Kapitel 2
»Früher nannte man sie Pigs«, murmelte Peter Lucca.
»Schweine? Wen?«, brummte Greg Niosi ohne sonderliches Interesse.
»Die Cops, du Idiot!«
»Woher weißt du das? Du bist doch noch ...«
»Ein Greenhorn?«, fauchte der Junior seinen Nebenmann an. Peter war schlank und dunkelhaarig, hatte buschige schwarze Augenbrauen, wie sie für alle männlichen Mitglieder der Familie Lucca typisch waren. Er ließ das Fernglas sinken und wandte sich Niosi zu. »Ich will dir mal was sagen. Ich bin dreiunddreißig, und ich habe mehr auf dem Kasten als jeder andere, der in Frage käme. Mein Alter weiß das. Deshalb könnte ich sofort, von jetzt auf gleich, den Laden übernehmen.«
Tja, und warum tust du's dann nicht?, hätte Greg Niosi am liebsten gekontert. Aber er ließ es. Immerhin gehörte es zu seinen Aufgaben, als wandelnde Deponie für Peters Wortmüll zu dienen – und als Abpraller für Aggressionen aller Art. Dazu gehörte es auch, sich gelegentlich als Idiot bezeichnen zu lassen.
Er stand gemeinsam mit dem Sohn des Bosses am Fenster und blieb locker. Meistens reagierte Peter gereizt auf kritische Bemerkungen. Wenn er einigermaßen gut drauf war, pflegte er zu antworten, er müsse Rücksicht auf seinen Daddy nehmen. Der fühle sich mit seinen zweiundfünfzig Jahren noch nicht mal ansatzweise so, als würde er zum alten Eisen gehören. Und natürlich stammte die Weisheit mit den Pigs von Lucca senior – oder von seinem Bruder. Die beiden wähnten sich zunehmend verpflichtet, ihr Wissen an die Nachwelt weiterzugeben. Hauptsächlich waren das die Storys aus der angeblich guten alten Zeit, als die Mafia noch eine wirklich ehrenwerte und mächtige Gesellschaft gewesen war.
»Sorry«, sagte Niosi beschwichtigend. »Ich meinte doch bloß, dass du noch zu jung bist, um die Schweine-Zeit miterlebt zu haben. Was ich sagen will, ist, wir fortschrittlichen Leute von heute behandeln die Cops etwas freundlicher. Man weiß ja nie, wann man mal auf einen von denen angewiesen ist.« Niosi legte dar Kopf schief. »Worauf wolltest du überhaupt anspielen?«
»Mit den Pigs?«, entgegnete Lucca zornig. »Die verfluchten Hunde waren schneller als wir.«
Niosi schüttelte verständnislos den Kopf. »Was regst du dich auf? Sie haben uns Resnik nur deshalb weggeschnappt, weil er es so wollte. Er hat nun mal geahnt, was auf ihn zukam.«
»Weil er eine geborene Ratte ist. Ein gottverdammter Verräter. Die wittern so was.«
»Stimmt. Dass er noch lebt, verdankt er aber nicht den Cops, sondern unseren schlimmsten Feinden vom FBI. Trevellian und Tucker.«
Peter Lucca knurrte unwillig. »Wie auch immer.« Er holte schnaufend Luft. »Die Anspielungen auf Lebensjahre und Erfahrung kannst du dir jedenfalls sparen. Im Übrigen muss ich auf den Alten Rücksicht nehmen. Wenn du dem sagst, er gehört zum alten Eisen, geht er dir an die Gurgel. Das weißt du doch.«
Greg Niosi, ein untersetzter Mann mit kantigem Schädel und kurzem schwarzem Haar, brummte gelangweilt. Statt eine Antwort zu geben, benutzte er sein eigenes Fernglas, um erneut zu dem Industriegelände am Newtown Creek zu spähen. Niosi trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug, für Vollmitglieder einer Familie wie den Luccas fast schon eine Uniform, auf jeden Fall aber Tradition. Er war Peter Luccas Leibwächter. Das Wort wollte der Junior allerdings nicht hören. Er könne auf sich selbst aufpassen, lautete sein bissiger Kommentar dazu. Für ihn war Niosi ein ständiger Begleiter, eher schon eine Art Consigliere, obwohl ein solcher persönlicher Berater nur dem eigentlichen Boss zustand.
