Kapitel 28
Frühling 1945
Wieder ein Zug. Acht Monate sind vergangen, seit das Familienlager liquidiert wurde, und wieder einmal stecken sie in einem Viehwaggon, der wer weiß wohin fährt. Beim ersten Mal ging es von Prag nach Theresienstadt. Dann von Theresienstadt nach Auschwitz. Danach von Auschwitz nach Hamburg. Und inzwischen weiß Dita nicht mehr, wo diese Diaspora per Eisenbahn, bei der ihre Jugend entgleist ist, sie hinführen wird.
Damals auf dem Bahnsteig in Auschwitz haben die Deutschen sie in einen Güterzug gesteckt und sie mit einer Gruppe Frauen nach Deutschland geschickt. Es war eine Reise voller Hunger und Durst, mit Müttern ohne Kinder und Kindern ohne Mütter. Als die SS in Hamburg den Waggon öffnete, fand sie einen Container voller kaputter Gliederpuppen vor.
Dass sie Polen gegen Deutschland eingetauscht haben, hat ihre Lage nicht verbessert. Hier erhielt die SS mehr Nachrichten über den Krieg, und die Anspannung wuchs. Deutschland befand sich überall auf dem Rückzug, und der Fiebertraum des Dritten Reiches bekam allmählich Risse. Die Wachen ließen ihre Wut und Enttäuschung an den Juden aus, die in ihren Augen an der unabwendbaren Niederlage die Schuld trugen.
Die Gefangenen kamen in ein Lager, in dem die Schichten so lang waren, dass die Tage weit mehr als vierundzwanzig Stunden zu haben schienen. Wenn sie in ihre Baracken zurückkehrten, hatten sie kaum noch Kraft, sich zu beklagen. Sie konnten nur noch schweigend ihre Suppe essen und sich auf ihren Pritschen ausstrecken, um sich für den nächsten Arbeitstag zu erholen.
Ein Bild aus den Monaten in Hamburg hat sich Dita eingebrannt: ihre Mutter, die vor der Verpackungsmaschine für die Ziegel steht, während ihr unter dem Kopftuch der Schweiß herunterläuft. Liesl schwitzte, aber ihr Gesicht war gelassen, konzentriert und heiter, als würde sie einen Kartoffelsalat zubereiten.
Dita litt stellvertretend für ihre Mutter, die so mager war, dass nicht einmal die Verpflegung, die etwas besser als in Auschwitz war, sie an Gewicht zunehmen ließ. Gespräche während der Arbeit waren verboten, aber wenn Dita irgendetwas an dem Band vorbeischleppte, an dem ihre Mutter arbeitete, fragte sie sie mit den Augen stumm, wie es ihr ging, und Liesl lächelte dann und nickte. Dita muss zugeben, dass ihre Mutter sie manchmal in den Wahnsinn treibt. Egal, wie sie sich fühlt, Liesl sagt immer, dass es ihr gut geht. Wie soll Dita da wissen, wie es wirklich ist? Aber Liesl muss es gut gehen – für Dita.
Jetzt gerade hat Liesl ihren Kopf gegen die Wand des Waggons gelehnt und tut so, als ob sie schläft. Sie weiß, dass Dita will, dass sie schläft, auch wenn sie in Wahrheit schon seit Monaten immer nur vorübergehend eindöst. Aber das darf sie ihrer Tochter nicht erzählen. Dita ist zu jung, um zu begreifen, wie tragisch es für eine Mutter ist, ihrem Kind keine glückliche Kindheit schenken zu können. Liesl kann für ihre Tochter – die jetzt schon stärker, wacher und tapferer ist, als sie selbst es je war – nur eins tun: ihr möglichst wenig Anlass zur Sorge geben und stets wiederholen, dass alles bestens ist, obwohl sie seit dem Tod ihres Mannes eine Wunde in sich spürt, die unaufhörlich blutet.
Die Arbeit in der Ziegelfabrik in Hamburg war nicht von langer Dauer. Die Anspannung in der Führungsriege der Nazis führte zu widersprüchlichen Befehlen. Ein paar Wochen später kamen Dita und ihre Mutter in eine andere Fabrik, wo sie militärische Materialien einer neuen Verwendung zuführten. In einem der Betriebe reparierten sie schadhafte Bomben, die nicht explodiert waren. Niemandem schien die Arbeit dort etwas auszumachen, und das galt auch für Dita und Liesl: Die Arbeit fand drinnen statt, sodass man nicht nass wurde, wenn es regnete.
