Kapitel 27
Juli 1944
Die Werkstätten und Block 31 sind bereits geschlossen. Ditas Mutter unterhält sich gerade, oder besser gesagt, sie nimmt an einem Gespräch teil, das die anderen Frauen führen und bei dem Frau Turnovská den Ton angibt. Dita sitzt hinter der Baracke, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Es sind so viele Menschen hier, dass man nur schwer eine Stelle zum Anlehnen findet. Margit kommt zu ihr und macht es sich so gut wie möglich auf dem Stück von Ditas Decke bequem, das diese ihr überlässt. Sie ist spürbar nervös, man merkt es an der Art, wie sie auf ihrer Unterlippe herumkaut.
»Glaubst du, sie verlegen uns wirklich woandershin?«
»Da habe ich nicht den leisesten Zweifel. Ich hoffe nur, es ist nicht das andere Ende der Welt.«
Margit rutscht unruhig herum, sie ist nervös. Die beiden fassen sich an den Händen.
»Ich habe Angst, Ditinka.«
»Die haben wir alle.«
»Nein, du bist völlig gelassen. Du machst ja sogar Scherze über die Verlegung. Ich wäre gern so tapfer wie du, aber ich habe viel zu viel Angst. Ich zittere wie Espenlaub, und mir ist heiß und kalt zugleich.«
»Als meine Beine mal heftig gezittert haben, hat Fredy Hirsch zu mir gesagt, wirklich mutig seien die Menschen, die Angst hätten.«
»Wieso?«
»Weil man mutig sein muss, um Angst zu haben und trotzdem weiterzumachen. Wenn man keine Angst hat, wo ist dann das Verdienst?«
»Ich habe Herrn Hirsch ein paarmal auf der Lagerstraße gesehen. Er sah sehr gut aus! Ich hätte ihn gern kennengelernt.«
»Er war kein Mensch, den man leicht kennenlernen konnte. Er saß
ständig in seiner Kammer. Er hat die Treffen am Freitagabend veranstaltet, den Freizeitsport organisiert, Probleme gelöst, wenn es welche gab, er war zu allen freundlich … Aber danach ist er immer in seine Kammer verschwunden. Es war, als wollte er sich abschotten.«
»Glaubst du, er war zufrieden?«
Dita dreht sich zu ihrer Freundin herum und sieht sie ungläubig an. »Das ist eine komische Frage, Margit! Woher soll ich das denn wissen? Ich weiß nicht … ich glaube schon. Er hatte es nicht leicht, aber ich glaube, er liebte Herausforderungen. Er war niemals feige.«
»Du hast ihn bewundert, nicht wahr?«
»Wie könnte man jemanden nicht bewundern, der einem beibringt, mutig zu sein?«
»Aber …« Margit wählt ihre Worte sorgfältig; sie weiß, dass das, was jetzt kommt, Dita kränken wird. »Am Schluss war Hirsch dann doch feige. Er hat es nicht bis zum Ende durchgestanden.«
Dita seufzt tief. »Ich habe so viel über seinen Tod gegrübelt. Man hat mir alle möglichen Geschichten erzählt. Aber ich bin immer noch der Meinung, dass da ein Teil des Puzzles fehlt, dass irgendetwas daran faul ist. Hirsch und sich drücken? Nein.«
»Aber Rosenberg, der Schreiber, war doch dabei, als er gestorben ist … Obwohl ich auch gehört habe, dass man sich nicht immer darauf verlassen kann, was Rosenberg erzählt.«
»Die Leute reden viel. Aber ich glaube, dass an diesem Nachmittag etwas passiert ist, das alles verändert hat. Leider werden wir ihn nicht mehr fragen können, worum es dabei ging.«
Dita verstummt, und Margit lässt einige Sekunden verstreichen, bevor sie weiterspricht. »Und was wird jetzt aus uns?«
»Das weiß niemand. Es lohnt sich also nicht, sich zu viele Sorgen zu machen. Wir zwei können sowieso nichts tun. Falls es einen Aufstand gibt, werden wir schon davon erfahren.«