Vier weitere Männer saßen hinter ihnen an einem langen Tisch. Sie blätterten in Illustrierten und nippten an Kaffee, Tee oder Mineralwasser. Zusammen mit Niosi und Lucca bildeten sie eine Eingreifreserve, die nur im äußersten Notfall aktiv werden würde.
Sie befanden sich im Dachgeschoss des Metropolitan Hotels, eines zehnstöckigen Gebäudes, drei Straßenzüge nördlich des Newtown Creek. Das Hochhaus ragte im Dreieck zwischen Greenpoint Avenue und Long Island Expressway auf. Greg Niosi hatte den Konferenzraum gebucht, weil dessen Fenster einen hervorragenden Ausblick auf die ehemalige Shipping Company am Queens-Ufer der Industriekloake boten.
»Scheint alles glatt zu laufen«, murmelte er, das Fernglas an den Augen. »Diesmal kommen sie uns garantiert nicht in die Quere.«
»Die Pigs?«, gluckste Peter Lucca und grinste, während er sein Glas ebenfalls wieder anhob.
Niosi ging nicht darauf ein. »Vazquez ist ein hervorragender Mann«, murmelte er, ohne seine Beobachtung zu unterbrechen. »Bei ihm hatte ich von Anfang an ein gutes Gefühl. Er wird das Geschäft perfekt abwickeln. Die Million, die du ihm anvertraut hast, ist bei ihm in besten Händen. Verlass dich darauf.«
»Na, klar.« Der Junior-Boss nickte und lobte sich selbst: »Ich habe ihn schließlich ins Boot geholt, und ich wusste, was ich tat. Ein gutes Gefühl allein reicht nicht, Greg. Ich kann mich auf meine Menschenkenntnis verlassen, das ist das eine. Das andere ist, ich weiß, wann sich eine Investition lohnt und wann nicht. Ich denke, es wird nicht lange dauern, und wir machen Vazquez zum Vollmitglied.«
»Einen Latino? Bist du verrückt? Was wird dein Dad dazu sagen? Und Onkel Rafe?«
Peter Lucca verzog das Gesicht. Es gefiel ihm nicht, wenn Greg Niosi seine Kenntnis der familiären Verhältnisse zu deutlich aussprach. Man musste Distanz zu seinen Untergebenen halten, auch zu einem Leibwächter und persönlichen Berater. Das war es, was er, Peter, von seinem Vater gelernt hatte. Uncle Rafe kannte sich zwar auch aus, verkörperte aber nicht annähernd die Autorität eines Salvatore Lucca.
»Überlass das mir«, erklärte der Sohn des Bosses daher. »Ich sage dir, es wird nicht mehr lange dauern, dann treffe ich die Entscheidungen. Zumindest einen Teil.«
Greg Niosi sagte nichts dazu, dachte sich nur seinen Teil. Für ihn konnte es gut ausgehen, auf der Seite des Juniors zu stehen. Andererseits musste er höllisch aufpassen, falls der Junge Mist baute und bei seinem Alten in Ungnade fiel. In einem solchen Fall kam es darauf an, sich rechtzeitig neu zu orientieren.
»Wahrscheinlich leben wir in einem ständigen Wechsel«, philosophierte Peter. »Wenn irgendwas erledigt ist oder sich selbst abschafft, so, wie unser Freund Resnik, ist das Neue, Bessere schon zur Stelle – wie Vazquez in unserem Fall. Ich glaube, es ist alles ganz einfach. Im Leben kommt es so, wie es kommen muss. Fertig, aus. Unsereiner muss nur wissen, wann er den richtigen Schalter umlegen muss. Dann kannst du deinen persönlichen Part so gestalten, wie du es für richtig ...«
Musik unterbrach ihn. In seiner Jackentasche ertönte eine sizilianische Tarantella. Er zog das Smartphone heraus und stoppte den rasanten Rhythmus, indem er die Empfangstaste drückte.
