Kapitel 29
Während der nächsten Wochen kommen noch mehr Häftlinge im Lager an, und die Abstände zwischen den Mahlzeiten werden immer länger. Die Sterblichkeitsrate wächst exponentiell. Auch ohne Gaskammern wird Bergen-Belsen zu einer Tötungsmaschinerie. Jeden Morgen muss ein halbes Dutzend Leichen aus Ditas Baracke abtransportiert werden. Offiziell werden die Verstorbenen unter »natürliche Todesursache« geführt. Der Tod ist in Bergen-Belsen so natürlich wie eine Fliege in einem Kuhstall.
Wenn die Wärterinnen kommen und die Gefangenen auswählen, die die Toten fortschaffen müssen, erstarren alle und hoffen inständig, dass es nicht sie treffen wird. Auch Dita versucht, sich unsichtbar zu machen, genau wie alle anderen. Aber heute hat sie Pech.
Die SS
-Wärterin zeigt mit ihrem Stock unmissverständlich auf sie. Dita ist die Letzte, die aufgerufen wurde, und als sie zu der Leiche kommt, sind die Plätze an der Fußseite daher schon belegt. Sie und eine Frau mit sehr dunkler Hautfarbe, die aussieht wie eine Romni, packen die Tote unter den Schultern. In den letzten Jahren hat Dita viele Leichen zu sehen bekommen, aber sie hat noch nie eine berührt. Sie kann es nicht vermeiden, die Hand der Verstorbenen zu streifen, und die marmorne Kälte lässt sie erschauern.
Dita und die dunkelhäutige Frau müssen den Löwenanteil des Gewichts tragen. Dita macht es nervös, dass die Arme nicht herabbaumeln, dass sie steif und in angewinkelter Position bleiben, als wäre der Frauenkörper eine Gliederpuppe.
Eine der Frauen, die die Füße des Leichnams tragen, übernimmt die Führung, und sie gelangen zu einem Bereich, der hinter einem Stacheldrahtzaun liegt. Zwei Wachen mit Maschinenpistolen begleiten sie. Sie kommen zu einem Stück Brachland, wo ihnen ein deutscher Offizier in Hemdsärmeln entgegenkommt. Sie bleiben stehen, ohne die Tote abzulegen, und der Offizier wirft einen kurzen Blick auf sie. Er
kritzelt etwas in ein Notizbuch und gibt ihnen ein Zeichen, weiterzugehen. Eine der Veteraninnen flüstert ihnen zu, dass das Dr. Klein ist, der die Aufgabe hat, Typhusausbrüche zu verhindern. Wer die Krankheit hat, wird von ihm zum Sterben in ein Quarantänelager geschickt.
Je weiter sie kommen, desto schlimmer wird der Gestank. Ein paar Meter vor ihnen sind mehrere sehnige Männer beschäftigt; mit den schmutzigen Taschentüchern, die sie sich um das Gesicht gebunden haben, sehen sie wie Banditen aus. Vor ihnen legt gerade eine Gruppe Frauen eine Leiche zu ein paar anderen. Einer der Männer gibt Ditas Gruppe einen Wink, ihren Leichnam auf den Boden zu legen. Die Männer werfen die Leichen in eine riesige Grube, als wären sie Kartoffelsäcke. Dita beugt sich kurz über den Rand der Grube, und bei dem Anblick wird ihr so übel, dass sie sich an einer ihrer Kameradinnen festhalten muss.
»O mein Gott!«
Das riesige Erdloch ist voller Leichen. Die unteren sind verkohlt, die oberen sind ein Durcheinander aus Armen, Köpfen und gelblicher Haut. Ditas Eingeweide rebellieren, aber noch mehr rebellieren ihre tiefsten Überzeugungen.
Mehr sind wir nicht? Ein Klumpen verwesende Materie? Ein Haufen Atome, so wie die eines Weidenbaums oder eines Schuhs?