»Glaubst du, dass es einen Aufstand geben wird?«
»Nein. Wenn es schon mit Fredy keinen gab, dann ist es ohne ihn erst recht unmöglich.«
»Dann sollten wir beten.«
»Beten? Zu wem?«
»Zu Gott. Zu wem denn sonst? Du solltest das auch tun.«
»Mehrere Hunderttausend Juden haben ihn seit 1939 angerufen,
ohne dass es ihn gekümmert hätte.«
»Vielleicht waren es ja zu wenig Gebete, oder sie waren nicht laut genug.«
»Ach komm schon, Margit. Gott soll wissen, dass du am Sabbat einen Knopf angenäht hast und dich hart dafür strafen, aber dass Tausende unschuldiger Menschen umgebracht und noch mehr Menschen festgehalten und schlimmer als Hunde behandelt werden, das merkt er nicht? Denkst du wirklich, dass er davon immer noch nichts weiß?«
»Ich weiß nicht, Dita. Nach Gottes Beweggründen zu fragen ist eine Sünde.«
»Na gut, dann bin ich eben eine Sünderin.«
»Rede nicht so. Gott wird dich bestrafen!«
»Noch mehr?«
»Du wirst in die Hölle kommen.«
»Sei nicht so naiv, Margit. Da sind wir doch schon.«
Durch das Lager schlängeln sich immer wieder Gerüchte wie elektrische Zitteraale. Eines besagt, die Selektion sei eine Charade, und man werde alle töten. Anderen zufolge werden nur die ausgesondert, die arbeitstauglich sind, während die übrigen umgebracht werden.
Ohne Vorankündigung besucht der Priester das Lager, begleitet von zwei bewaffneten Wachen. Die Leute tun zwar so, als würden sie die Männer nicht sehen, aber insgeheim lassen sie diese Unheilsboten nicht aus den Augen. Die drei Deutschen bleiben vor einer der Baracken stehen, und sofort erscheint die Kapo. Nervös geht sie die Umgebung ab und zeigt dann auf eine Insassin, die neben der Baracke sitzt und ein Kind bei sich hat, dessen Kopf in ihrem Schoß ruht. Es sind Tante Mirjam und ihr Sohn Arjeh. Der Priester informiert sie darüber, dass Kommandant Schwarzhuber ihn angewiesen hat, sie und ihren Sohn zu ihrem Ehemann zu bringen.
Eichmann hat sie angelogen, Mirjams Mann Jakub befindet sich gar nicht in Berlin. In Wahrheit hat er Auschwitz nie verlassen. Eichmann hatte auch angekündigt, dass die Familie bald wieder vereint sein würde, und in diesem Fall hat er die Wahrheit gesagt. Aber Eichmanns Wahrheiten sind noch schlimmer als seine Lügen.
Mirjam und ihr Sohn werden in einem Jeep nach Auschwitz I
gebracht. Hier liegt das Gefängnis für die politischen Gefangenen, die
Mitglieder des Widerstands, die Spione und andere, die eine Gefahr für das Reich darstellen. Die Häftlinge, und zwar alle Arten von Häftlingen, werden dort in Arrestzellen untergebracht, die auf Schmerz und Überfüllung ausgelegt sind. Hier wünscht sich niemand, in den Hof zu kommen, denn seine Zelle verlässt man nur, um erschossen zu werden.
Mirjam und Arjeh werden in einen Raum geführt, wo zwei Wachen den mit Handschellen gefesselten Jakub mit stählernem Griff an den Armen gepackt halten. Mirjam erkennt ihn kaum wieder in seiner schmutzigen Sträflingsuniform und, was noch schlimmer ist, mit der Haut, die in seinem Gesicht über den Knochen spannt. Auch Jakub braucht einen Augenblick, um sie zu erkennen, weil er seine runde Schildpattbrille nicht trägt. Er muss sie vor seiner Ankunft verloren haben, seither sieht er alles nur noch verschwommen.