Greg Niosi war dem Anrufer, wer er auch sein mochte, zutiefst dankbar, bewahrte er ihn doch vor einer von Peters endlos langen Betrachtungen über Gott und die Welt und die Rolle, die er selbst darin spielte – natürlich an führender Stelle.
Die buschigen Augenbrauen des Juniors bildeten einen steilen Aufwärtswinkel, während er dem Anrufer zuhörte. Besorgnis zeichnete sich in seinem Gesicht ab.
»In Ordnung, danke«, sagte er schließlich, hart und entschlossen. »Gute Arbeit, Armando. Ich gebe das sofort weiter.«
Greg Niosi sah den Junior fragend an, während dieser auf dem Tastenfeld seines Smartphones herumtippte. Armando Brancale war Unterboss, in der Familienhierarchie der Luccas gleich nach Peter einzuordnen. Dessen Geschwister hatten nie eine Rolle gespielt, sie genossen das angenehme Leben, das ihr Vater ihnen mit seinem Geld ermöglichte. Armando Brancale galt als Praktiker, er war zuständig für die Leitung der Außeneinsätze. Er hatte stets den Überblick, auch wenn eine Situation noch so verworren erschien.
»Was ist los?«, fragte Niosi ungeduldig.
»Armando schickt mir Originalfotos«, erklärte Peter Lucca. »Die hat er gerade eben von seinem Kontakt in L.A. erhalten.« Auf den fragenden Blick seines Beraters fügte er hinzu: »Originalfotos von unseren Geschäftspartnern da unten, Gino Taravella und Martin Debuque.«
Er zeigte Niosi den Bildschirm, auf dem sich die beiden Porträtfotos aus Kalifornien aufbauten. Gleichzeitig gab er Jesus Vazquez' Handynummer ein.
Der Lateinamerikaner hatte sein Blackberry auf den Tisch gelegt. Es klingelte wie ein Telefon vor sechzig, siebzig Jahren. Robert Hurley kannte diesen Klingelton aus den alten Schwarz-Weiß-Filmen.
Alle drei Koffer waren geöffnet. Vazquez hatte Proben gezogen und hantierte mit Reagenzgläsern und Testflüssigkeiten. Die beiden MPi-Männer ließen die vermeintlichen Geschäftspartner keinen Atemzug lang aus den Augen. Der Fahrer des Lexus hing scheinbar gelangweilt in den Lederpolstern. In Wirklichkeit beobachtete er die Umgebung. Sein Kopf war ständig in Bewegung.
Vazquez unterbrach seine Tätigkeit und meldete sich mit einem knappen »Ja?«, während er das Blackberry ans Ohr hob. Nur einen Moment lang hörte er aufmerksam zu, dann nickte er und sagte: »Verstanden.«
»Die Stimme seines Herrn?«, spottete Christopher Flynn leise, zu seinem Partner hin.
Vazquez warf ihnen einen Blick aus schmalen Augen zu, während er das Smartphone so hielt, dass seine Komplizen das Display sehen konnten. Gespannt beobachteten sie den Bildschirm. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. Vazquez presste die Lippen zusammen, dass sie einen Strich bildeten.
Trotz des Lärms, der von allen Seiten aus dem Industriegebiet kam, schien es totenstill zu werden.
Hurley und Flynn ahnten, was lief. Kaum merklich veränderten sie ihre Haltung, sodass die Aufschläge ihrer Jacketts leicht von den Schnellziehholstern zurückglitten.
Vazquez' Pupillen huschten hin und her, von seinem Blackberry zu den Undercover-Cops, die bis zu diesem Augenblick auf ihre Legende vertraut hatten. Sie sahen, wie Vazquez die rechte Hand unauffällig hinter den Rücken bewegte. Entweder tastete er nach seiner Waffe, oder er gab den anderen ein Zeichen. Oder beides.
