da man in dieser Baracke kaum heimlich proben kann, kennen die meisten den Text auswendig und stimmen ebenfalls mit ein, bis ein einziger, gewaltiger Chor aus Hunderten von Stimmen daraus wird. Die Musik dringt durch die Wände und durch die Stacheldrahtzäune. Die Häftlinge, die in den Entwässerungsgräben des Lagers arbeiten, halten kurz inne und stützen sich auf ihre Schaufeln, um besser hören zu können.
»Hört doch! Das sind die Kinder – sie singen!«
Auch in der Kleiderkammer kommt die Arbeit für einen Augenblick zum Stillstand, und die Menschen drehen die Köpfe zu der süßen Melodie, die von einem Ort außerhalb des Lagers zu kommen scheint.
»Nein, nein«, widerspricht jemand, »das sind die Engel im Himmel!«
In den Gräben, wo der Ascheregen niemals aufhört und wo die Kapos die Häftlinge drangsalieren, damit sie graben, bis ihnen die Hände bluten, sind die Musik und die Stimmen, die der Wind zu ihnen weht, wie ein Wunder. In dem Lied geht es darum, dass eines Tages Millionen zusammenkommen, die ganze Welt sich umarmen und alle Menschen Brüder und Schwestern sein werden. Ein Ruf nach Frieden, der in der größten Todesfabrik der Menschheitsgeschichte aus voller Kehle gesungen wird.
Die Ode erklingt so laut, dass sie sogar bis zum Schreibtisch eines berüchtigten Musikliebhabers dringt. Er hebt den Kopf, als würde er den Duft eines köstlichen Kuchens schnuppern, einen Duft, der so stark ist, dass er ihm bis zu dem Ofen folgen muss, in dem der Kuchen gebacken wird. Rasch legt er seine Papiere weg, überquert die Lagerstraße zum Familienlager und bleibt auf der Schwelle von Block 31 stehen.
Die Kinder haben bereits mehrmals die erste Strophe gesungen, die einzige, die sie alle auswendig können, und kommen gerade zum Ende des Refrains, als mit einem Mal die Gestalt, die die Schirmmütze mit dem silbernen Totenschädel trägt, in der Tür steht und einen überlangen, bedrohlichen Schatten wirft. Lichtenstern erstarrt; es ist, als wäre der Winter mit einem Mal zurückgekehrt. Dr. Mengele …
Lichtenstern singt weiter, aber seine Stimme wird leiser. Es ist den Häftlingen nicht gestattet, jüdische Feste zu feiern. Dita hört vorübergehend auf zu singen, aber sie nimmt den Faden gleich wieder auf, denn die Erwachsenen sind zwar verstummt, aber die Kinder singen weiter, als ob nichts geschehen wäre.
Mengele bleibt sekundenlang stehen und hört zu, seine Miene ist neutral, undurchdringlich. Er sieht zu Lichtenstern hinüber, der aufgehört hat zu singen und ihn erschrocken ansieht. Mengele nickt beifällig, als würde es ihm gefallen, was er hört, und ermuntert sie mit einem Wink seiner weiß behandschuhten Hände, weiterzusingen. Der Offizier dreht sich um, und während der Block die Ode beendet, singen alle aus voller Kehle, als wollten sie Mengele eine kraftvolle Botschaft schicken. Alle klatschen, und ein Teil davon gilt ihnen selbst, ihrer Energie und ihrem Mut.
Als sie sich kurz nach dem Ende des Passahfests alle auf den Abendappell vorbereiten, die Klänge der Freude noch im Ohr, kommt von draußen eine andere Art von Musik. Schriller, durchdringender, eintöniger, ohne eine Spur von Freude, auch wenn ein paar Leute lächeln, als sie sie hören. Es ist die Alarmsirene, die im Lager aufheult. SS -Mitglieder laufen in alle Richtungen. Zwei Soldaten, die auf der Lagerstraße unterwegs waren, rennen zu ihren Wachtposten. Die Sirenen melden einen Ausbruch. Und bei einem Ausbruch geht es um alles oder nichts – Freiheit oder Tod.
Es ist das zweite Mal in zwei Tagen, dass sie die Sirenen hören. Zuerst war es wegen dieses Lederer, der angeblich beim Widerstand ist und zusammen mit einem SS -Deserteur geflohen sein soll. Seither haben sie nichts mehr von den beiden gehört, und das ist die beste Nachricht, die es geben kann. Anscheinend hat sich Lederer als SS -Mann ausstaffiert, und die beiden sind seelenruhig durch das Haupttor spaziert. Die diensthabenden Wachen waren offenbar so dumm, dass sie die Männer sogar zu ein paar Gläsern Wodka eingeladen haben.