Als Dita eines Nachmittags nach der Arbeit zu ihrer Baracke ging, entdeckte sie Renée Neumann, die gerade aus einer Werkhalle kam und sich angeregt mit ein paar Mädchen unterhielt. Dita freute sich sehr, sie zu sehen. Renée lächelte ihr von Weitem freundlich zu und winkte, blieb jedoch nicht stehen und unterhielt sich weiter mit ihren Kolleginnen. Sie hat jetzt neue Freundinnen, dachte Dita, solche, die nicht wissen, dass sie einen Freund bei der SS hatte, und vor denen sie sich nicht rechtfertigen muss. Sie will nicht stehen bleiben und mit ihrer Vergangenheit reden.
Und jetzt haben die Deutschen die Häftlinge wieder mobilisiert, ohne ihnen zu sagen, wohin die Reise geht. Noch einmal werden sie zu Vieh, das transportiert werden muss. Der Viehwagen schwankt und rattert dabei wie eine Nähmaschine. Er ist wie ein Ofen aus Stahl, in dem Schweiß gekocht wird. Dita und ihre Mutter sitzen beide auf dem Fußboden, zwischen lauter Frauen aus verschiedenen Ländern, auch wenn viele von ihnen deutsche Jüdinnen sind. Von den tausend Frauen, die vor acht Monaten das Familienlager in Auschwitz verlassen haben, ist die Hälfte in Hamburg geblieben, wo sie jetzt in einem Betrieb arbeiten, der in einem Vorort liegt, nahe der Elbe. Dita und ihre Mutter sind erschöpft. In den letzten Monaten haben sie schwer arbeiten müssen, mit langen Arbeitstagen und unter harten Bedingungen. Dita betrachtet ihre Hände, sie sehen aus wie die einer alten Frau.
Vielleicht ist es aber auch eine andere Art von Erschöpfung. Seit Jahren schubst man sie herum und droht ihnen, sie umzubringen, sie schlafen schlecht und essen noch schlechter, ohne zu wissen, ob das alles einen Sinn hat und ob sie das Kriegsende noch erleben werden. Am schlimmsten ist, dass es Dita allmählich egal ist. Die Apathie ist von allen Symptomen das Schlimmste.
Nein, nein, nein … ich werde nicht aufgeben. Sie zwickt sich in den Arm, bis es wehtut. Dann zwickt sie sich noch fester, bis sie beinahe blutet. Das Leben muss wehtun. Wenn etwas wehtut, bedeutet das, dass es einem wichtig ist.
Sie muss an Fredy Hirsch denken. In den letzten Monaten hat sie weniger an ihn gedacht, denn irgendwann finden die Erinnerungen ihren Platz. Aber sie fragt sich immer noch, was an jenem Nachmittag mit ihm passiert ist. Der Botenjunge mit den langen Beinen hat gesagt, er hätte sich nicht umgebracht, aber er hat doch die Ärzte um ein Beruhigungsmittel gebeten … heißt das, dass er eine Überdosis genommen hat? Sie würde so gern glauben, dass er nicht sterben wollte. Aber sie weiß, dass Hirsch sehr pedantisch war, sehr deutsch. Ist es wirklich möglich, dass er versehentlich so viele Tabletten genommen hat? Dita seufzt. Vielleicht ist das alles ja nicht mehr wichtig. Fredy ist fort und kommt nicht wieder. Welche Rolle spielt es also?
Im Zug geht das Gerücht, dass man sie an einen Ort namens Bergen-Belsen bringen wird. Dita und ihre Mutter hören zu, wie einige Leute sich in Spekulationen über das neue Lager ergehen. Ein paar Leute haben gehört, dass es ein Arbeitslager sein soll, dass es ganz anders sei als Auschwitz oder Mauthausen, deren einzige Aufgabe darin besteht, Menschen zu töten. Dann bringt man sie also doch nicht ins Schlachthaus. Das klingt ermutigend, aber die meisten von ihnen sind still, denn die Hoffnung ist inzwischen scharf wie ein Rasiermesser, an dem man sich jedes Mal schneidet, wenn man die Hand ausstreckt.
»Ich komme aus Auschwitz«, sagt eine Frau. »Nichts kann schlimmer sein als das.« Die anderen Frauen schweigen. Sie sind sich keineswegs sicher. Im Lauf der Jahre haben sie lernen müssen, dass das Grauen bodenlos ist. Sie vertrauen niemandem mehr, sie sind gebrannte Kinder. Aber das Schlimmste ist, dass sie recht behalten sollen.