Selbst die Veteranin, die schon mehrmals hier gewesen ist, sieht verstört aus. Auf dem Rückweg sagt niemand ein Wort. Den Tod so zu erleben stürzt jeden Menschen in tiefe Verwirrung und widerspricht dem, was man bis dahin geglaubt hat: dass das Leben heilig ist. So gesehen, scheint das Leben keinen Wert zu haben. Menschen, die noch ein paar Stunden zuvor gefühlt und gedacht haben, werden hier entsorgt. Vordergründig maskieren sich die Arbeiter, um den Gestank besser zu ertragen. Aber inzwischen hegt Dita die Vermutung, dass die Tücher ihre Gesichter verdecken sollen. Sie schämen sich, die Müllabfuhr für die Menschen zu sein.
Als Dita zurückkommt und ihre Mutter sie mit Blicken fragt, wie es war, schlägt sie die Hände vor das Gesicht. Sie wäre gern allein. Aber ihre Mutter umarmt sie und bleibt bei ihr.
Das Chaos wird von Tag zu Tag schlimmer. Es gibt zwar keine organisierten Arbeitstrupps mehr, aber sie haben den Befehl, den
ganzen Tag in der Nähe ihrer Baracke zu bleiben, für den Fall, dass man sie braucht. Manchmal kommt eine SS
-Wärterin, die beim Gehen die Arme schwingen lässt, ihre gesunden, wohl genährten Beine zeigt und mit schriller Stimme ein paar Namen aufruft. Die betreffenden Frauen müssen mitkommen und in den Entwässerungsgräben helfen oder die freien Stellen in einem Betrieb ausfüllen. Ein paarmal schickt man Dita in eine Werkstatt, in der Löcher in die Gürtel und Koppeln für die Uniformen gestanzt werden. Die Maschinen sind schon alt, und man muss viel Kraft aufwenden, damit der Locher genug Druck auf das Leder ausübt.
Eines Morgens, als der Appell schon fast zu Ende ist, erscheint Volkenrath, die Aufseherin, vor der versammelten Gruppe. Man erkennt sie leicht an ihrer auffälligen Hochsteckfrisur, aus der sich immer ein paar blonde Strähnen lösen. Sie sieht aus wie eine Frau, die in einem teuren Frisiersalon war und sich hinterher in einer Scheune gewälzt hat. Dita hat gehört, dass sie früher Friseurin war, was erklären würde, wieso sie inmitten von all dem Schmutz, den Läusen und dem Typhus von Bergen-Belsen diese Frisur trägt.
Wie immer hat Volkenrath eine finstere Miene aufgesetzt, die selbst ihren Hilfskräften Angst einjagt. Dita geht der Gedanke durch den Kopf, dass aus dieser Frau mit dem mörderischen Glanz in den Augen, hätte Hitler nicht die Macht ergriffen und wäre der Krieg nicht ausgebrochen, eine dieser freundlichen, ein wenig pummeligen Friseurinnen geworden wäre, die den Mädchen die Haare aufdreht und sich freundlich mit ihnen über den neuesten Klatsch unterhält. Ihre Kundinnen, darunter auch deutsche Jüdinnen, würden die Köpfe senken, und sie würde ihnen die Haare schneiden, und keine von ihnen fände etwas dabei, ihren Hals den Händen dieser riesigen Frau mit der Schwäche für fantasievolle Flechtfrisuren auszuliefern. Wenn damals jemand behauptet hätte, dass Elisabeth Volkenrath in ein paar Jahren zur Mörderin werden würde, wären alle entrüstet gewesen. Die gute alte Betty? Die kann doch keiner Fliege etwas zuleide tun!,
hätten sie empört gesagt und verlangt, dass diese Verleumdung sofort zurückgenommen würde. Und womöglich hätten sie damit recht gehabt, aber nun ist es anders gekommen. Wenn jetzt eine der Frauen in Volkenraths Betriebsstätte sich nicht standesgemäß benimmt, legt ihr die harmlose Friseurin einen Strick um den Hals und lässt sie
aufhängen.