Mirjam und Jakub Edelstein sind beide hochintelligent. Sie begreifen sofort, wieso man sie zusammengeführt hat. Was ihnen in diesem Augenblick durch den Kopf geht, kann man nur erahnen.
Ein Gefreiter der SS
zieht eine Pistole, zielt auf den kleinen Arjeh und schießt ihm aus nächster Nähe in den Kopf. Anschließend erschießt er Mirjam Edelstein. Als Jakub Edelstein erschossen wird, ist er innerlich bereits tot.
Am 11. Juli 1944, bevor die Schließung von Lager BII
b eingeleitet wird, sind zwölftausend Häftlinge im Lager untergebracht. Die Selektion wird von Dr. Mengele durchgeführt, die Prozedur dauert drei Tage. Er hat sich dafür Block 31 ausgesucht, da in dieser Baracke keine Stockbetten stehen und sie dadurch mehr Licht bietet. Seinem Adjutanten gegenüber macht Mengele die Bemerkung, es sei die einzige Baracke, in der ihm vom Geruch nicht übel werde. Trotz seiner Vorliebe für Autopsien ist Mengele ein kultivierter Mann, der Gestank nicht ertragen kann.
Das Ende des Familienlagers steht bevor. Dita Adlerova und ihre Mutter bereiten sich darauf vor, den Filter von Dr. Mengele zu durchlaufen, der darüber entscheiden wird, ob sie weiterleben oder in den Tod gehen. Nach der üblichen trüben Frühstücksbrühe mussten sie sich vor den Baracken aufstellen. Die Bewohner des Lagers sind verstört, die Leute laufen durcheinander und nutzen ihre
möglicherweise letzten Augenblicke. Ehepaare sagen einander Lebewohl. Viele Paare treffen sich mitten auf der Lagerstraße auf halbem Weg zwischen ihren jeweiligen Baracken. Die Menschen umarmen und küssen sich, es gibt Tränen und manchmal auch Vorwürfe. Einige sagen immer noch: »Wenn wir nur in die Staaten gegangen wären, als ich es dir gesagt habe …!« Jeder nutzt die letzten Minuten auf seine Weise. Vor den ausdruckslosen Blicken der SS
-Soldaten, die ins Lager gekommen sind, blasen die Kapos verärgert ihre Trillerpfeifen, damit alle zu ihren Baracken zurückkehren.
Frau Turnovská kommt zu Liesl, um ihr Glück zu wünschen.
»Glück, Frau Turnovská?«, fragt eine andere Frau aus ihrer Bettreihe. »Was wir jetzt bräuchten, ist eher ein Wunder!«
Dita entfernt sich ein paar Schritte von dem Trubel. Da merkt sie, dass jemand hinter ihr steht; sie fühlt den Atem in ihrem Nacken.
»Nicht umdrehen«, befiehlt er.
Dita, die Befehle gewohnt ist, bleibt wie angewurzelt stehen und sieht sich nicht um.
»Du hast doch wegen Hirschs Tod herumgefragt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Nun, ein bisschen was weiß ich … Aber du darfst dich nicht umdrehen!«
»Bisher habe ich immer nur gehört, dass er Angst hatte, aber ich weiß, dass er deswegen keinen Rückzieher gemacht hätte.«
»Da hast du recht. Ich habe die Liste der Insassen gesehen, die die SS
vom Quarantänelager abholen und zurück ins Familienlager bringen sollte. Hirsch stand ebenfalls darauf. Er wäre nicht gestorben.«
»Wieso hat er dann Selbstmord begangen?«
»In diesem Punkt hast du nicht recht«, kommt die Antwort, aber die Stimme zögert erstmals, als wüsste der Mann nicht, wie viel er sagen darf. »Hirsch hat nicht Selbstmord begangen.«
Jetzt will Dita alles wissen und dreht sich zu dem geheimnisvollen Sprecher um, aber der rennt los und verschwindet in der Menge. Dita erkennt ihn: Es ist der Kurier aus dem Krankenbau. Sie will ihm gerade nachlaufen, als ihre Mutter sie an der Schulter packt. »Wir müssen uns aufstellen!«
Die Kapo aus ihrer Baracke hat begonnen, Stockhiebe zu verteilen, und die SS
-Männer tun mit ihren Gewehrkolben das Gleiche. Es ist Zeit. Widerwillig stellt sich Dita neben ihrer Mutter auf.
