Kapitel 24
Während das Lager Birkenau, von seinem Elektrozaun umgeben, einen ruhelosen Schlaf schläft, gleitet auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns ein Holzdeckel beiseite. Langsam wird er aufgeschoben, wie der Deckel eines Kästchens mit Schachfiguren. Vier Hände verschieben ihn von unten, bis die kalte Nachtluft in die winzige Kammer strömt. Zwei Köpfe erscheinen und spähen vorsichtig hinaus. Rudi und Fred verschlingen die frische Luft geradezu, es ist das reinste Festmahl.
Rudi sieht sich genau um und stellt fest, dass keine Wachen in der Nähe sind und die Dunkelheit sie beschützt. Der nächste Wachturm ist kaum vierzig bis fünfzig Meter entfernt, aber der Wachmann blickt in die Richtung des Lagers und merkt nicht, dass jenseits der Lagergrenze, zwischen den Bretterstapeln, die für die neuen Baracken zur Erweiterung des Lagers gedacht sind, zwei Gestalten auf den Wald zukriechen.
Zu den Bäumen zu gelangen und ihre Lungen mit dem feuchten Geruch des Waldes zu füllen ist für die beiden ein Gefühl, als würden sie neu geboren. Aber die Euphorie, die der Geschmack der Freiheit in ihnen auslöst, ist kurzlebig. Der Wald, der aus der Ferne so schön und einladend aussah, ist nachts für Menschen eher ungemütlich. Bald merken sie, dass querfeldein zu laufen nicht einfach ist, wenn man nichts sieht. Der Untergrund ist voller Fallen: Gestrüpp, das ihnen die Beine zerkratzt, Äste, die gegen ihre Arme peitschen, pitschnasses Laub. Sie bemühen sich um einen möglichst geraden Kurs, um so weit wie möglich vom Lager wegzukommen.
Ihr Plan sieht vor, die slowakische Grenze in den Beskiden zu erreichen, einem hundertzwanzig Kilometer entfernten Gebirgszug. Sie werden in der Nacht wandern und sich tagsüber verstecken. Und beten. Sie wissen, dass sie von der polnischen Zivilbevölkerung keine Hilfe erwarten dürfen, denn die Deutschen erschießen alle Einheimischen, die Flüchtlingen Zuflucht gewähren.
Sie gehen durch die Finsternis, stolpern, fallen hin, rappeln sich auf und gehen weiter. Nachdem sie ein paar Stunden langsam vorangekommen sind, unsicher, ob sie in die richtige Richtung gehen, merken die beiden Männer, dass der Wald lichter und die Bäume weniger werden. Irgendwann bewegen sie sich durch niedriges Buschland. In ein paar Hundert Metern Entfernung können sie sogar die Lichter eines Hauses ausmachen. Endlich gelangen sie zu einer unbefestigten Straße. Das ist zwar gefährlicher, als querfeldein zu laufen, aber da die Straße nicht asphaltiert ist, wird sie vermutlich wenig benutzt. Sie beschließen, der Straße zu folgen, sich so nah wie möglich beim Straßengraben zu halten und auf alle Geräusche zu achten. Die Rufe der Eulen schaffen in der Dunkelheit eine unheimliche Atmosphäre, und der Wind ist so kalt, dass ihnen die Luft wegbleibt. Wann immer sie ein Haus sehen, weichen sie in den Wald aus und umgehen es in sicherer Entfernung. Bei einer dieser Gelegenheiten bellen die Hunde aufgeregt und verraten sie beinahe, die Flüchtigen beschleunigen ihre Schritte.