Dita ist derart in ihre Gedanken versunken, dass das Geräusch sie trifft wie der Locher in der Lederwerkstatt: »Elisabeth Adlerova!« Das Chaos in der Verwaltung von Bergen-Belsen ist so groß, dass die Deutschen inzwischen wieder die Namen statt der Häftlingsnummern benutzen. Die Stimme der SS
-Aufseherin – autoritär, laut, aggressiv, militärisch, ungeduldig – ertönt erneut und ruft nach … »Elisabeth Adlerova!«
Ditas Mutter war ein wenig abgelenkt. Jetzt macht sie Anstalten, die Reihe zu verlassen, aber Dita ist schneller und löst sich entschlossen aus der Formation. »Adlerova, anwesend.«
Adlerova, anwesend?
Liesl macht große Augen und ist so verblüfft über die Kühnheit ihrer Tochter, dass sie sekundenlang nicht weiß, was sie tun soll. Als sie vortreten und den Wärterinnen die Verwechslung erklären will, heißt es bereits »Wegtreten!«. Das hin und her wogende Meer der Frauen hält Liesl Adlerova auf, und als sich die Menschenansammlung auflöst, ist ihre Tochter bereits in der Baracke, um die Menschen wegzuschaffen, die in den letzten vierundzwanzig Stunden verstorben sind. Liesl bleibt stehen und ist dabei ihren Kameradinnen im Weg, die eine sinnlose Eile an den Tag legen, als hätten sie vergessen, dass sie nirgendwohin können. Kurz darauf erscheint Dita, die mit drei anderen Insassinnen einen Leichnam schleppt. Ihre Mutter, die sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hat und inzwischen allein auf der Lehmpromenade steht, beobachtet verärgert, wie ihre Tochter sich wieder entfernt.
Eine weitere Reise zur letzten Grenze der Menschlichkeit. Wieder beugt sich Dita über die Grube, und wieder ist sie blass, als sie sich aufrichtet. Alle Frauen behaupten, es sei der Gestank, von dem ihnen schlecht wird, aber was sie wirklich verstört, ist der Anblick dieser auf dem Müll entsorgten Menschenleben, ein Bild, an das man sich nicht so leicht gewöhnt. Dita hofft, dass sie sich nie daran gewöhnen wird.
Als sie wieder zur Baracke kommt, steht ihre Mutter immer noch neben der Tür, als hätte sie sich seit dem Appell nicht vom Fleck gerührt. Sie macht ein böses, sogar wütendes Gesicht. »Was sollte das vorhin? Hast du vergessen, dass man mit dem Tod bestraft wird, wenn man sich für eine andere Gefangene ausgibt?«, schreit Liesl sie an.
Dita kann sich nicht erinnern, wann ihre Mutter ihr gegenüber zum
letzten Mal laut geworden ist. Eine Insassin, die gerade vorbeigeht, dreht sich um und starrt sie an, und Dita spürt, wie sie rot wird. Sie fühlt sich ungerecht behandelt, und obwohl sie nicht weinen will, schießen ihr Tränen in die Augen. Nur ihr Stolz lässt sie die Fassung bewahren. Sie nickt und wendet sich ab. Sie erträgt es nicht, dass ihre Mutter sie wie ein Kind behandelt. Das ist ungerecht! Dita hat es getan, weil sie weiß, dass ihre Mutter schwach ist und nicht genug Kraft hat, um einen Leichnam zu schleppen. Eigentlich sollte ihre Mutter doch stolz auf sie sein, stattdessen hat sie sie ausgeschimpft wie seit der Ohrfeige in Prag nicht mehr.