Jetzt heult wieder die Sirene. Fluchtversuche erzürnen die Nazis. Sie sind eine Missachtung ihrer Autorität, aber vor allem verletzen sie die Ordnung, die die Nazis so zwanghaft errichtet haben. Für Schwarzhuber müssen zwei erfolgreiche Fluchtversuche in so kurzem Abstand eine Beleidigung darstellen. Und genauso ist es: Als man ihm die Nachricht überbringt, verpasst er seinen Untergebenen Tritte und fordert, dass Köpfe rollen. Ganz gleich, welche.
Die Häftlinge wissen, dass ihnen eine lange Nacht bevorsteht, und sie irren sich nicht. Die Deutschen ordnen an, dass sich alle, auch die Kinder, auf der Hauptstraße des Lagers aufstellen sollen. Mehrere Appelle folgen – drei Stunden vergehen, und sie stehen immer noch da. Die Nazis wollen damit sicherstellen, dass nicht noch jemand fehlt, aber es ist auch eine Form der Vergeltung, weil ihr Zorn die Ausbrecher nicht erreichen kann. Zumindest im Moment.
Während die Wachen herumrennen und die Anspannung wächst, verhalten sich Rudi Rosenberg, der Schreiber, und sein Kumpan Fred Wetzler mucksmäuschenstill. Sie sitzen in einem winzigen, höhlenähnlichen Schlupfwinkel, mehrere Hundert Meter entfernt, in pechschwarzer Finsternis, und nur ihr Keuchen belebt die undurchdringliche Dunkelheit ein wenig. Vor Rudis geistigem Auge erscheint das Bild von vor ein paar Tagen, als die russischen Flüchtlinge mitten im Lager gehängt wurden – ihre blau angeschwollenen Zungen, die Augen, die blutige Tränen weinten, während sie aus den Höhlen traten.
Ein Schweißtropfen rinnt ihm über die Stirn, und er wagt es nicht, ihn wegzuwischen, aus Furcht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Jetzt ist er es, der in dem Bunker der Russen sitzt, zusammen mit seinem Freund Fred. Sie haben beschlossen, alles aufs Spiel zu setzen. Jetzt oder nie.
Die Lagersirene heult. Er streckt die Hand aus und berührt Fred am Bein. Fred legt seine Hand auf die von Rudi. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie haben ein paar Tage gewartet, ob die Nazis das Versteck der Russen abreißen würden, und als das nicht geschah, sind sie zu dem Schluss gekommen, dass das Versteck sicher ist. Bald werden sie wissen, ob sie damit recht hatten.
Im Familienlager hilft Dita ihrer Mutter nach einem langen Tag, wenige Minuten bevor das Licht ausgeht, die Nissen loszuwerden, bevor sie sich in Läuse verwandeln. Dafür muss sie den kleinen, abgebrochenen Kamm wieder und wieder durch die Haare ziehen. Ihre Mutter kann mangelnde Hygiene nicht ertragen, zumindest früher nicht, als sie Dita immer gescholten hat und ihr sagte, sie solle sich die Hände mit Seife waschen, bevor sie etwas anfasste. Jetzt bleibt Liesl nichts anderes übrig, als sich mit dem Schmutz abzufinden. Dita erinnert sich daran, wie ihre Mutter vor dem Krieg war; sie war eine wunderschöne Frau – viel schöner als ihre Tochter – und äußerst elegant.
Auch ein paar andere Insassinnen nutzen die Zeit vor dem Schlafengehen, um die unerwünschten Mitbewohner in ihren Haaren loszuwerden. Dabei unterhalten sie sich von Pritsche zu Pritsche über die Ereignisse des Tages, ohne ihre Beschäftigung zu unterbrechen.
»Ich verstehe einfach nicht, wieso jemand, der als Schreiber arbeitet, der nie Hunger leidet, der nicht besonders hart arbeiten muss und der nie selektiert werden wird, weil die Nazis ihn schätzen, auf diese Weise sein Leben aufs Spiel setzt.«
»Das versteht keiner.«
»Ein Ausbruch ist Selbstmord. Fast alle landen am Ende wieder hier und werden gehängt.«
»Und außerdem kommen wir sowieso bald hier raus«, meldet sich eine weitere Frau. »Es heißt, dass die Russen die Deutschen zum Rückzug zwingen. Der Krieg könnte noch diese Woche vorbei sein.«
Die Bemerkung führt zu lebhaftem Gemurmel voller optimistischer Theorien, genährt von dem Verlangen, das Ende dieses langwierigen Krieges zu erleben.