Als der Himmel heller wird, beschließen sie flüsternd, sich in den dichtesten Teil des Waldes zu schlagen und sich dort einen hohen Baum zu suchen, in dem sie sich bis zum Abend verstecken können. Jetzt können sie die Umrisse ihrer Umgebung besser erkennen und kommen leichter voran. Eine halbe Stunde später ist es hell genug, um alles deutlich zu sehen. Als sie sich anschauen, erkennen sie einander nicht wieder. In den drei Tagen sind ihre Bärte stark gewachsen. Auch der Ausdruck in ihren Gesichtern ist anders – eine Mischung aus Unbehagen und Freude darüber, dem Lager entkommen zu sein. Sie kennen sich tatsächlich nicht mehr, weil sie nicht mehr die gleichen sind: Sie sind frei. Beide lächeln. Sie klettern auf einen Baum und versuchen es sich bequem zu machen, aber es ist schwer, zwischen den Ästen eine stabile Position zu finden. Aus ihrer Tasche holen sie ein Stück Brot, das hart wie Stein ist, und schlürfen die letzten Tropfen aus ihren Feldflaschen. Gespannt warten sie auf den Sonnenaufgang, und nun weiß Fred, wo sie sind. Er zeigt auf eine niedrige Hügelkette: »Wir befinden uns auf direktem Weg zur tschechischen Grenze, Rudi.«
Ganz gleich, was passiert, niemand wird ihnen mehr diesen Augenblick der Freiheit nehmen, während sie ihr Brot kauen, ohne bewaffnete Nazis, ohne Sirenen und gebrüllte Befehle. Es ist nicht leicht, die Balance zu halten, ohne vom Baum zu fallen und ohne dass die Äste sich schmerzhaft in den Körper drücken, aber beide sind so müde, dass sie in einen Zustand der Schläfrigkeit gleiten, der es ihnen erlaubt, ein bisschen zu dösen.
Wenig später hören sie Stimmen und rasche Schritte über das tote Laub. Als sie erschrocken die Augen öffnen, sehen sie eine Horde Kinder unweit von ihrem Baum vorbeilaufen. Sie tragen Hakenkreuzarmbinden und singen deutsche Lieder. Die Flüchtlinge sehen sich alarmiert an: Es ist eine Gruppe der Hitlerjugend auf einem Ausflug. Das Unglück will es, dass der junge Leiter der Gruppe von etwa zwanzig Kindern ausgerechnet auf der Lichtung rasten will, die nur wenige Meter von ihrem Baum entfernt liegt. Die beiden Männer erstarren, sie rühren sich nicht. Die Kinder lachen, schreien, streiten, singen … Die beiden Männer auf ihrem Ast sehen die graugrünen Uniformen und die kurzen Hosen, die unbändige Energie der Kinder, die immer wieder dem Baum gefährlich nahe kommen, während sie Beeren suchen, die sie wie Projektile nach ihren Kameraden schleudern. Dann ist das Picknick vorbei, und der Jugendleiter ruft zum Aufbruch. Die laute Truppe entfernt sich, und die beiden Männer auf ihrem Baum atmen erleichtert auf und lockern ihre Finger, um den Blutfluss nach dem langen Stillhalten wieder in Gang zu bringen.
Der Rest des Tages vergeht, sie machen nur noch wenige Nickerchen. Beide zählen nervös die Stunden, bis es Abend wird. Sie nutzen die letzten Sonnenstrahlen, um zur Straße zurückzukehren, und bestimmen anhand des Sonnenuntergangs, wo genau Westen ist.
Die zweite Nacht ist viel aufreibender als die erste. Sie müssen häufig anhalten, um sich auszuruhen; sie sind völlig erschöpft. Der Adrenalinrausch nach ihrer Flucht, der sie am Vortag beflügelt hat, ist abgeklungen. Trotzdem gehen sie weiter, bis es langsam hell wird und sie nicht mehr können. Die Straße hat viele Kreuzungen und Gabelungen für sie bereitgehalten, und sie haben ihre Wahl jeweils intuitiv getroffen, aber im Grunde haben sie keine Ahnung, wo sie sind.
Der Wald liegt hinter ihnen, sie befinden sich jetzt in einer Gegend mit viel weniger Vegetation, mit vereinzelten Bäumen, Feldern und Buschland. Sie wissen, dass in diesem Landstrich Menschen leben, aber sie sind zu müde, um sich darum zu kümmern. Es ist zwar immer noch stockfinster, aber auf der einen Straßenseite entdecken sie eine Lichtung inmitten von Sträuchern. Sie laufen bis dorthin und suchen sich ein paar belaubte Äste, aus denen sie sich ein provisorisches Versteck bauen, um ein paar Stunden schlafen zu können. Wenn ihr Schlafplatz nicht allzu auffällig ist, könnten sie vielleicht sogar den ganzen Tag dort bleiben. Sie kriechen in ihr Versteck und verschließen den Eingang mit ein paar buschigen Zweigen. In Polen ist es bei Tagesanbruch sehr kalt, also kuscheln sie sich aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen, und können endlich ein bisschen schlafen.