Ich kann es ihr einfach nicht recht machen …
Dita fühlt sich missverstanden. Auch wenn sie in einem Konzentrationslager lebt, unterscheidet sie sich in dieser Hinsicht nicht von Millionen anderen Jugendlichen auf der Welt, die demnächst sechzehn werden. Dabei irrt sie sich: Liesl ist unglaublich stolz auf ihre Tochter, auch wenn sie ihr das nicht sagen wird. In all den Jahren hat sie immer wieder der Gedanke gequält, was für ein Mensch in der Militärdiktatur aus ihrer Tochter werden würde, ohne ausreichende Schulbildung und an Orten, an denen Hass und Gewalt regieren. Ditas großzügiges Handeln hat sie in ihrer Intuition und ihrer Hoffnung bestätigt – sie weiß jetzt, dass aus Dita, sollte sie überleben, ein guter Mensch werden wird.
Aber all das wird sie ihr nicht sagen. Wenn sie Dita in ihrer kopflosen Aktion bestärkt, dann bringt diese womöglich weiter ihr Leben in Gefahr, um ihrer Mutter eine Bestrafung zu ersparen. Als Mutter will sie das unter keinen Umständen für ihre Tochter, denn für Liesl wird es keine Veränderung mehr geben, ob zum Guten oder zum Schlechten. Ihr ist ihr Leben inzwischen gleichgültig, und ihr einziges Glück ist das, was sie in den Augen ihrer Tochter sieht. Aber Dita ist noch zu jung, um das zu verstehen.
Am nächsten Tag kommt eine der Wärterinnen in die Baracke, die Dita insgeheim »Krähengesicht« getauft hat, und befiehlt ihnen, sich draußen aufzustellen. »Alle raus! Und ich meine wirklich alle. Wer nicht aufsteht, kriegt von mir den Gnadenschuss!« Murrend und ohne große Eile setzen sich die Frauen in Bewegung. »Nehmt eure Decken!«
Alle sehen sich an, aber das Rätsel wird gleich gelöst. Die Deutschen bringen sie in das Hauptfrauenlager, um Platz für ein neues Kontingent von Häftlingen zu schaffen, das gerade eingetroffen ist. Die
Insassinnen im Hauptlager sind genauso unterernährt wie sie, und das Wasser ist knapp, weshalb man es nur als Trinkwasser benutzen darf. Niemand darf irgendetwas waschen. Das Chaos ist hier so groß, dass manche Häftlinge nicht einmal ihre gestreiften Uniformen tragen. Andere ziehen Westen oder ein anderes Kleidungsstück über das Häftlingsoberteil. Vor lauter Schmutz ist die Haut der Frauen so dunkel, dass sich manchmal schwer sagen lässt, ob etwas ein Streifen Stoff oder schwarze, verkrustete Haut ist. Ein SS
-Mann beaufsichtigt ein paar Frauen, die mit zusammengebissenen Zähnen im Entwässerungsgraben arbeiten; ihre Hände verschmelzen mit den Griffen ihrer Schaufeln.
Die Baracke ist überfüllt, hat jedoch den kleinen Vorteil, dass es hier wie in Auschwitz Stockbetten gibt und damit auch Strohsäcke – sie sind voller Bettwanzen, aber wenigstens bohren sich beim Liegen nicht die eigenen Knochen in einen hinein. Viele Frauen liegen in ihren Betten. Die meisten sind krank und sind seither nicht mehr aufgestanden. Andere spielen krank, um ihre Ruhe zu haben. Die Wärterinnen nähern sich ihnen nicht, aus Angst, sich mit Typhus anzustecken.
Dita und ihre Mutter setzen sich auf die leere Pritsche, die sie miteinander teilen werden. Ditas Mutter ist sehr müde, aber Dita ist rastlos und steht wieder auf, um das Lager zu erkunden. Viel gibt es nicht zu sehen, nur Baracken und Zäune. Manche Gruppen sind noch imstande, sich angeregt zu unterhalten, aber andere sind sogar zum Reden zu kraftlos. Sie reagieren nicht mehr auf Blicke. Sie haben aufgegeben.