»Und außerdem«, ergänzt eine der tonangebenden Frauen, »gibt es für uns andere immer Repressalien, wenn jemand flieht: noch mehr Beschränkungen, Bestrafungen … In einigen Lagern sind schon Leute aus Rache in die Gaskammer geschickt worden. Wer weiß schon, was sie mit uns machen? Nicht zu fassen, wie egoistisch manche Leute sind. Denen ist es egal, wenn sie uns alle in Gefahr bringen.« Alle nicken.
Liesl Adlerova beteiligt sich nur selten an diesen Gesprächen. Sie steht nicht gerne im Mittelpunkt und schilt immer ihre Tochter, weil die nicht sonderlich zurückhaltend ist. Es ist erstaunlich, dass eine Frau, die mehrere Sprachen spricht, sich so oft für die Sprache des Schweigens entscheidet. Aber jetzt ergreift sie das Wort.
»Endlich mal eine vernünftige Stimme.« Wieder wird allgemein genickt. »Endlich spricht jemand die Wahrheit aus.« Zustimmendes Gemurmel ist zu hören. Liesl spricht weiter. »Endlich sagt jemand, was wirklich wichtig ist: dass es uns kein bisschen kümmert, ob dieser Mann lebend davonkommt. Uns interessiert nur, inwieweit es uns betrifft – ob sie uns einen Löffel weniger Suppe zu Mittag geben oder ob wir draußen stundenlang zum Appell antreten müssen. Das ist es, was zählt.«
Ein paar Frauen beginnen verwirrt zu murmeln, aber Liesl fährt fort: »Ihr sagt, zu fliehen wäre sinnlos. Die Deutschen werden mit Dutzenden von Suchtrupps nach den Flüchtlingen fahnden und sind dadurch gezwungen, immer mehr Soldaten an der Heimatfront einzusetzen, anstatt sie in den Kampf gegen die Alliierten zu schicken, die uns retten werden. Ist es wirklich sinnlos, wenn wir hier kämpfen, um die deutschen Soldaten abzulenken? Und ist es sinnvoll, hier zu bleiben und der SS zu gehorchen, bis sie beschließen, uns zu töten?«
Die Verblüffung hat das Gemurmel verstummen lassen, und man merkt einen gewissen Zwiespalt in den Meinungen. Dita hält immer noch den Kamm in der Hand, sie ist baff vor Staunen. Liesl Adlerovas Stimme ist die einzige, die in der Baracke zu hören ist. »Ich habe einmal gehört, wie ein junges Mädchen uns alte Hühner genannt hat. Sie hatte recht. Wir gackern den ganzen Tag und tun auch sonst nicht viel.«
»Und was ist mit dir, wenn du hier schon den Mund aufreißt? Wieso fliehst du nicht, wenn du meinst, das wäre so gut?«, kreischt die Frau, die zuvor gesprochen hat. »Reden kann jeder, aber …«
»Ich bin zu alt und außerdem nicht kräftig genug. Und auch nicht mutig genug. Ich bin ein altes Huhn. Gerade deshalb respektiere ich die, die mutig genug sind, um das zu tun, was ich nicht tun würde.«
Die Frauen um sie herum haben nicht nur ihr Gemurmel eingestellt, sie sagen gar nichts mehr. Selbst die liebenswerte Klatschbase Frau Turnovská, die sonst immer den Ton angibt, mustert ihre Freundin verwundert.
Dita legt den Kamm auf die Pritsche und sieht ihre Mutter an, als würde sie sie unter einem Mikroskop betrachten, voller Überraschung, jemanden zu entdecken, der ganz anders ist als der Mensch, mit dem sie bisher zusammengelebt hat. Sie hat geglaubt, ihre Mutter würde seit dem Tod ihres Mannes in ihrer eigenen Welt leben, abgeschnitten von dem, was um sie herum geschieht. »Mama, so viel habe ich dich schon seit Jahren nicht mehr reden hören.«
»Findest du, dass ich mehr gesagt habe, als ich hätte sagen sollen, Edita?«
»Überhaupt nicht.«
Ein paar Hundert Meter weiter regiert die Stille. Und die Dunkelheit. Wenn die Flüchtigen sich die Hand vor das Gesicht halten, können sie ihre Finger nicht erkennen. In diesem hölzernen Kabuff, wo sie entweder sitzen oder liegen müssen, vergeht die Zeit quälend langsam, und von der verbrauchten Luft im Versteck ist ihnen ein bisschen übel. Ein Veteran hat ihnen geraten, Tabak in Kerosin zu tränken, um die Hunde von ihrer Fährte abzubringen.