Sie schlafen so tief, dass die Sonne schon hoch am Himmel steht, als Stimmen sie wecken, und Panik durchzuckt die beiden: Ihre Zuflucht bietet keineswegs so viel Sichtschutz, wie sie gedacht hatten; die Zweige, mit denen sie den Eingang verschlossen haben, lassen deutliche Lücken frei; und was sie durch die Löcher sehen, bestürzt sie. Sie haben gar nicht auf einer Lichtung gerastet, wie sie dachten. Während der nächtlichen Dunkelheit sind sie, ohne es zu merken, bis zum Rand einer Siedlung gelangt und haben in einem öffentlichen Park übernachtet. Wenige Meter vor dem, was sie für eine geschützte Lichtung hielten, stehen Bänke und Schaukeln.
Entsetzt sehen die beiden sich an und wagen nicht, sich zu rühren, denn jetzt hören sie Schritte, die sich nähern. Als sie ihre Flucht vorbereiteten, haben sie sich Strategien zurechtgelegt, um SS -Streifen, Kontrollpunkten und Hunden aus dem Weg zu gehen, aber nun sind es kleine Kinder, die sich in ihren schlimmsten Albtraum verwandelt haben.
Bevor ihre Furcht übermächtig wird, stehen zwei Kinder vor ihrem Versteck, ein Junge und ein Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen, die sie mit arischer Neugierde anstarren. Zwei schwarze Stiefel nähern sich hinter den Kindern, die sich umdrehen und auf Deutsch rufen: »Papa, Papa, komm her! Da sind zwei komische Männer!«
Die Schirmmütze eines SS -Oberscharführers wird sichtbar. Der Deutsche bleibt stehen und starrt die beiden Männer an. Rudi und Fred sind wie gelähmt, vollkommen hilflos klammern sie sich aneinander. Der Kopf des Oberscharführers wirkt unverhältnismäßig riesig, als er sich zwischen den Zweigen vorbeugt, wie der Kopf eines Ogers. Der Totenschädel auf seiner Mütze sieht sie an, als würde er sie erkennen. In diesem Augenblick sehen die beiden Flüchtlinge ihr ganzes Leben wie einen Film vor ihrem inneren Auge ablaufen. Sie wollen etwas sagen, aber die Furcht hat ihnen die Stimme geraubt und sie gelähmt. Der SS -Mann betrachtet sie, und ein hämisches Lächeln zuckt um seine Lippen. Hinter ihm tauchen die hohen Absätze seiner Frau auf, und die beiden Männer verstehen nicht ganz, was ihr Ehemann ihr zuflüstert. Alles, was sie hören, ist die schockierte Erwiderung der Deutschen: »Jetzt kann man nicht einmal mehr mit seinen Kindern in einen öffentlichen Park gehen, ohne über zwei Männer zu stolpern, die es in den Büschen miteinander treiben! Es ist eine Schande!«
Empört rauscht die Frau davon, und der Oberscharführer, auf dem Gesicht immer noch das kleine Lächeln, ruft seine Kinder zusammen und folgt ihr.
Rudi und Fred, die immer noch im Gestrüpp liegen, sehen sich an. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass sie sich immer noch umarmen, genau wie beim Einschlafen. Und nun umarmen sie sich noch fester, zutiefst dankbar dafür, dass die Angst ihnen die Sprache geraubt hat. Jedes Wort, das über ihre Lippen gekommen wäre, hätte sie als Ausländer verraten. Schweigen ist eben fast immer Gold.
Rudi Rosenberg und Fred Wetzler glauben zwar, dass sie sich unweit der slowakischen Grenze befinden, aber sie wissen nicht genau, welche Straße zu den Beskiden führt. Aber das ist ihr kleineres Problem. Das größere ist, dass sie nicht unsichtbar sind. Als ein Pfad eine scharfe Biegung macht, stoßen sie beinahe mit einer Frau zusammen. Sie befinden sich in einem besiedelten Landstrich – es wird sich nicht vermeiden lassen, dass sie Menschen begegnen, wie dieser polnischen Bäuerin mit dem runden Gesicht, die sie ängstlich mustert.
Die beiden Männer kommen zu dem Schluss, dass sie keine andere Wahl haben, als alles zu riskieren – früher oder später werden sie ohnehin auf jemanden treffen. Und Hilfe brauchen sie in jedem Fall. Seit vierundzwanzig Stunden haben sie nichts mehr gegessen, sie haben seit Tagen so gut wie nicht geschlafen, und sie wissen noch nicht einmal, ob sie auf dem richtigen Weg in die Slowakei sind. Rasch wechseln sie einen Blick, mit dem sie sich darauf verständigen, der Frau die Wahrheit zu sagen. In ungelenkem Polnisch, gemischt mit tschechischen Brocken, vielen Gesten und einander ins Wort fallend, um eine überzeugende Erklärung abzugeben, erzählen sie der Frau, dass sie geflohene Häftlinge aus Auschwitz sind, dass sie nichts Böses im Schilde führen und nur nicht wissen, wie sie zur Grenze kommen, um nach Hause zurückzukehren.