Hurley flüsterte in sein Kehlkopfmikro, leise genug, damit nur Lieutenant Kellso und die FBI-Agenten es mitbekamen: »Wir sind aufgeflogen!«
Vazquez verzog das Gesicht zu einer höhnischen Grimasse, und gefährlich leise sagte er: »Gino Taravella, he? Und Martin Debuque, was? Wollt ihr mal sehen, wie ihr wirklich ausseht?« Es war nicht mal eine rhetorische Frage, eher nur ein Hinweis auf die Wahrheit, die er gerade zu Gesicht bekommen hatte. Er legte das Blackberry auf den Tisch. Es war das Zeichen, ein Auslöser.
Denn im selben Moment brach die Hölle los. Alles geschah gleichzeitig. Vazquez tauchte ab, als hätte sich ein Loch im Boden aufgetan. Die MPi-Männer warfen sich nach rechts, rollten sich ab. Hurley und Flynn ruckten abwärts, hatten die Glocks noch im Fallen frei. Mündungsblitze glühten vom Lexus her. Völlig unbemerkt hatte sich der Fahrer vom Sitz geschält. Er hatte eine Maschinenpistole in den Winkel zwischen Tür und Wagendach gestoßen.
Die Kugelgarben sengten über den Tisch hinweg. Die Undercover-Cops spürten den Gluthauch der Geschosse, noch bevor sie den staubigen Beton erreichten. Hurley jagte eine Serie von Kugeln aus dem Lauf, unter dem Tisch hindurch. Es gelang ihm, Vazquez und die beiden anderen mit der Nase in den Dreck zu zwingen.
Flynn hob die Glock nur um eine winzige Spanne. Er erwischte den Fahrer in dem Moment, in dem dieser die MPi senkte, um sich auf die neue Position seiner Gegner einzustellen. Flynns erste Kugel durchschlug das Sicherheitsglas der Wagentür und versetzte dem Fahrer einen dumpfen Schlag in den Brustkasten. Die zweite Kugel des rotblonden Detectives fuhr in den Kopf des Fahrers und löschte den letzten Rest von Leben, der noch in ihm gewesen war, jäh aus. Dadurch stoppte die MPi ihren Abwärtsweg auf halber Höhe und hämmerte weiter.
Der Kugelhagel punktierte den Tisch und die Koffer wie mit Urgewalt. Die Koffer wurden in die Höhe geschleudert. Geldscheinbündel und zerfetzte einzelne Scheine wirbelten empor. Splitter von Reagenzgläsern mischten sich mit weißem Pulver aus Folienpackungen, die von dem Geschossschwarm zerrissen wurden. Unter der Wucht der Schüsse begann der Tisch zu kippen.
Vazquez und die beiden anderen nutzten den Feuerschutz, den sie von ihrem toten Komplizen erhielten, und robbten in Windeseile zur Seite weg. Und es war mehr als nur Feuerschutz. Die Wolke aus Geldscheinen und weißem Kokainnebel baute sich zu einer schützenden Glocke auf unter der Hurley und Flynn sich in den Hafenschuppen zurückziehen und ihre Gegner ihnen folgen konnten – unsichtbar, nicht zuletzt auch für die Scharfschützen. Sie mussten sich damit begnügen, den Lexus fahruntüchtig zu machen, indem sie seine Reifen zerschossen. Hell peitschten die Schüsse der weittragenden Präzisionsgewehre durch den Höllenlärm der Maschinenpistole.
Gleich darauf wurde es ruhiger. Der Schlagbolzen der MPi klickte ins Leere, die erste Hälfte des Doppelmagazins war leer geschossen. Der Fahrer konnte es nicht mehr umstecken.
Zu diesem Zeitpunkt hatten Hurley und Flynn bereits den dunklen hinteren Teil der Halle erreicht. Sie wussten, es gab dort in der Rückwand des Gebäudes eine Tür, die zwar verschlossen war, aber letztlich kein Hindernis darstellte – weder für Flüchtende, noch für Eindringlinge. Die Undercover-Cops verharrten lang gestreckt auf dem Boden, mäßig gedeckt hinter zerbrochenen Resten leerer Kisten.