Neben sich hört Rudi Fred Metzlers unsteten Atem. Sie haben viel Zeit, um tausendmal über dieselben Dinge zu grübeln. Rudi kommt der Gedanke, wie verrückt es war, seine vorteilhafte Stellung im Lager aufzugeben, anstatt das Ende des Krieges abzuwarten und sich so wie bisher durchzuschlagen. Aber das Fluchtfieber hatte ihn gepackt, und er konnte es nicht mehr abschütteln. Der letzte Blick von Alice Munk ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf, und auch nicht das blau angelaufene Gesicht von Alfred Hirsch. Nachdem er erlebt hat, wie jemand, der so unzerstörbar schien wie Fredy Hirsch, vor seinen Augen zerbrach, kann er an so etwas wie Immunität nicht mehr glauben.
Und was ist mit dem Tod von Alice? Wie könnte er es hinnehmen, dass ihre Jugend und Schönheit nicht genug waren, um die Dampfwalze des Hasses aufzuhalten? Die Nazis kennen keine Grenzen; ihre Entschlossenheit, auch noch den allerletzten Juden umzubringen, der sich am Ende der Welt versteckt hält, ist methodisch und unerbittlich. Er und Wetzler müssen fliehen. Aber das genügt nicht. Er muss außerdem der Welt – besonders dem langsamen Westen, der der Meinung ist, dass die Front sich in Russland oder Frankreich befindet – die Nachricht überbringen, dass das wahre Gemetzel mitten in Polen stattfindet, an den Orten, die Konzentrationslager heißen und wo man sich in Wahrheit nur darauf konzentriert, das abscheulichste Verbrechen der Geschichte zu vollbringen. Und so kommt Rudi, trotz der Angst und der Dunkelheit in dieser eiskalten Nacht, am Ende zu dem Schluss, dass er genau da ist, wo er sein sollte.
Die Zeit vergeht, aber der winzige Spalt gibt ihnen keinen Aufschluss darüber, ob es Tag oder Nacht ist. Drei Tage müssen sie in absoluter Dunkelheit verharren. Dennoch verraten ihnen die Geräusche von draußen, dass der Tag bereits begonnen hat.
Das Warten ist schwer. Hin und wieder gelingt es ihnen, einzudösen, aber beim Aufwachen fahren sie jedes Mal zusammen, denn wenn sie die Augen öffnen, ist die Welt verschwunden, von der Finsternis verschluckt. Dann fällt ihnen ein, dass sie in diesem Bunker sitzen, und sie beruhigen sich wieder, aber nur ein bisschen, denn nur ein paar Meter trennen ihr Versteck von den Wachtürmen. Beiden ist schwindlig. Ängste sind Geschöpfe der Nacht, sie wachsen in der Dunkelheit.
Sie haben sich absolute Stille auferlegt, denn sie wissen, dass jeder, der dort draußen herumläuft, sie hören könnte. Außerdem haben sie keine Ahnung, ob der winzige Spalt in dem Brettergefüge ausreicht, um genügend Luft hindurchzulassen. Doch auch so kommt manchmal ein Moment, in dem einer von ihnen es nicht mehr aushält und den anderen flüsternd fragt, was passiert, wenn morgen noch mehr Bretter auf ihr Versteck gestapelt werden, die so schwer sind, dass sie sie nicht mehr verschieben können. Die beiden wissen, dass ihr Schlupfwinkel in diesem Fall zu einem Sarg werden würde, in dem sie entweder ersticken oder verhungern und verdursten würden – ein langsamer, qualvoller Tod. Unweigerlich beginnen sie während dieses langen, angstvollen Wartens zu fantasieren, fragen sich, wer von ihnen als Erster dran glauben muss, falls sie hier eingeschlossen werden.