Der argwöhnische Ausdruck auf dem Gesicht der Bäuerin hat sich nicht verändert; sie weicht sogar zurück, als die beiden sich ihr nähern wollen. Fred und Rudi verstummen. Mit ihren stecknadelkopfgroßen Augen starrt die Frau sie an. Die beiden sind müde, hungrig, durcheinander – und sie haben Angst. Mit flehentlichen Gesten bitten sie die Frau um Hilfe, und sie blickt zu Boden. Die beiden sehen sich an, und Fred bedeutet Rudi mit einer Kopfbewegung, dass sie hier wegmüssen, bevor die Frau um Hilfe ruft und sie verrät. Aber sie haben Angst, dass sie Alarm schlägt, sobald sie sich von ihr abwenden.
Die beiden haben keine Zeit, den Rückzug anzutreten. Die Frau hebt den Kopf, kommt einen Schritt näher, als wäre sie zu einem plötzlichen Entschluss gekommen, und packt Rudi am Ärmel. Die Männer begreifen, dass die Frau sie sich näher ansehen will. Sie betrachtet sie eingehend, so, wie sie es bei einem Pferd oder einem Kalb tun würde. Sie will wissen, mit welcher Sorte Menschen sie es zu tun hat: die unrasierten Gesichter und die schmutzigen Kleider reichen nicht aus, um sie von der Wahrheit ihrer Geschichte zu überzeugen, aber sie sieht auch ihre müden, vom Schlafmangel geschwollenen Augen, sie sieht die eingefallenen Gesichter, die aussehen wie bei einem Totenschädel, sie sieht die Haut, die über den Knochen spannt. Und endlich nickt sie. Sie gibt den Männern mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie bleiben sollen, wo sie sind, und mit einer weiteren Geste, dass sie ihnen etwas zu essen bringen wird; die beiden glauben sogar ein wenig von dem zu verstehen, was sie auf Polnisch zu ihnen sagt: »Mensch« und »Grenze«. Nach ein paar Schritten dreht die Frau sich noch einmal um und gibt ihnen ein weiteres Mal mit einer nachdrücklichen Geste zu verstehen, dass sie hierbleiben und sich nicht vom Fleck rühren sollen.
Rudi sagt flüsternd, dass sie ihn und Fred vielleicht den deutschen Behörden melden wird, womöglich schickt sie einen SS -Trupp zu ihnen. Fred antwortet, dass sie sich zwar verstecken können, aber dass die Deutschen die Gegend abriegeln und mit Suchtrupps durchkämmen werden, wenn sie wissen, dass die entflohenen Häftlinge aus Auschwitz sich hier aufhalten. Dann wäre es sehr schwer, ihnen zu entkommen.
Die beiden beschließen zu warten. Sie gehen über eine Holzbrücke auf die andere Seite des Bachs, an dem sie noch am Morgen ihren Durst gestillt haben. Falls die SS auftaucht, werden sie diese von dort aus früh genug sehen, um sich in den Wald zu schlagen und zumindest eine Minute Vorsprung zu gewinnen. Eine Stunde vergeht, und die alte Bäuerin ist immer noch nicht zurück. Langsam verlangen ihre Mägen nach mehr als nur Luft.
»Es wäre am vernünftigsten, in den Wald zurückzugehen«, sagt Rudi leise.
Fred ist zwar seiner Meinung, aber keiner von ihnen rührt sich. Sie sind nicht mehr dazu imstande, ihre Kräfte sind aufgebraucht. Sie haben keine Reserven mehr.
