Kapitel 32
Das Schaufenster des Hedva-Kaufhauses in der Na-příkopě-Straße wirft das Bild einer Fremden zurück: eine junge Frau, die ein langes, blaues Kleid und einen schlichten grauen Filzhut mit einem Band trägt. Dita betrachtet sich aufmerksam, aber sie erkennt sich immer noch nicht wieder. Sie kann nicht fassen, dass sie die Fremde ist, dass das ihr Spiegelbild ist.
An dem Tag, als die Deutschen in Prag einmarschierten, war sie eine Neunjährige, die an der Hand ihrer Mutter die Straße entlangging; jetzt ist sie eine alleinstehende junge Frau von sechzehn Jahren. Wenn sie sich an die Vibration der Panzer erinnert, die durch die Stadt fuhren, zittert sie immer noch. Das alles ist jetzt vorbei, aber in ihrem Kopf ist nichts zu Ende. Es wird niemals enden.
Nach dem Siegesjubel und den Feierlichkeiten zum Ende des Krieges, nach den von den alliierten Streitkräften organisierten Bällen und den prahlerischen Ansprachen zeigt sich die Nachkriegsrealität, wie sie ist: stumm, hart und ohne Getöse. Die Musiker sind gegangen, die Paraden sind vorbei, und die pompösen Ansprachen sind verklungen. Die Realität des Friedens ist, dass vor ihr ein zerstörtes Land liegt. Sie hat weder Eltern noch Geschwister, sie hat kein Zuhause, keine Schulbildung; keine Besitztümer, abgesehen von den Kleidern, die sie von der Fürsorge bekommen hat; und keinerlei Mittel zum Überleben außer dem kleinen Bezugsschein für Lebensmittel, den man ihr nach einem mühseligen Papierkrieg zugestanden hat. In jener ersten Nacht in Prag schläft sie in einer Herberge, die für die Heimkehrer eingerichtet wurde.
Alles, was sie hat, ist ein Stück Papier, auf das jemand eine Adresse gekritzelt hat. Sie hat die Adresse so oft gelesen, dass sie sie auswendig kennt. Der Krieg verändert alles. Der Frieden aber auch. Was wird von der schwesterlichen Beziehung, die sie und Margit in den Lagern hatten, noch übrig sein, jetzt, da der Krieg vorbei ist? Margit und ihr Vater dachten, dass Dita und ihre Mutter einige Tage nach ihnen einen Zug nehmen würden, aber durch die Krankheit ihrer Mutter hat sich ihre Heimkehr um Wochen verzögert. Margit könnte inzwischen neue Freunde gefunden haben. Vielleicht will sie ja alles vergessen, was in der Vergangenheit geschehen ist, so wie Renée, die ihr von Weitem zugewinkt hat, ohne stehen zu bleiben.
Die Adresse, die Margits Vater aufgeschrieben hat, gehört nichtjüdischen Freunden, mit denen er jahrelang keinen Kontakt mehr hatte. Tatsächlich wussten Margit und ihr Vater beim Aufbruch in Bergen-Belsen nicht, wo sie hinsollten oder was sie mit ihrem neuen Leben anfangen würden. Sie wussten nicht einmal, ob jene Freunde nach all den Kriegsjahren noch am gleichen Ort wohnten oder noch etwas mit ihnen zu tun haben wollten. Der Zettel in Ditas Hand ist schon ganz zerknüllt, und die Schrift wird langsam unleserlich.
Auf der Suche nach der Adresse wandert Dita durch den nördlichen Teil der Stadt. Sie fragt die Leute und versucht ihren Anweisungen zu folgen, durch Straßen, in denen sie noch nie gewesen ist. Sie kennt sich in Prag nicht mehr aus. Die Stadt erscheint ihr ungeheuer groß und wie ein Labyrinth. Wenn man sich klein fühlt, kommt einem die Welt riesig vor.
Endlich kommt sie zu dem Platz mit den drei kaputten Bänken, nach dem sie Ausschau halten sollte; die Nummer 16 auf der Straße, die auf dem Zettel steht, ist ganz in der Nähe. Sie betritt den Haupteingang und klingelt bei Apartment 1 B. Eine leicht übergewichtige, blonde Frau öffnet ihr die Tür. Sie ist keine Jüdin, dicke Jüdinnen sind eine Spezies, die ausgestorben ist.
»Verzeihen Sie, aber wohnen hier Herr Barnai und seine Tochter Margit?«
»Nein, sie wohnen nicht hier. Sie sind aus Prag weggezogen.«
Dita nickt. Sie macht den beiden keinen Vorwurf. Vielleicht haben sie ja gewartet, aber Dita hat so lange gebraucht, um nach Prag zurückzukehren, dass es jetzt zu spät ist. Nach allem, was passiert ist, genügt es nicht, einfach nur eine neue Seite aufzuschlagen. Man muss das Buch zuklappen und ein neues anfangen.