Die Fahrt von Hamburg nach Bergen-Belsen ist kurz, aber dennoch braucht der Zug mehrere Stunden, bis er endlich mit knirschendem Getriebe zum Stillstand kommt. Sie müssen vom Bahngleis bis zum Eingang des Frauenlagers laufen, begleitet von weiblichen SS -Angehörigen, die sie schubsen und wüst beschimpfen. Sie haben harte Gesichter. Als eine der Gefangenen eine Wärterin ansieht, spuckt die ihr ins Gesicht, damit sie sich wegdreht.
»Diese Drecksau«, murmelt Dita. Ihre Mutter kneift sie in den Arm, damit sie still ist. Dita fragt sich, warum die Wärterinnen eine solche Wut auf die Häftlinge haben. Schließlich sind sie es, die man gedemütigt und denen man alles genommen hat, die gerade erst angekommen sind und niemandem etwas zuleide getan haben, die ab jetzt nur gehorchen und für das Reich schuften werden, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Dennoch scheinen diese kräftigen, gut genährten und gut gekleideten Wärterinnen heftige Wut gegenüber den Neuankömmlingen zu empfinden. Dita kann es nicht begreifen. Die Wärterinnen verhöhnen sie, sie schlagen mit Stöcken nach ihnen, sie beschimpfen sie auf obszöne Weise und lassen ihre Wut an den unterwürfigen Neuankömmlingen aus. Dita verblüfft die Wut ihrer Angreifer, ihr Zorn gegenüber Menschen, die ihnen nichts getan haben.
Als alle Frauen sich aufgestellt haben, erscheint die Aufseherin. Sie ist groß, blond, hat breite Schultern und ein kantiges Gesicht. Sie bewegt sich mit der Selbstsicherheit einer Frau, die es gewohnt ist, zu befehlen und dass man ihr gehorcht. Mit ihrer lauten Stimme verkündet sie, dass das Verlassen der Baracken nach der Sperrstunde um sieben Uhr abends bei Todesstrafe verboten ist. Dann macht sie eine Pause und wartet gespannt, ob eine der Gefangenen sie ansieht. Alle blicken geradeaus, nur eine junge Frau macht den Fehler, ihren Blick zu erwidern. In zwei großen Schritten ist die Aufseherin bei dem Mädchen und bleibt dicht vor ihr stehen. Brutal packt sie das Mädchen an den Haaren, zerrt sie aus der Formation heraus und schleudert sie vor der Gruppe zu Boden. Niemand scheint hinzuschauen, aber alle sehen es. Die Aufseherin schlägt mit dem Knüppel zu, dann ein zweites und ein drittes Mal. Das Mädchen schreit nicht, sie schluchzt nur. Nach dem fünfzehnten Schlag hört sie auf zu schluchzen, sie wimmert nur noch. Die Frauen können nicht verstehen, was die Aufseherin sagt, als sie ihren Mund an das Ohr des Mädchens bringt, aber die Gefangene steht blutend auf und stolpert zurück zu ihrem Platz.
Die Aufseherin, die im Frauenlager Bergen-Belsen das Kommando hat, heißt Elisabeth Volkenrath. Nachdem sie in Ravensbrück als Wärterin ausgebildet wurde, kam sie nach Auschwitz, wo sie sich einen gewissen Ruf erwarb, weil sie schon für leichte Vergehen den Tod am Strang verhängte. Sie ist Anfang 1945 nach Bergen-Belsen versetzt worden.
Die Frauen kommen auf ihrem Weg an mehreren abgezäunten Bereichen vorbei, über die sie später noch mehr erfahren werden. Dazu gehört ein Lager für die männlichen Gefangenen; das »Sternlager« für die Häftlinge, die für den Austausch gegen Kriegsgefangene vorgesehen sind; das Neutralenlager für die mehreren Hundert Juden, die Pässe aus neutralen Staaten besitzen; das Quarantänelager, in dem die an Typhus Erkrankten isoliert werden; das Ungarnlager und das gefürchtete »Häftlingslager«, das eigentlich ein Vernichtungslager ist. Hier werden die kranken Häftlinge interniert, die aus anderen Arbeitslagern gekommen sind, und unter extremen Bedingungen zur Arbeit gezwungen, bis sie völlig ausgelaugt nach wenigen Tagen sterben.