Vazquez und seine überlebenden Komplizen wussten, was sie taten. In der Halle waren sie sicherer als draußen, wo die Scharfschützen und sicherlich bald auch die Anti-Terror-Spezialisten der Emergency Unit die Szene beherrschten.
Das grelle Gegenlicht, das durch das Tor fiel, erschwerte Hurley und Flynn die Sicht. Obwohl sie die Lider zusammenkniffen und versuchten, sich an die Blendwirkung zu gewöhnen, vermochten sie die drei Gangster in dem Halbdunkel nicht auszumachen. Vazquez und seine beiden Komplizen konnten den Cadillac als Sichtschutz nutzen, aber möglicherweise hatten sie sich auch auf die Seitenwände des alten Hafenschuppens verteilt.
Draußen wurde es lauter. Ein Donnerchor von Achtzylindermotoren dröhnte in geringer Entfernung los. Noch bevor sie aber per Funk Gewissheit darüber bekommen konnten, wie sich die Lage entwickelte, glaubten Hurley und Flynn, das Wummern eines startenden Hubschraubers zu hören.
Es klang beruhigend – sofern es sich um das handelte, was die Undercover-Cops hinter den Turbinen und Rotorengeräuschen vermuteten.
*
Unsere Helme mit den Headsets dämpften den Lärm. Vorn wurde das Tor geöffnet, und die beiden Hubschrauber rollten gleichzeitig ins Freie. Fast übergangslos hoben die Chopper ab, nachdem die Kleintraktoren mit den Plattformen zum Stehen gekommen waren. Die Piloten kannten ihre Ziele. Lieutenant Kellso, Milo und ich checkten unsere Dienstwaffen durch – die Pistolen, die MPis. Gleichzeitig beobachteten wir das Geschehen auf den Monitoren. Unsere Hubschrauber schwenkten voneinander weg, kaum dass sie den Steigflug begonnen hatten. Wir wurden in die Sitzpolster gepresst, während unsere Maschine, ein Agusta, rapide an Höhe gewann.
Bildschirm eins zeigte ein absurdes Stillleben.
Es war ein Zoomausschnitt einer der vier Drohnenaufnahmen.
Der Tisch war umgekippt. Die Handelsware unserer Undercover-Kollegen, eben noch ordentlich präsentiert, hatte sich in Pulverschnee aufgelöst und mit Geldscheinen vermischt. Gebündelt und in einzelnen Scheinen kontrastierten die Dollarnoten mit ihrem dunklen Grün zu dem weißen Film, der das Chaos aus aufgeklappten Koffern und Laborutensilien überzog. Auf der Motorhaube des Lexus wurde die Schneeschicht dünner, und unmittelbar daneben durchsetzte das Blut des toten Fahrers das Pulver mit dunklen Flecken.
Es rührte sich absolut nichts. Am meisten Sorge bereitete mir das Tor des alten Hafenschuppens. Es war wie ein schwarzes Loch, ein Schlund mit ungewissem Innenleben. Einziger fester Bestandteil war der Cadillac CTSV. Wahrscheinlich konnten Flynn und Hurley aber nicht einmal daran denken, den Superschlitten zu benutzten. Der Weg ins Freie war ihnen verwehrt, solange die Gangster in der Halle umherschlichen.
Das Bild auf Monitor eins zerrte an dar Nerven. Mit seinen stummen Spuren von Gewalt und Tod erzeugte es einen krassen Widerspruch zur Umgebung, die buchstäblich aus den Fugen geriet. Denn der Teufelstanz begann.
Jetzt.
Wir sahen es auf den übrigen Bildschirmen.
Die Streitmacht der schwarzen Offroader drang von Norden her auf das Hafen und Fabrikgelände vor – zunächst in breiter Front wie eine Panzerarmee. Nur die Geschütztürme fehlten. Dieses Manko machten sie durch die funkelnden Stoßfänger wett. Deren Wirkung war kaum weniger Furcht erregend als großkalibrige Kanonenrohre.