»Aber bleiben Sie doch nicht da draußen stehen«, sagt die Frau. »Kommen Sie herein, und essen Sie ein Stück von dem Kuchen, den ich gerade gebacken habe.«
»Nein, danke, bitte machen Sie sich keine Umstände. Eigentlich werde ich erwartet. Ein Familientreffen, wissen Sie. Ich werde jetzt gehen. Ein andermal vielleicht …«
Dita wendet sich ab, um so schnell wie möglich zu gehen und ebenfalls neu anzufangen. Aber die Frau ruft ihr nach. »Sie sind Edita … Edita Adlerova.«
Und Dita, die einen Fuß bereits auf der Treppe hat, bleibt stehen. »Sie wissen, wer ich bin?«
Die Frau nickt. »Ich habe Sie erwartet. Ich habe etwas für Sie.«
Die Frau stellt Dita ihrem Ehemann vor und bringt ihr ein riesiges Stück Blaubeerkuchen und einen Umschlag, auf dem ihr Name steht. Die Leute sind so nett, dass Dita den Umschlag vor ihnen öffnet, ohne zu zögern. Darin liegen zwei Zugtickets und ein Brief in Margits kindlicher Handschrift:
Liebe Ditinka, wir erwarten euch in Teplice.
Kommt bitte gleich zu uns. Einen dicken Kuss sendet dir deine Schwester Margit.
Ein Mensch, der irgendwo auf einen wartet, ist wie ein Streichholz, das man in der nächtlichen Dunkelheit auf dem Land anzündet. Es mag zwar nicht alles erleuchten, aber es zeigt einem den Weg nach Hause.
Während sie essen, erzählt das Ehepaar Dita, dass Herr Barnai Arbeit in Teplice gefunden hat und dass er dort mit Margit wohnt. Sie erzählen ihr auch, dass Margit ganze Nachmittage lang von ihr gesprochen hat.
Bevor Dita nach Teplice fährt, muss sie sich noch richtige Papiere besorgen, wie man es ihr im Büro des Judenrats gesagt hat. In aller Frühe steht sie deshalb am nächsten Morgen in der langen Schlange vor dem Amt, das die Ausweise ausstellt. Wieder einmal muss sie stundenlang anstehen. Aber es ist nicht so wie in Auschwitz, denn hier machen die Leute Pläne, während sie warten. Es gibt auch einige, die wütend sind, sogar wütender als die, die in knietiefem Schnee auf einen wässrigen Teller Suppe oder ein Stück Brot gewartet haben. Jetzt ärgern sich die Wartenden über die Verspätung oder weil man sie falsch informiert hat oder sie so viele Papiere brauchen. Dita lächelt in sich hinein. Die Normalität ist wiederhergestellt, wenn sich die Leute über Kleinigkeiten aufregen.
Jemand stellt sich bei der Schlange rechts von ihr an. Als sie einen Blick riskiert, erkennt sie ein vertrautes Gesicht – es ist einer der jungen Lehrer aus dem Familienlager. Auch er scheint überrascht, sie hier zu sehen. »Die Bibliothekarin mit den dünnen Beinen!«, ruft er aus.
Es ist Ota Keller, der junge Mann, der als Kommunist galt und der sich für seine Schüler immer Geschichten über Galiläa ausgedacht hat. Dita erkennt sofort den ironischen Blick voller Intelligenz, der sie immer ein bisschen eingeschüchtert hat.
Jetzt hingegen spürt sie eine besondere Wärme in den Augen des jungen Lehrers. Er erinnert sich nicht nur daran, dass sie in einer kritischen Phase in ihrer beider Leben im gleichen Lager war wie er, sondern entdeckt in ihr auch einen Faden, der sie miteinander verbindet. In Block 31 haben sie kaum miteinander geredet. Tatsächlich hat niemand sie einander vorgestellt; sie waren zwei Menschen, die sich scheinbar nie getroffen haben. Aber als sie einander in Prag begegnen, ist es, als würden sich zwei alte Freunde wiedersehen.
Ota sieht sie lächelnd an. Seine lebenslustigen, ein wenig verschmitzten Augen sagen ihr: Ich bin froh, dass du noch am Leben bist; ich bin froh, dass ich dich wiedergefunden habe. Auch Dita lächelt ihn an, ohne wirklich zu wissen, warum. Seine gute Laune steckt sie sofort an.
»Ich habe Arbeit als Buchhalter in einer Fabrik gefunden, und ich habe eine bescheidene Unterkunft … Aber wenn man überlegt, wo wir herkommen, ist es der reinste Palast!«
Dita lächelt.