In diesem Augenblick sieht Dita neben einer der Baracken ein Mädchen, das die gestreifte Sträflingsuniform trägt und sich ein weißes Taschentuch um den Kopf gebunden hat – überraschend weiß in diesem gigantischen Misthaufen. Dita kneift die Augen zusammen, weil sie glaubt, sie hätte nicht richtig gesehen. Aber als sie die Augen wieder aufmacht, war das Mädchen keine Täuschung. Sie ist real.
»Margit!« Dita beginnt zu laufen und schreit laut Margits Namen mit einer Kraft, von der sie nicht dachte, dass sie sie noch hätte. Ihre Freundin hebt den Kopf und macht Anstalten aufzustehen, aber sie wird von Dita umgeworfen, und die beiden rollen lachend über den Boden. Dann fassen sie sich an den Unterarmen und sehen sich an.
Soweit man unter diesen Umständen von Glück reden kann, sind die beiden in diesem Augenblick glücklich. Sie fassen sich an den Händen und rennen zu Ditas Mutter. Als Margit Liesl sieht, läuft sie auf sie zu und fällt ihr um den Hals, obwohl sie das noch nie getan hat. Sie klammert sich an Liesl fest, so lange sehnt sie sich schon nach einer Schulter zum Ausweinen.
Als sie wieder sprechen kann, erzählt Margit ihnen, wie schlimm die Selektion im Familienlager war; ihre Mutter und ihre Schwester sind beide bei den zum Tode Verurteilten gelandet. Mit der Präzision eines Menschen, der dieselbe Szene immer wieder im Geist durchlebt hat, schildert sie, wie die beiden zu den Schwachen gehen mussten. »Bis die Selektion vorbei war, konnte ich sie die ganze Zeit sehen. Sie waren ganz ruhig und hielten sich an den Händen. Dann musste die kleinere Gruppe mit den gesunden Frauen, zu denen ich gehörte, gehen. Ich wollte nicht, aber ich wurde von den vielen Frauen zur Tür hin gedrückt. Helga und meine Mutter saßen hinter dem Kamin in der Baracke, zwischen lauter alten Frauen und Kindern, und wurden immer kleiner. Sie haben mir nachgesehen. Und weißt du was, Ditinka? Während sie mir nachgesehen haben, haben sie gelächelt! Kannst du dir das vorstellen? Sie wussten, dass sie sterben würden, aber sie haben gelächelt.«
Bei der Erinnerung an diesen Augenblick, der sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hat, schüttelt Margit den Kopf, als könnte sie es nicht glauben. »Ob sie wohl gewusst haben, dass es praktisch ein Todesurteil war, zu dieser Gruppe aus Alten, Kranken und Kindern zu gehören? Vielleicht wussten sie es, aber sie haben sich für mich gefreut, weil ich zu der Gruppe gehörte, die eine Überlebenschance hatte.«
Dita schaudert, und Liesl streicht Margit über das Haar. Die beiden fragen sie nach ihrem Vater, seit jenem Morgen in BII
b haben sie ihn nicht mehr gesehen.
»Ich bin beinahe froh, dass ich nicht weiß, was aus ihm geworden ist.« Vielleicht ist er tot, vielleicht auch nicht; so oder so, die Ungewissheit begleitet sie. Margit ist zwar schon sechzehn, aber Frau Adlerova sagt, dass sie ihre Decke zu ihnen in die Baracke bringen soll. Es gibt so wenig Kontrollen, dass es niemandem auffallen wird, wenn sie zu dritt auf der Pritsche schlafen.
»Das wird aber unbequem für euch«, meint Margit.