Schließlich erreicht die Gruppe das kleine Frauenlager, das die Deutschen überstürzt auf einem brachliegenden Stück Land neben dem Hauptlager einrichten mussten, wegen der vielen weiblichen Häftlinge, die in den letzten Monaten nach Bergen-Belsen gekommen sind. Es ist ein Übergangslager mit vorgefertigten Baracken, die weder über fließendes Wasser noch über sanitäre Anlagen verfügen und nur aus vier dünnen Holzwänden bestehen. In der Baracke, in der Dita, ihre Mutter und etwa fünfzig andere Frauen untergebracht sind, gibt es kein Abendessen, keine Betten, und die Decken stinken nach Urin. Die Frauen müssen auf dem Holzfußboden schlafen, und selbst dort gibt es kaum genug Platz für alle.
Ursprünglich war Bergen-Belsen ein Lager für die Kriegsgefangenen, das von der Wehrmacht beaufsichtigt wurde, aber weil die russische Armee in Polen auf dem Vormarsch ist, hat man die Gefangenen aus den polnischen Lagern hierher verlegt, weshalb nun die SS das Kommando hat. Täglich treffen neue Transporte ein, und die Einrichtungen platzen aus allen Nähten. Die Überfüllung, der Nahrungsmangel und die schlechten sanitären Bedingungen haben dazu geführt, dass die Todeszahlen unter den Häftlingen explodiert sind.
Mutter und Tochter wechseln einen Blick. Liesl macht ein gequältes Gesicht, als sie ihre neuen Mitbewohnerinnen sieht, die alle krank und abgemagert aussehen. Aber noch schlimmer ist der abgestumpfte Gesichtsausdruck, den viele haben, der leere Blick; die meisten wirken so apathisch, als hätten sie bereits aufgegeben. Dita ist nicht ganz klar, ob ihre Mutter mit ihrer Grimasse die ausgehungerten Häftlinge meint oder sie beide, denn genau so werden sie bald selbst aussehen. Die Bewohner der Baracke reagieren kaum auf die Unruhe, die die Neuankömmlinge verursachen. Viele stehen nicht einmal von ihren behelfsmäßigen Lagern aus alten Decken auf. Einige könnten es gar nicht mehr, selbst wenn sie es wollten.
Dita breitet die Decke für ihre Mutter auf dem Fußboden aus und bittet sie, sich hinzulegen. Eine Armee von Flöhen springt hoch, als Frau Adlerova ihr Gesicht der Decke nähert, aber sie erschrickt nicht einmal. Es ist ihr nicht mehr wichtig. Eine von den Neuen fragt eine der Bewohnerinnen, welche Arbeit sie hier tun werden.
»Hier arbeiten wir nicht mehr«, erwidert lustlos eine von denen, die auf dem Boden liegen. »Wir überleben nur, solange wir es können.«
Den ganzen Tag über waren die Bombenabwürfe von den Flugzeugen der Alliierten zu hören, und jetzt in der Nacht sieht man das Leuchten, wenn die Bomben explodieren. Die Front ist schon ganz nah, sie ist fast mit den Händen zu greifen. Unter den Gefangenen macht sich so etwas wie Euphorie breit. Die Bomben der Alliierten klingen wie ein Gewitter, das immer näher kommt. Ein paar der Frauen reden darüber, was sie tun werden, wenn der Krieg vorbei ist.
Am nächsten Morgen verstehen Dita und ihre Mutter, wieso die Frau am Vorabend gesagt hat, dass man in Bergen-Belsen nicht arbeitet, sondern nur überlebt. Zwei SS -Wärterinnen wecken sie mit Schreien und Fußtritten, und sie beeilen sich, sich draußen aufzustellen. Aber die Wachen verschwinden, und die neuen Gefangenen stehen lange vor der Tür und warten auf Anweisungen, die nicht kommen. Ein paar der Veteraninnen sind nicht einmal von ihren Decken aufgestanden und haben die Tritte stoisch ertragen, ohne sich zu rühren.
Mehr als eine Stunde später erscheint eine Wärterin und brüllt, dass sie sich zum Appell aufstellen sollen. Gleich darauf merkt sie, dass die Liste fehlt, und fragt, wo die Kapo der Baracke ist. Niemand antwortet. Sie wiederholt ihre Frage noch dreimal, wobei sie mit jedem Mal wütender wird.