Was soll das heißen, dass Fredy Hirsch sich nicht umgebracht hat? Was ist dann passiert? Vielleicht ist er ja doch nicht so gestorben, wie man es ihr erzählt hat?
Dita überlegt, ob der Junge sich die Geschichte womöglich nur ausgedacht hat. Aber wieso sollte er das tun? Es war alles nur ein Witz, und deswegen soll er weggerannt sein, nachdem sie sich umdrehte? Möglich. Aber irgendetwas sagt ihr, dass das nicht stimmt, denn als sie für den Bruchteil einer Sekunde sein Gesicht gesehen hat, haben seine Augen nicht gelächelt, überhaupt nicht. Jetzt ist sie sich sicherer denn je, dass die Ereignisse an jenem Nachmittag im Quarantänelager nichts mit den Erzählungen der Widerständler zu tun haben. Aber wieso sollten die lügen? Oder wissen sie womöglich auch nicht, was damals wirklich passiert ist?
So viele Fragen auf einmal, in einem Augenblick, in dem die Antworten womöglich zu spät kommen. Zum Familienlager gehören Tausende von Menschen, aber sie müssen an der Kompassnadel in den Augen des wahnsinnigen Dr. Mengele vorbei – um zu leben oder um zu sterben.
Schon seit Stunden gehen die Gruppen in Block 31 ein und aus, und niemand weiß genau, was sich dort abspielt. Sie haben ihre Mittagssuppe erhalten und dürfen auf dem Boden sitzen, aber die Erschöpfung und die Nervosität durch die Wartezeit haben bei den Frauen in Ditas Gruppe ihre Spuren hinterlassen. Und natürlich kocht die Gerüchteküche. Offenbar ist jetzt gesichert, dass die Selektion Realität ist: Die gesunden Häftlinge werden von den kranken und unproduktiven getrennt. Einige Frauen erzählen, Mengele bestimme ungerührt wie immer, wer leben dürfe und wer nicht. Sowohl Männer als auch Frauen müssen sich nackt ausziehen, bevor der Arzt sie untersucht. Einer sagt, Mengele habe zumindest den Anstand, Männer und Frauen getrennt eintreten zu lassen. Offenbar zeigt er den nackten Frauen gegenüber nicht einmal Lüsternheit, sondern behandelt alle mit vollkommener Gleichgültigkeit. Hin und wieder gähnt er, müde und gelangweilt von seiner Pflicht als Prüfer menschlicher Wesen.
Der Eingang zu Block 31 wird von einem SS
-Trupp bewacht. Die Gruppen, die heute noch nicht selektiert werden, wandern nervös im
Lager herum. Die Lehrer bemühen sich, die Kinder bis zur letzten Minute zu beschäftigen. Einige Gruppen organisieren hinter der Baracke Ratespiele oder andere Beschäftigungen. Selbst die spröde Markéta spielt mit einigen ihrer Mädchen »Der Plumpsack geht um«. Jedes Mal, wenn sie das Taschentuch aufhebt, tupft sie sich verstohlen die Tränen ab. Ihre elfjährigen Mädchen, die so lebhaft im Kreis herumrennen, die sich darum zanken, wer das Taschentuch zuerst berührt hat … werden ein paar von ihnen in den Augen der Deutschen alt genug zum Arbeiten sein, oder müssen sie alle sterben?