»Aber dafür sind wir zusammen.« Liesls Antwort duldet keinen Widerspruch. Liesl Adlerova kümmert sich um Margit wie um eine zweite Tochter. Für Dita ist Margit die große Schwester, die sie sich immer gewünscht hat. Im Familienlager haben viele Menschen sie ohnehin für Schwestern gehalten, weil sie beide dunkelhaarig sind und ein hübsches Lächeln mit weit auseinanderstehenden Zähnen haben, und das hat ihnen damals gefallen.
Die beiden Mädchen mustern einander verstohlen. Beide sehen magerer und mitgenommener aus als bei ihrem letzten Zusammensein, aber keine von ihnen sagt etwas darüber. Sie heitern sich gegenseitig auf. Sie reden, obwohl es nicht viel zu erzählen gibt. Chaos und Hunger, völlige Abstumpfung, Krankheit und Seuchen. Nichts Neues.
Ein paar Bettreihen von ihnen entfernt liegen zwei echte Schwestern, die an Typhus erkrankt sind und bereits dabei sind, den Kampf gegen die Krankheit zu verlieren. Die jüngere Schwester, Anne, zittert vor Schüttelfrost. Margot, ihrer älteren Schwester, geht es noch schlechter. Sie liegt reglos auf der unteren Pritsche, ihr Atem, der immer schwächer wird, ist ihre letzte Verbindung zur Welt. Wenn Dita zu dem Mädchen hinübergehen würde, das noch am Leben ist, würde sie feststellen, dass sie viel Ähnlichkeit miteinander haben: Beide sind junge Mädchen mit hübschem Lächeln, dunklem Haar und verträumtem Blick. Genau wie Dita war Anne ein lebhaftes, redseliges Mädchen, ein bisschen rebellisch und mit viel Fantasie. Hinter ihrem widerspenstigen und selbstbewussten Auftreten hatte sie auch eine nachdenkliche, melancholische Seite, aber das war ihr Geheimnis. Beide Schwestern sind im Oktober 1944 nach Bergen-Belsen gekommen, nachdem sie von Amsterdam nach Auschwitz deportiert worden waren. Ihr Verbrechen, wie das von ihnen allen, besteht darin, dass sie Jüdinnen sind. Fünf Monate sind zu lange, um dem Tod in diesem Loch zu entkommen. Der Typhus hatte vor ihrer Jugend keinen Respekt.
Anne stirbt allein auf ihrer Pritsche, einen Tag nach ihrer Schwester. Ihre sterblichen Überreste werden für immer in dem Massengrab von Bergen-Belsen bleiben. Aber Anne hat etwas getan, das am Ende zu einem kleinen Wunder werden wird: Ihr Gedächtnis wird wie das ihrer Schwester noch viele Jahre nach ihrem Tod lebendig bleiben. In der
geheimen Wohnung in Amsterdam, in der die beiden Mädchen sich zusammen mit ihrer Familie versteckten, hat Anne zwei Jahre lang ein Tagebuch geführt, in dem sie ihr Leben im Hinterhaus beschreibt – ein paar Räume hinter dem ehemaligen Büro ihres Vaters, die verrammelt und zu einem Versteck umfunktioniert wurden. Zwei Jahre lang hat die Familie dort gelebt, mit der Hilfe von Freunden, die ihnen Essen brachten, zusammen mit der Familie van Pels und Fritz Pfeffer. Kurz nach dem Umzug in ihr Versteck haben sie gemeinsam Annes Geburtstag gefeiert, und unter den Geschenken befand sich auch ein kleines Notizbuch. Weil Anne in dem Versteck keine Freundin hatte, der sie sich mitteilen konnte, vertraute sie sich ihrem Notizbuch an, das sie Kitty taufte. Sie kam nicht auf die Idee, dieser Skizze ihres Lebens im Hinterhaus einen Titel zu geben, aber dafür sollte die Nachwelt sorgen. Das Notizbuch ging als Das Tagebuch der Anne Frank
in die Geschichte ein.