Keine Frage, die Gegenseite wollte alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und das Geschehen unter ihre Kontrolle bringen. Anders konnten sie die Lage nicht mehr zu ihren Gunsten wenden. Aber genau das mussten sie schaffen, wenn sie von der weißen Ware und der Million Dollar retten wollten, was noch zu retten war. Es musste sie an den Rand des Wahnsinns bringen, den Millionenschatz herrenlos vor dem Hafenschuppen zu wissen und nicht an ihn heranzukommen.
Unser Pilot ging auf nordöstlichen Kurs. Unser Ziel war die Freifläche zwischen der Rückseite des Hafenschuppens und einer Lagerhalle. Was sich auf der Westseite des Schuppens abspielte, übermittelten uns weiterhin die Kameras der Drohne.
Unser zweiter Hubschrauber, ein Bell Jet Ranger, zog nach Norden davon. In ausreichender Entfernung würde er eine Wende fliegen und den schwarzen Geländewagen in den Rücken fallen. Ob wir die Gegner damit überraschen konnten, bezweifelte ich. Aber wir würden ihnen zeigen, dass wir mindestens genauso gut vorbereitet waren wie sie.
Die Offroad-Panzer teilten sich auf, bildeten drei Gruppen zu je zwei Fahrzeugen. Anders konnten sie die Nadelöhre, die vor ihnen lagen, nicht überwinden. Es handelte sich um eine enge Passage zwischen den Betriebsgebäuden der Spedition an der Nordseite der Greenpoint Shipping, um eine Durchfahrt zwischen den Speditionsgebäuden und der Fabrik für Synthesekautschuk sowie letztlich um den Kai an der Südseite der Fabrik.
Wir sahen jede Einzelheit des Geschehens. Ab sofort würden wir bestimmen, was lief. Wir hatten nur wenige Sekunden dafür, doch schon jetzt kam es mir vor, als würde sich die knappe Zeitspanne ins Endlose dehnen. Milo und ich wechselten einen Blick, und ich nickte Lieutenant Kellso zu, der mich fragend ansah.
»All right«, sagte er ins Mikro seines Headsets. »Schnappt sie euch.«
Im nächsten Augenblick brach der Feuerzauber am Newtown Creek los. Schüsse krachten von allen Seiten. Die Scharfschützen stoppten die Offroad-Boliden noch in den engen Durchlässen. Gleichzeitig riegelten die Kämpfer der Emergency Service Unit ebendiese Gassen ab.
Die Türen der Achtzylinder-Monster flogen auf und spuckten schwarz gekleidete Kerle aus, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren. In den Durchfahrten gab es nur glatte Wände, keine Türen zum Eindringen und Verschwinden. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich zwischen den Ford-Offroadern einzuigeln. Am Kai sah es nicht viel besser aus. Dort mussten sie die freie Fläche zum Wasser hin überwinden, wenn sie ausbrechen wollten.
Zwei Männer in Schwarz riskierten es, indem sie sich gegenseitig Feuerschutz zu geben versuchten. Ein wahrer Kugelhagel schlug ihnen von den Emergency-Männern an beiden Seiten des Kais entgegen. Einer der Gangster wurde von den Geschossen regelrecht durchgeschüttelt. Im selben Sekundenbruchteil prallte der zweite Mann gegen eine unsichtbare Wand. So sah es jedenfalls aus. Ich bemerkte eine Bewegung an Bord eines der Frachtschiffe. Der Scharfschütze dort hatte gefeuert. Er wechselte seine Stellung, und er tat gut daran. Kugeln prasselten gegen den Stahl der Decksaufbauten und der Verschanzung.
Außer unserem Sniper hielt sich zum Glück niemand an Deck auf. Und die Emergency-Truppe entlastete ihn auf der Stelle. Mit massivem Feuer rückten die Männer der NYPD-Sondereinheit vor. Von beiden Seiten arbeiteten sie sich voran. Kistenstapel und Kautschukballen dienten ihnen als Deckung, während sie die Gangster zurück zwischen ihre Fahrzeuge zwangen.