Sie hören das Gebell von Hunden, ihren schlimmsten Feinden, aber glücklicherweise weit weg. Aber dann hören sie Geräusche, die immer näher kommen: Schritte und Stimmen, die irgendwann verstörend vernehmbar sind. Soldatenstiefel bringen den Grund zum Vibrieren. Die beiden Flüchtlinge halten den Atem an. Sie könnten nicht einmal atmen, wenn sie es wollten, weil die Furcht ihnen die Brust zusammenschnürt. Gedämpft hören sie, wie Bretter verschoben werden. Ein paar von den SS -Männern verschieben die Bohlen in dem Bereich, wo sie sich verstecken. Ganz schlecht. Jetzt sind die SS -Leute so nah, dass man sogar Bruchstücke ihres Gesprächs verstehen kann, wütende Schnipsel über Männer, denen der Urlaub gestrichen wurde, weil sie die Umgebung des Lagers abgehen sollen. Ihre Worte sind voller Hass gegen die Ausbrecher. Sie sagen, dass sie, wenn sie die Männer finden, ihnen mit Freuden den Schädel einschlagen werden, falls Schwarzhuber sie nicht hinrichten lässt. Und sie sind so gut zu verstehen, dass Rudi innerlich kalt wird, so, als wäre er bereits tot. Sein Leben hängt nur an der Dicke des Bretts, das über ihnen ist. Nur vier oder fünf Zentimeter trennen sie vom sicheren Tod.
Das Stiefelgetrampel über ihm und die Bretter, die neben dem Versteck verrückt werden, verraten ihm, dass das Ende bevorsteht. Er hat so viel Angst, dass er sich wünscht, sie würden den Deckel des kleinen Schlupfwinkels hochheben, hineinschauen und die Sache so schnell wie möglich beenden. Es wäre ihm lieber, wenn die Wachen sie gleich an Ort und Stelle erschießen. Hoffentlich erspart ihnen die Wut der Männer die Demütigung und den Schmerz, öffentlich gehängt zu werden. Noch vor einer Sekunde war Rudis Ziel die Freiheit, jetzt wünscht er sich nur noch einen schnellen Tod. Sein Herz pocht so heftig, dass er zu zittern beginnt.
Schwere Schritte, dann werden Bretter weggeschoben, es klingt, als wären es Grabsteine. Rudi hat bereits aufgegeben und sich sogar aus seiner Erstarrung gelöst; es gibt nichts, was er tun könnte. In den Tagen vor ihrem Ausbruch hat er darüber fantasiert, wie entsetzlich der Augenblick wäre, wenn sie geschnappt würden, der Augenblick, in dem er mit absoluter Gewissheit wüsste, dass er sterben muss. Aber jetzt weiß er, dass es nicht so ist, dass davor die Angst kommt. Wenn der Nazi mit der Luger auf dich zielt und dich auffordert, die Hände hochzuheben, dann überkommt dich kalte Ruhe, ein Loslassen, denn dann gibt es nichts mehr zu tun und nichts mehr zu fürchten. Er horcht auf die Geräusche der weggeschobenen Bretter und beginnt instinktiv, die Arme hochzuheben. Er schließt sogar die Augen, um dem gleißenden Licht nach der tagelangen Dunkelheit zu entgehen.
Aber die Explosion des Lichts kommt nicht. Jetzt ist ihm, als würde das Getrampel gedämpfter klingen und das Schaben der Bretter leiser. Er träumt nicht. Als er angestrengt lauscht, wird ihm klar, dass die Gespräche und die Geräusche sich entfernen. Und mit jeder Sekunde, die vergeht – jede einzelne so lang wie eine Stunde –, entfernen sich auch die Suchenden. Endlich kehrt die Stille zurück, nur hin und wieder unterbrochen von einem fernen Lastwagen oder einer Trillerpfeife. Abgesehen von diesen Geräuschen, hört Rudi nur ein unkontrolliertes Pochen, und er hat keine Ahnung, ob es sein eigenes Herz ist oder das von Fred oder ihre beiden Herzen zusammen.
Sie sind in Sicherheit … fürs Erste. Zur Feier des Tages erlaubt sich Rudi den Luxus eines tiefen Seufzers und verändert ganz leicht seine Haltung. Jetzt ist es Fred, der suchend die schweißnasse Hand ausstreckt, und Rudi, der sie nimmt. Beide zittern.
Als mehrere Minuten vergangen sind und die Gefahr vorüber ist, flüstert Rudi Fred ins Ohr: »Heute Nacht verschwinden wir von hier, Fred – wir verschwinden für immer.«
Und das ist eine Wahrheit, die keinen Widerspruch duldet: Sie gehen für immer. Wenn sie das Brett wegschieben, das ihnen als Decke dient, und im Schutz der Dunkelheit auf den Wald zukriechen, werden sie nie wieder Häftlinge in Auschwitz sein. Sie werden entweder frei sein oder tot.