Nach zwei Stunden geben sie das Warten auf und kuscheln sich zum Schutz vor der Kälte zusammen. Beinahe dösen sie ein. Eilige Schritte durchbrechen die Stille. Die beiden Männer versuchen nicht einmal, wegzulaufen, vor wem auch immer. Als sie die Augen öffnen, sehen sie, dass der Verursacher der Schritte ein Junge von etwa zwölf Jahren ist. Er trägt eine Jacke aus Sackleinen und eine Hose, die mit einer Schnur zusammengehalten wird. In der Hand hält er ein Holzkästchen. Den Worten des Jungen entnehmen die Männer, dass seine Großmutter ihn schickt. Als sie das kleine Holzkästchen öffnen, das er dabeihat, finden sie darin zwei dampfend heiße, gekochte Kartoffeln vor, darunter zwei dicke Stücke gebratenes Kalbfleisch. Sie würden es nicht für alles Gold der Welt hergeben.
Bevor der Junge geht, versuchen die beiden, ihn nach der slowakischen Grenze zu fragen. Der Junge sagt, dass sie warten sollen. Die beiden bleiben, wo sie sind, etwas ruhiger nach der herzlichen Geste mit dem Essen und gestärkt von dem Mahl, das sie in Rekordgeschwindigkeit verschlungen haben.
Endlich hören sie wieder Schritte, vorsichtigere diesmal, und im Schutz der Dunkelheit. Im Mondlicht erkennen sie den Mann erst, als er beinahe vor ihnen steht: Er trägt ländliche Kleidung, aber er hält ein Gewehr in der Hand. Waffen verheißen nichts Gutes. Der Mann bleibt direkt vor ihnen stehen und zündet ein Streichholz an, das vorübergehend alle drei Gesichter beleuchtet. Er hat einen dichten, hellbraunen Schnurrbart, der wie eine Schuhbürste aussieht. Schließlich lässt er die Hand mit dem Gewehr sinken und streckt die andere zum Handschlag aus. »Widerstand.«
Mehr sagt er nicht, aber das ist auch nicht nötig. Rudi und Fred machen Luftsprünge, sie beginnen zu tanzen und umarmen sich, bis sie umkippen. Der Pole beobachtet sie verwundert. Er fragt sich, ob sie betrunken sind. Und das sind sie wirklich – betrunken von der Freiheit. Der Partisan stellt sich als Stanis vor, auch wenn das vermutlich nicht sein richtiger Name ist. Auf Tschechisch erklärt er ihnen, dass die Frau, die sie getroffen haben, misstrauisch war, weil sie sie für verkleidete Agenten der Gestapo hielt, auf der Jagd nach Polen, die mit dem Widerstand kooperieren. Sie sind ganz in der Nähe der Grenze, sagt er, und sie müssen sich vor den deutschen Patrouillen in Acht nehmen, aber er kennt deren Zeitpläne, und sie sind so pünktlich, dass sie jede Nacht fast auf die Minute genau an derselben Stelle vorbeikommen. Für die beiden Flüchtlinge sollte es deshalb kein Problem sein, ihnen aus dem Weg zu gehen.
Stanis fordert sie auf, mitzukommen. Eine Weile folgen sie ihm über dunkle Pfade, bis sie zu einer verlassenen Steinkate mit einem eingestürzten Strohdach gelangen. Die Holztür gibt mühelos nach. Innen überziehen Vegetation und Feuchtigkeit die Wände. Der Pole geht in die Hocke, zündet ein Streichholz an, entfernt ein paar verfaulte Bretter und greift nach einem Metallring. Er zieht daran, und eine Falltür kommt zum Vorschein. Aus seiner Tasche holt er eine Kerze und zündet sie an. Im Kerzenschein steigen sie eine Treppe hinunter, bis sie in ein ehemaliges Heulager unter der Hütte gelangen, wo jetzt Matratzen, Decken und Proviant liegen. Alle drei lassen sich die Suppe aus den Konservendosen schmecken, die sie über einem kleinen Campingkocher erwärmen. Hinterher schlafen Fred und Rudi zum ersten Mal seit Ewigkeiten friedlich ein.
Der Pole ist ein Mann weniger Worte, aber außerordentlich tüchtig. Am nächsten Morgen brechen sie früh auf, und es stellt sich heraus, dass er sich mit den Waldwegen so gut auskennt wie ein wilder Eber. Nachdem sie einen Tag lang fast ohne Zwischenrast durch den Wald gegangen sind, verbringen sie die Nacht in einer Höhle. Am nächsten Tag ruhen sie sich gar nicht aus. Sie steigen die Berghänge hinauf und hinunter und meiden die Patrouillen, wie man einen Zug vorbeifahren lässt – sie verstecken sich hinter Findlingen, bis die Gefahr vorüber ist und sie ihren Weg fortsetzen können. Als der dritte Tag anbricht, befinden sie sich endlich auf slowakischem Boden.