In der schmalen Durchfahrt auf der anderen Seite der Fabrik sah es ähnlich aus. Die Lucca-Leute hatten schlechte Karten. Auch zwischen der Spedition und dem Hafenschuppen saßen sie in der Klemme. Ihre Taktik hatte auf der ganzen Linie versagt. Der Grund dafür lag auf der Hand. Sie hatten wegen Flynn und Hurley keinen Verdacht geschöpft, hatten die beiden Undercover-Cops tatsächlich für Gino Taravella und Martin Debuque gehalten. Aber dann hatte sich her ausgestellt, dass ihre Kontakte nach Los Angeles besser gewesen waren, als wir gedacht hatten.
Unten, am Newtown Creek, hämmerten die Maschinenpistolen auf beiden Seiten. Noch schafften es die Mobster, ihre Gegner auf Distanz zu halten. Aber dabei würde es nicht lange bleiben, denn unsere Eingreifreserven waren noch nicht einmal auf den Plan getreten. Die Gangster würden es mit einer Übermacht zu tun bekommen. Aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie ihr Pulver schon verschossen hatten. Hatten die Luccas noch einen Trumpf im Ärmel?
Doch wir hatten keine Zeit für solche Gedanken. Flynn und Hurley brauchten unsere Hilfe. Sofort. Jede Sekunde zählte.
Ich konzentrierte mich auf den Bildschirm mit dem Gesamtüberblick. Es schien, als wären der alte Hafen schuppen, der Lexus und die Überbleibsel des Scheingeschäfts nicht länger Bestandteile des Geschehens. Das Wellblechdach des Schuppens war wie eine Ruhezone am Rand der eigentlichen Kampfzone. Was geschah dort, unter dem Wellblech? Nur wenige Sekunden waren nach dem Start unseres Hubschraubers vergangen. Die gefühlte Zeit war eine andere – eine scheinbar endlose Spanne, verbunden mit der quälenden Ahnung, trotz allem zu spät zu kommen.
Unser Agusta änderte den Kurs wie vereinbart, legte sich nach Backbord, um die Fläche des Wellblechdachs zu überqueren. Auf Bildschirm sechs war die weiß-blaue NYPD-Lackierung des Jet Rangers zu sehen, wie er in die entgegengesetzte Richtung schwenkte, nach Osten.
Ein winziger Impuls erreichte mein Bewusstsein. Ein Aufblitzen. Vielleicht nur ein Reflex, vielleicht auch ein Mündungsfeuer. Was es auch war, ich lokalisierte es auf Bildschirm acht und verschwendete keinen Sekundenbruchteil.
»Achtung!«, rief ich. »Position zwei-drei! Volle Deckung! Unbekannte Waffe aus Fahrzeug ...«
Der Rest meiner Warnung blieb mir im Hals stecken. Die Anti-Terror-Kämpfer der ESU reagierten blitzschnell, und doch zu spät, wie ich eine Schrecksekunde lang befürchtete. Natürlich beobachteten Milo und der Lieutenant es ebenfalls. Beide hielten den Atem an.
Ein rot glühender Feuerstrahl schoss aus dem zweiten Offroader in der Gasse zwischen Spedition und Kautschukfabrik. Buchstäblich im letzten Moment schafften es die ESU-Männer dort, hinter den Gebäudeecken Schutz zu suchen. Die Granate rauschte an ihnen vorbei und detonierte zwanzig Yards weiter. Ein Feuerball stieg empor – glühendes Rot, vermischt mit Betonbrocken, Erde und Staub.
Auch diesmal fackelte ich nicht lange. Ich rief die Crew des Jet Rangers an.
»Ranger eins – auf Position zwei-drei – Boden-Boden-Werfer nach Ost!«
»Bestätigt!«, antwortete der Leiter der Kämpfer an Bord. Sie hatten die Ausrüstung, die jetzt gefragt war.
Die Kerle in der Gasse kamen zu keinem zweiten Schuss. Wie ein angreifender Raubvogel stürzte sich der Ranger aus dem Blau des Himmels herab. Als der Pilot den Sturzflug abfing, raste ein Feuerschweif aus der offenen Kabinentür an der Steuerbordseite. Gleich darauf ein zweiter.