»Allerdings hoffe ich, dass ich noch etwas Besseres finde. Man hat mir eine Stelle als Englischübersetzer angeboten.«
Die Schlange ist lang, aber Dita kommt sie kurz vor. Sie reden ununterbrochen, ohne irgendwelche peinlichen Pausen, und mit dem Vertrauen, das zwischen alten Freunden herrscht. Ota erzählt ihr von seinem Vater, dem seriösen Geschäftsmann, der immer Sänger werden wollte.
»Er hatte eine sehr schöne Stimme«, erklärt er mit stolzem Lächeln. »1941 hat man ihm seine Fabrik weggenommen und ihn sogar ins Gefängnis geworfen. Später wurden wir dann alle nach Theresienstadt deportiert. Und von dort aus ins Familienlager. Bei der Selektion im Juli 1944, als das Lager BII b aufgelöst wurde, hat er es nicht geschafft.« Dem so resoluten und gesprächigen Ota versagt kurz die Stimme, aber es scheint ihn nicht zu kümmern, dass Dita seine feuchten Augen bemerkt. »Nachts bilde ich mir manchmal ein, ihn singen zu hören.«
Und wenn einer von ihnen den Blick abwendet und sich an einen schwierigen oder schmerzlichen Augenblick aus jenen Jahren erinnert, blickt auch der andere dorthin, wo wir nur Menschen hinschauen lassen, denen wir vollkommen vertrauen; Menschen, die uns lachen und weinen gesehen haben. Gemeinsam lassen sie die Momente Revue passieren, die sie für immer geprägt haben. Sie sind so jung, dass die Gespräche über jene Jahre Gespräche über ihr ganzes Leben sind.
»Was mag wohl aus Mengele geworden sein? Haben sie ihn gehängt?«, fragt Dita.
»Noch nicht, aber sie sind ihm auf den Fersen.«
»Meinst du, sie schnappen ihn?«
»Natürlich werden sie ihn schnappen. Ein halbes Dutzend Armeen ist ihm auf den Fersen. Sie werden ihn festnehmen und vor Gericht stellen.«
»Ich hoffe, sie hängen ihn ohne Umweg auf, er ist ein Verbrecher.«
»Nein, Dita. Er muss einen fairen Prozess bekommen.«
»Wozu Zeit mit Formalitäten verschwenden?«
»Weil wir besser sind als die.«
»Das hat Fredy Hirsch auch gesagt!«
»Hirsch …«
»Ich vermisse ihn so sehr.«
Dann ist sie an der Reihe, und am Schalter werden alle Formalitäten erledigt. Das war’s. Sie sind immer noch Fremde füreinander. Das ist der Moment, in dem man sich gegenseitig Glück wünscht und sich verabschiedet. Aber Ota will wissen, wo sie jetzt hingeht. Sie sagt, dass sie noch zum Büro der Jüdischen Gemeinde muss, um zu fragen, ob es wahr ist, was man ihr gesagt hat: dass sie eine kleine Waisenrente beantragen kann.
Ota fragt, ob sie etwas dagegen hat, dass er sie dorthin begleitet. »Es liegt auf meinem Weg«, sagt er. Es ist eine Ausrede, um mit ihr zusammenzubleiben, aber eine Lüge ist es nicht. Denn Ditas Weg ist bereits ein Teil von seinem.
Ein paar Tage später fegt Margit Barnai gerade in Teplice, das ein paar Kilometer von Prag entfernt liegt, den Eingang vor ihrer Wohnungstür. Dabei verliert sie sich in Tagträumen von einem jungen Mann, der mit einem Fahrrad Bestellungen ausliefert und jedes Mal fröhlich klingelt, wenn er an ihr vorbeifährt. Vielleicht wäre es ja an der Zeit, ihrem Haar am Morgen etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen und ein neues Band hineinzuknüpfen. Plötzlich nimmt sie aus dem Augenwinkel den Schatten von jemandem wahr, der durch die Tür tritt.
»Du bist aber dick geworden!«, ruft die Frau.
In einem ersten Impuls will Margit der unhöflichen Nachbarin eine unfreundliche Antwort geben. Aber dann fällt ihr beinahe der Besen aus der Hand. Es ist Ditas Stimme.
Margit ist die Ältere der beiden, aber sie hat sich immer als die jüngere Schwester gefühlt. Sie wirft sich in Ditas Arme, wie es kleine Kinder tun – ohne Rückhalt und ohne sich um zu viel Schwung zu kümmern.
»Wir werden noch die Treppe runterfallen!«, sagt Dita lachend.
»Was macht das schon, solange wir zusammen sind!«
Und es ist wahr, zum ersten Mal ist etwas wirklich wahr. Sie haben auf Dita gewartet.