Endlich stellt sich Dita mit den Frauen in ihrer Baracke vor Block 31 auf: Sie dürfen als Nächste hinein. Sie müssen sich ausziehen und ihre Kleider auf verschiedene Haufen auf dem Boden legen, aus denen bald ein Lumpengebirge wird. Die Nacktheit ihrer Mutter ist Dita peinlicher als ihre eigene. Sie wendet sich ab, um Liesls faltige Brüste nicht sehen zu müssen, ihre nackte Scham, die Haut, die sich über ihren Knochen spannt. Manche Frauen verschränken die Arme vor der Brust, um ihre intimen Stellen so gut wie möglich zu verbergen, aber den meisten ist es egal. Zu beiden Seiten der Schlangen lungern kleine Gruppen von SS
-Männern herum, die nicht im Dienst sind und die Zeit damit totschlagen, die nackten Frauen anzuglotzen und sich laut über diejenigen auszulassen, die ihnen zusagen. Alle hier sind abgemagert, einige Mädchen haben kaum Schamhaare, aber die Soldaten langweilen sich, und sie haben sich an die skelettartige Magerkeit der Gefangenen so sehr gewöhnt, dass sie über die Frauen reden, als wären sie erlesene Schönheiten.
Dita stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht, über die Wand aus Soldaten zu schauen, um herauszufinden, was sich in der Baracke abspielt. Obwohl sowohl ihr eigenes Leben als auch das ihrer Mutter auf dem Spiel steht, trauert sie immer noch um ihre Bibliothek. Die Bücher liegen jetzt in ihrem unterirdischen Versteck und schlafen, bis sie ein zufälliger Finder aufschlagen und zum Leben erwecken wird, genau wie in der Legende von dem Prager Golem, der leblos an einem geheimen Ort liegt und darauf wartet, dass ihn jemand wiederbelebt. Jetzt bereut Dita, dass sie keinen Zettel zwischen die Bücher gelegt hat, für den Fall, dass ein anderer Häftling in Auschwitz sie findet. Sie hätte gern geschrieben: Pass gut auf sie auf, dann passen sie auch auf dich auf.
Das Warten dauert noch etliche Stunden. Eine Frau setzt sich hin, weil sie nicht mehr kann, und will nicht wieder aufstehen, trotz des Geschreis und der Drohungen einer jungen Kapo. Zwei SS
-Männer schleifen die Frau in die Baracke, als wäre sie ein Kartoffelsack. Wahrscheinlich wird sie direkt zu denen kommen, die entsorgt werden sollen.
Endlich kommt Dita an die Reihe, und begleitet von Gemurmel und Gebeten treten sie und ihre Mutter durch die Eingangstür von Block 31. Die Frau vor ihnen schluchzt.
»Weine nicht, Edita«, flüstert ihre Mutter. »Jetzt musst du zeigen, wie stark du bist.«
Dita nickt. In der Baracke fühlt sie sich sicherer, trotz der angespannten Atmosphäre, der bewaffneten SS
-Männer und dem Tisch vor dem Kamin, wo Mengele sein Urteil fällen wird. Die Deutschen haben die Zeichnungen der Kinder an den Wänden nicht entfernt. Mehrere Versionen von Schneewittchen und ihren Zwergen hängen dort, Prinzessinnen, Dschungeltiere und bunte Schiffe aus den Anfangstagen, als noch Zeichenunterricht stattfand. Dita wird klar, wie sehr sie es in Auschwitz vermisst, zeichnen zu können, so wie früher in Theresienstadt, und ihr Gefühlschaos in einem Bild auszudrücken.
Aber trotz der Zeichnungen und der Schemel, die immer noch hier sind, hat Block 31 aufgehört zu existieren. Es ist keine Schule mehr. Jetzt stehen sie, kaum dass sie durch die Tür getreten sind, vor einem Schreibtisch, hinter dem Dr. Mengele sitzt, neben ihm ein Schreiber und zwei Wachen mit Maschinenpistolen. Hinten in der Baracke sammeln sich die Menschen, die bereits selektiert wurden. Die Gruppe auf der linken Seite wird in Auschwitz bleiben, die rechte wird man zum Arbeiten in ein anderes Lager schicken. Die jungen Frauen und die Frauen mittleren Alters, die gesund aussehen – mit anderen Worten diejenigen, die noch arbeiten können –, befinden sich rechts. Die andere, viel größere Gruppe besteht aus kleinen Kindern, alten Frauen und Frauen, die kränklich wirken.