»Ihr verdammten Drecksäue! Wo zum Teufel ist die Kapo von dieser verdammten Baracke?«
Alle schweigen. Fuchsteufelswild packt die Wärterin eine der Frauen am Nacken und will von ihr wissen, wo die Kapo ist. Sie hat eine der Neuen erwischt, und diese antwortet, sie wisse es nicht. Jetzt wendet sich die Wärterin an eine der Veteraninnen, die man leicht als solche erkennt, weil sie fast nur noch Haut und Knochen ist. Die Wärterin zeigt mit dem Knüppel auf sie und wiederholt ihre Frage. »Nun?«
»Sie ist vor zwei Tagen gestorben.«
»Und die neue Kapo?«
Die Veteranin hebt die Schultern. »Es gibt keine.«
Die Wärterin ist verwirrt, sie weiß nicht, was sie tun soll. Sie könnte einfach irgendeine der Frauen zur Kapo ernennen, aber in dieser Baracke gibt es keine gewöhnlichen Gefangenen, nur Jüdinnen, und das könnte Ärger geben. Schließlich dreht sie sich um und geht. Die Veteraninnen verlassen die Formation auf eigene Verantwortung und gehen zurück in die Baracke. Die Neuankömmlinge bleiben vor der Tür stehen und wechseln Blicke miteinander. Dita würde fast lieber draußen bleiben; in der Baracke haben die Läuse und Flöhe sie fast aufgefressen, und es juckt sie überall. Aber ihre Mutter ist müde und gibt ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie hineingehen sollen. Hier fragen sie eine Veteranin, wann es Frühstück gibt. Die Grimasse der Frau, hinter der sich ein bitteres Lächeln verbirgt, spricht Bände.
»Frühstück?«, sagt sie. »Beten wir, dass es heute überhaupt Essen gibt.«
Den Vormittag verbringen sie mit Nichtstun, bis ein barsches »Achtung« ertönt, worauf sich alle rasch erheben. Die Aufseherin, gefolgt von ein paar Hilfskräften, betritt die Baracke. Mit ihrem Stock deutet sie auf eine der Veteraninnen und fragt, ob es weitere Todesfälle gegeben habe. Die Gefangene zeigt nach hinten in die Baracke, eine andere auf den Fußboden. Eine der Frauen ist auf den Ruf hin nicht aufgestanden. Sie ist tot.
Volkenrath lässt rasch ihren Blick durch den Raum schweifen und zeigt auf vier Gefangene, zwei Veteraninnen und zwei Neuankömmlinge. Sie spricht kein Wort, aber die Veteraninnen wissen bereits, was zu tun ist. Mit unvermutetem Enthusiasmus nähern sie sich dem Leichnam und packen die Tote jede an einem Bein. Sie wissen, wo sie hinfassen müssen: an der Fußseite sind die Leichen leichter und oft auch weniger unangenehm. Die Totenstarre hat bereits den Kiefer verschoben, ihr Mund und ihre Augen sind weit aufgerissen. Die beiden geben zwei anderen Gefangenen mit einem Nicken zu verstehen, dass sie die Frau an den Schultern fassen sollen. Zu viert tragen sie die Tote zur Tür.
Die weiblichen SS -Angehörigen gehen, und bis zum Abend betritt niemand die Baracke. Dann steckt eine Wärterin den Kopf durch die Tür und gibt vier Veteraninnen ein Zeichen, damit sie zur Küche gehen und den Topf mit der Suppe abholen. Jetzt kommt Leben in die Baracke, und freudige Rufe werden laut.
»Abendessen!«
»Gott sei Dank!«
Die Veteraninnen kehren mit dem Topf zurück, den sie an zwei langen Stöcken tragen, um sich nicht zu verbrennen, und an diesem Abend gibt es Suppe.
»Dieser Koch hat seine Ausbildung an der gleichen Schule gemacht wie der in Birkenau«, sagt Dita zwischen zwei Schlucken. Und Liesl wuschelt ihrer Tochter durch das schulterlange Haar, das sich an den Spitzen nach oben zu biegen beginnt.
Während der nächsten Tage wird die Anarchie weiter zunehmen. An manchen Tagen gibt es mittags einen Teller Suppe, aber dafür kein Frühstück und kein Abendessen; an manchen Tagen bekommen sie sowohl mittags und abends etwas, an anderen dagegen gar nichts. Der Hunger wird zur Folter und zu einer Quelle der Furcht, die den Geist blockiert, bis man nicht mehr denken kann; es gibt nur noch das qualvolle Warten auf die nächste Mahlzeit. Die vielen leeren Stunden und die Sorge durch den Hunger weichen den Verstand auf, bis alles sich aufzulösen beginnt.