»Ihr seid frei«, verabschiedet sich der Pole.
»Nein, das sind wir nicht«, erwidert Rudi. »Wir haben noch eine Aufgabe zu erfüllen. Die Welt muss erfahren, was hier geschieht.«
Der Pole nickt, sein buschiger Schnurrbart wippt zustimmend auf und ab.
»Vielen, vielen Dank – du hast uns das Leben gerettet«, sagen Rudi und Fred. Stanis zuckt die Schultern, für ihn gibt es nichts zu sagen.
Während des zweiten Teils ihrer Reise werden die beiden dafür sorgen, dass die Welt erfährt, was wirklich im Dritten Reich geschieht, was Europa nicht weiß oder nicht wissen will: dass es bei diesem Krieg nicht nur um Landesgrenzen geht, sondern um die Auslöschung eines ganzen Volkes.
Am 25. April 1944 sprechen Rudolf Rosenberg und Alfred Wetzler im Hauptquartier des Judenrats in Zilina bei Dr. Oskar Neumann vor, dem Vertreter der slowakischen Juden. Durch seinen Posten als Schreiber in Auschwitz ist Rudi in der Lage, einen Bericht voll grausiger Statistiken zu diktieren. Der Bericht beschreibt zum ersten Mal den organisierten Massenmord und die physische Ausbeutung der Menschen durch Sklavenarbeit. Er schildert, wie die Nazis sich die Besitztümer ihrer Opfer aneignen, wie sie menschliches Haar für die Textilproduktion verwenden und wie sie ihren Opfern Füllungen und Zähne aus Gold und Silber ausreißen, um sie einzuschmelzen und Münzen für das Reich daraus zu prägen. Rudi beziffert die Zahl der in Auschwitz liquidierten Juden mit 1,76 Millionen.
Rudi erzählt auch von den Schlangen der schwangeren Frauen mit den kleinen Kindern, die man zu den Duschen führt, aus denen Giftgas kommt; von den Arrestzellen, die nicht größer als Särge sind und in denen die Häftlinge sich nicht einmal hinsetzen können; von den langen Arbeitstagen im Freien, an denen die Frauen knietief im Schnee stehen, in Sommerröcken und bei nur einem Teller wässriger Suppe, die den ganzen Tag reichen muss. Er redet und redet, und manchmal kommen ihm die Tränen, aber er hört nicht auf zu reden, getrieben von dem fiebrigen Verlangen, einer von den Bomben taub gewordenen Welt entgegenzuschreien, dass sich hinter verschlossenen Türen ein noch viel schmutzigerer und schrecklicherer Krieg abspielt. Und dass man ihm ein Ende machen muss.
Als Rudi seinen Bericht fertig diktiert hat, ist er erschöpft, aber zufrieden, und zum ersten Mal seit Jahren ist er mit sich im Reinen. Der Bericht wird sofort nach Ungarn geschickt. Die Nazis haben dieses Land besetzt und organisieren Transporte von Juden zu Konzentrationslagern, die alle Welt für Sammelstellen hält, ohne zu erkennen, dass es sich in Wirklichkeit um Todesfabriken handelt.
Aber der Krieg zerstört mit seinen Maschinengewehren und Explosionen nicht nur Menschenleben, er vernichtet auch die geistige Gesundheit und tötet Seelen. Die Warnungen von Fred und Rudi erreichen zwar den Judenrat in Ungarn, aber niemand nimmt Notiz von ihnen. Die jüdischen Anführer wollen lieber den Versprechungen der Nazis glauben und verteilen weiter Juden auf die Transporte, die nach Polen gehen. Nach all dem Schmerz und dem Leid und der Freude über seine Freiheit sieht sich Rudi bitter enttäuscht. Sein Bericht rettet nicht die Ungarn, von denen er geglaubt hatte, sie retten zu können. Der Krieg ist wie ein Fluss, der über die Ufer tritt: Er lässt sich schwer regulieren, und wo man ihm einen kleinen Damm entgegensetzt, reißt der Strom ihn ein.
Rudi Rosenberg und Fred Wetzler werden nach Großbritannien evakuiert, wo sie ihren Bericht vorstellen. Auf den Britischen Inseln hört man ihnen zu, aber von hier aus lässt sich nur wenig ausrichten – abgesehen davon, noch entschlossener zu kämpfen, um dem Wahnsinn, der Europa verwüstet, ein Ende zu setzen.