Die Aussage der Nazis, dass die linke Gruppe in Auschwitz bleiben wird, entspricht der Wahrheit: Ihre Asche wird auf den Waldboden sinken und sich für immer mit dem Moor von Birkenau vermischen.
Ungerührt zeigt der Naziarzt mit seiner weiß behandschuhten Hand nach links und rechts und schickt die Menschen auf die eine oder die
andere Seite des Lebens. Er bleibt dabei erstaunlich gelassen und zeigt keine Spur von Unsicherheit.
Die Schlange vor Dita wird immer kürzer. Die weinende Frau ist nach links geschickt worden, zu denen, die als schwach und entbehrlich gelten.
Dita holt tief Luft. Jetzt ist sie an der Reihe. Sie macht ein paar Schritte vorwärts und bleibt vor dem Tisch des Lagerarztes stehen. Dr. Mengele hebt den Kopf. Dita fragt sich, ob er sie wohl als Bewohnerin von Block 31 erkennen wird, hat jedoch keine Ahnung, was in seinem Kopf vorgeht. Doch was sie in den Augen des Doktors sieht, lässt sie erschauern: nichts. Keinerlei Gefühl. Sein Blick ist entsetzlich leer und beängstigend ausdruckslos.
Er leiert die Routinefragen herunter, die er schon seit Stunden jedem einzelnen Häftling stellt: »Name, Nummer, Alter, Beruf?«
Es wird allgemein empfohlen, einen Beruf zu nennen, der für die Nazis nützlich ist – Tischler, Bauer, Mechaniker, Koch –, und den Minderjährigen, sich älter zu machen, damit sie eine Chance haben. Dita weiß das alles, sie muss vorsichtig sein, aber ihr Charakter fordert etwas anderes von ihr.
Vor dem allmächtigen Dr. Josef Mengele, Herr über Leben und Tod wie ein Gott im Olymp, nennt sie ihren Namen, Edita Adlerova; ihre Nummer, 73305; ihr Alter, sechzehn (sie hat ein gutes Jahr dazugemogelt). Als sie ihren Beruf nennen soll, zögert sie kurz, und dann, statt etwas Nützliches, Praktisches zu nennen, das dem SS
-Mann mit dem eisernen Kreuz auf der Brust gefallen würde, sagt sie: »Malerin.«
Mengele, müde und gelangweilt von dem, was für ihn bloße Routine ist, mustert sie jetzt etwas aufmerksamer, so, wie eine Schlange den Kopf hebt, wenn sie eine potenzielle Beute sieht. »Malerin? Zimmer- oder Porträtmalerin?«
Dita klopft das Herz bis zum Hals, aber in tadellosem Deutsch und mit einer Haltung, die leicht rebellisch wirkt, antwortet sie: »Porträtmalerin.«
Mengele kneift die Augen zusammen und schenkt ihr die Andeutung eines ironischen Lächelns. »Kannst du mein Porträt malen?«
In ihrem ganzen Leben hat Dita noch nicht so viel Angst gehabt. Sie könnte in keiner verletzlicheren Position sein: fünfzehn Jahre alt,
allein und nackt, vor lauter Männern mit Maschinenpistolen, die gleich darüber entscheiden, ob sie sie umbringen oder noch ein wenig länger am Leben lassen. Schweiß rinnt über ihre nackte Haut, und die Tropfen fallen zu Boden. Aber überraschend nachdrücklich antwortet sie: »Jawohl!«
Mengele mustert sie ausgiebig. Dass der Lagerarzt innehält, ist kein gutes Zeichen. Jeder ältere Häftling würde sie warnen, dass von diesem Geist nichts Gutes kommen kann. Alle warten darauf, was er sagen wird. In der Baracke ist es mucksmäuschenstill, man hört nicht einmal ein Atmen. Selbst die SS
-Männer mit den Maschinenpistolen wagen es nicht, die Gedanken des Doktors zu stören. Schließlich geht ein amüsiertes Lächeln über Mengeles Gesicht, und mit einem Wink seiner behandschuhten Hand schickt er Dita nach rechts – zu der gesunden Gruppe.
