Epilog
Ota war zu einem besonderen Freund geworden, der Dita nachmittags mit dem Zug besuchte, wenn sie nicht ihren Gelegenheitsjobs nachging. Sie konnte ihre Arbeit mit dem Unterricht vereinbaren, den sie in der Schule in Teplice nahm, wo sie und Margit einen Teil von dem nachholten, was sie versäumt hatten. Soweit das möglich war.
Teplice ist ein alter Kurort, der berühmt für seine Quellen ist. Dita hatte endlich ihren Berghof gefunden. Es gab hier zwar keine Alpen wie im Zauberberg, aber die Böhmisch-Mährische Höhe war nicht weit. Sie bummelte gern durch die Straßen mit dem geometrischen Pflaster, auch wenn diese wunderschöne Stadt mit ihren herrschaftlichen Gebäuden im Krieg schwer gelitten hatte. Die prächtige Synagoge war abgebrannt, und ihre verkohlten Ruinen waren ein Mahnmal jener verbrannten Jahre.
An den Samstagen begleitete Ota sie auf ihren Spaziergängen. Er redete von tausend Dingen. Er war ein junger Mann mit unersättlicher Neugier, er interessierte sich für alles. Manchmal beklagte er sich ein wenig, weil er verschiedene Kombinationen aus Zug- und Buslinien nehmen musste, um die achtzig Kilometer zwischen Prag und Teplice zu überwinden. Aber seine Klagen waren eher das zufriedene Schnurren eines Katers.
Es waren ganze Monate voller angenehmer Spaziergänge über diese Plätze, die nach und nach ihre Blumenkübel zurückeroberten und Teplice wieder seine reizvolle Atmosphäre einer Thermalstadt zurückgaben. Auf diesen Spaziergängen wurde aus Ota und Dita nach und nach ein Paar. Ein Jahr nach ihrer Begegnung in der Schlange vor dem Passamt sagte Ota etwas zu Dita, das alles verändern sollte: »Wieso kommst du nicht nach Prag? Ich kann dich nicht aus der Ferne lieben!«
Zu diesem Zeitpunkt hatten sie einander bereits ihr ganzes Leben erzählt. Jetzt war der Augenblick gekommen, noch einmal ganz neu anzufangen und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Ota und Dita heirateten in Prag, und nach einem aufreibenden Papierkrieg gelang es Ota, sich die Fabrik seines Vaters, die Damenunterwäsche herstellte, zurückzuholen und die Produktion als ihr Geschäftsführer wieder in Gang zu bringen. Es war ein aufregendes Projekt, denn in gewisser Weise konnte Ota das Rad der Zeit so zurückdrehen. Er vermochte zwar nicht die Toten zurückzubringen oder die Narben zu tilgen, aber zumindest konnte er so in gewisser Weise in das Prag des Jahres 1939 zurückkehren, auch wenn Ota sich nicht ganz sicher war, ob er Geschäftsmann sein wollte. Wie sein Vater zog er Opernpartituren den Geschäftsbilanzen vor, und die Sprache der Dichter war ihm lieber als die der Anwälte.
Aber ihm blieb kaum Zeit, um unter seinem Dasein als Geschäftsmann zu leiden. Die Spuren der Nazis waren in den Straßen von Prag noch nicht verschwunden, als die Sowjets kamen und alles niedertrampelten. In dem schändlichen Starrsinn, mit dem die Geschichte sich wiederholt, wurde die Fabrik erneut konfisziert. Diesmal geschah es nicht im Namen des Dritten Reiches, sondern in dem der Kommunistischen Partei.
Wieder standen sie vor dem Nichts. Ota wollte nicht aufgeben und Dita genauso wenig. Sie waren beide dafür gemacht, gegen den Strom zu schwimmen. Dank seiner Kenntnisse der englischen Sprache und der Literatur fand Ota Arbeit im Kulturministerium, wo er darüber entschied, welche neueren englischsprachigen Publikationen interessant genug waren, um ins Tschechische übersetzt zu werden. Er war der einzige Mitarbeiter seines Dienstgrades, der nicht der Kommunistischen Partei angehörte. Zu jener Zeit waren viele vom Leninismus erfüllt. Aber Ota konnte niemand etwas erzählen, er wusste mehr über den Marxismus als alle anderen. Er hatte mehr gelesen als alle anderen. Und er wusste besser als jeder andere, dass der Kommunismus ein schöner Weg war, der im Verderben endete. Es gab Intrigen gegen ihn, und man beschuldigte ihn, ein Feind der Partei zu sein. Die Lage wurde zunehmend schwierig. 1949 beschlossen Ota und Dita, nach Israel auszuwandern und dort von vorne anzufangen. Endlich würden sie Fredy Hirschs Traum wahr werden lassen.
In Israel arbeiteten sie in einem Kibbuz, wo Dita ihren Schulabschluss machte. Ausgerechnet hier trafen sie einen weiteren alten Bekannten aus Block 31 wieder, Avi Ofir, der damals eine armselige Baracke voller inhaftierter Kinder in einen fröhlichen Chor verwandelt hatte. Er bot den beiden Arbeit in der Hadassim-Schule bei Netanya an. Dort arbeiteten Ota und Dita als Englischlehrer in einem der angesehensten Schulzentren Israels. Die Schule nahm viele Kinder auf, die mit der Immigrantenwelle nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ins Land gekommen waren. Später wurden in der Schule Kinder aus problematischen Familien unterrichtet sowie Schüler, die Gefahr liefen, sozial ausgegrenzt zu werden. In der Schule gab es immer Lehrer, die sich besonders intensiv mit diesen Fragen befassten, aber nur wenige waren so sensibel für das Leiden anderer wie Ota und Dita.
Das Ehepaar bekam drei Kinder und vier Enkelkinder. Ota, der große Geschichtenerzähler aus Block 31, schrieb mehrere Bücher. In einem davon, Die bemalte Wand, beschreibt er in fiktiver Form die Erlebnisse mehrerer Menschen im Familienlager BII b. Dita und Ota gingen fünfundfünfzig Jahre lang gemeinsam durch dick und dünn. Sie hörten niemals auf, einander zu lieben und zu unterstützen. Sie teilten Bücher, einen unzerstörbaren Sinn für Humor und ein ganzes Leben.
Gemeinsam wurden sie alt. Das eherne Band zwischen ihnen, geschmiedet in den schlimmsten Zeiten, die ein Mensch erleben kann, konnte nur der Tod auflösen.