Aber es ist noch zu früh, um erleichtert zu sein: Jetzt ist ihre Mutter an der Reihe. Dita geht langsamer und wirft einen Blick über ihre Schulter. Liesl Adlerova ist eine Frau mit traurigem Gesicht und traurigem Körper, und ihre Schultern sind gebeugt. Das alles lässt sie noch kränklicher wirken. Sie ist überzeugt, dass sie es nicht schaffen wird, und gibt sich schon vor dem eigentlichen Kampf geschlagen. Sie hat keine Chance, und der Arzt verschwendet keine Sekunde mit ihr. »Links!«
Links. Die größere Gruppe, die für die untauglichen Frauen. Dennoch, ohne aufzubegehren, nur aus Verblüffung – zumindest kommt es Dita so vor – geht Liesl hinter ihrer Tochter nach rechts und stellt sich in die Schlange, zu der sie nicht gehört. Dem Mädchen stockt der Atem: Was macht ihre Mutter da? Man wird sie wegzerren, und es wird eine schreckliche Szene geben. Dita wird sich an ihre Mutter hängen, egal, was passiert. Sollen die Wachen sie doch beide wegschleifen.
Aber das Schicksal, das so unfreundlich zu ihnen war, will es, dass ausgerechnet jetzt keine der Wachen hinsieht. Sie haben das unterwürfige Benehmen der Häftlinge satt und starren lieber die jungen Mädchen an, als aufzupassen. Genau wie Mengele, der genau in diesem Augenblick von dem Schreiber abgelenkt wird, der offenbar eine Zahl nicht verstanden hat und den Arzt danach fragt. Ein paar der Frauen, die nach links geschickt wurden, haben geschrien und
gebettelt und sich zu Boden geworfen, sodass die Wachen sie wegzerren mussten. Liesl dagegen jammert nicht, und sie protestiert auch nicht. In aller Ruhe ist sie nackt vor Doktor Tod getreten, mit einer Gelassenheit, die selbst die Tapferste der Tapferen aus der Fassung bringen würde.
Dita presst ihre Hand auf die Brust; ihr ist zumute, als müsste ihr das Herz aus dem Leib springen. Sie sieht sich zu ihrer Mutter um, die hinter ihr steht und sie abwesend ansieht, als wüsste sie gar nicht, was sie getan hat. Sie ist doch nicht mutig genug, um so etwas vorsätzlich zu tun … obwohl Dita nicht weiß, was sie denken soll. Wortlos fassen sie sich an den Händen, und jede drückt die Hand der anderen. Und sie sehen sich an und sagen sich alles mit diesem Blick. Eine weitere Frau stellt sich in die Schlange hinter Liesl, sodass die Wachen sie nicht mehr sehen können.
Die Deutschen schicken die Frauen ins Quarantänelager. Dort fallen sich diejenigen um den Hals, die in dieser Gruppe gelandet und damit fürs Erste in Sicherheit sind. Neben dem Eingang sieht man Menschen mit bedrückten Gesichtern, die dort auf Verwandte und Freunde warten, die niemals kommen werden. Frau Turnovská ist nicht in der Gruppe, die in das Quarantänelager kommt, und auch keine der anderen Frauen aus dem Damenkränzchen ihrer Mutter. Auch Kinder gehören nicht dazu. Von Mirjam Edelstein hat Dita ebenfalls nichts mehr gehört, auch wenn das Durcheinander tatsächlich groß ist und man jetzt beginnt, die ersten Gruppen zum Bahnsteig zu treiben, obwohl die Selektionen in BII
b noch nicht zu Ende sind. Margit ist ebenfalls nicht da.
Fürs Erste sind sie dem Tod entkommen. Aber an einem Ort, an dem so viele Unschuldige zurückbleiben und sterben werden, ist Überleben nur ein schwacher Trost.