Das Bord-MG musste nicht mehr eingesetzt werden. Die beiden Männer mit den Raketenwerfern hatten ihre Arbeit mit tödlicher Präzision erledigt.
Dort, wo eben noch die beiden schwarzen Geländewagen zu sehen gewesen waren, brüllte eine Doppelexplosion auf. Flammendes Rot wölkte in der Gebäudegasse empor. Niemand konnte dort überleben. Zusammen mit den schweren Fahrzeugen gingen die dazugehörigen Gangster in der tosenden Gluthölle unter. Das Schicksal, das sie den ESU-Cops an der Ostseite der Gasse zugedacht hatten, ereilte sie nun selbst.
Unterdessen hatten wir das Wellblechdach hinter uns gebracht. Auf den Monitoren sahen wir, dass der angrenzende Platz vor der Lagerhalle leer war. Wir konnten ungestört landen. Niemand hatte den Hafen schuppen verlassen, niemand würde uns in die Quere kommen. So sah es jedenfalls aus.
In ausreichendem Abstand von der Dachkante ging der Pilot in den Sinkflug über.
Plötzlich erloschen die Drohnen-Bilder.
Die vier Monitore zeigten nur noch grauen Schnee.
*
»Volltreffer!«, jubelte Peter Lucca. »Volltreffer!« Dann stieß er eine Serie von schrillen kleinen Freudenschreien aus und hüpfte auf der Stelle wie ein kleiner Junge. Gleichzeitig klatschte er voller Begeisterung in die Hände. Das Fernglas tanzte am Lederriemen vor seiner Brust.
»Hast du das gesehen?«, schrie er. »Menschenskind, Greg, hast du das verfolgt?« Er schnaufte und keuchte, als hätte gerade sein Favorit beim Galopprennen gewonnen.
Sie hatten es mit bloßem Auge gesehen.
Die gottverdammte Drohne war in tausend Stücke zersprungen.
Noch immer schwebten Trümmer vom Himmel, die leichteren Teile aus Kunststoff.
Lucca junior und sein Leibwächter waren allein in dem Konferenzraum im Dachgeschoss des Metropolitan Hotels. Die vier Männer der Reserve waren auf Luccas Anweisung hin unterwegs zum Schauplatz des Geschehens. Wahrscheinlich konnten sie in diesen Augenblicken bereits aktiv mitmischen.
Nach Greg Niosis Meinung taugten die Vier bestenfalls noch als Kanonenfutter, falls sie sich nicht rechtzeitig den Feds und den Cops ergäben. Doch wenn sie schlau waren, machten sie sich aus dem Staub. Denn der Job da unten ging den Bach hinunter. Aber davon wollte Peter Lucca nichts wissen. Auf seinem imaginären Feldherrnhügel fühlte er sich selbst in den nächsten Augenblicken noch als Sieger, als der NYPD-Hubschrauber auch die übrigen Offroader und ihre Besatzungen mitsamt Raketenwerfern auslöschte. Wie man in den Wald hineinrief, so schallte es heraus. Die Cops hatten lediglich reagiert, weil sie reagieren mussten.
»Hölle und Teufel!«, knurrte Niosi erbost. »Wir hätten es verhindern können. Ist dir das nicht klar?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Lucca junior scharf. »Aber wir müssen das große Ganze sehen, Greg. Und wenn wir die Möglichkeit haben, Trevellian und Tucker zu erledigen, geht das nun mal vor.«
Niosi schüttelte verständnislos den Kopf. »Dafür verlieren wir mal eben die Kleinigkeit von einer Million Dollar. Von der Ware ganz zu schweigen.«
»Was sich jetzt gleich da draußen abspielt, Greg, ist viel, viel wichtiger. Das kannst du mir glauben.«
»Auf mich kommt es nicht an, Peter, verdammt noch mal. Ob dein Dad es genauso sieht wie du, wage ich zu bezweifeln.«
Peter Lucca hörte ihn nicht. Er ließ das Fernglas sinken, und sein Blick richtete sich ins Unendliche. »Dies wird mein bisher größter Erfolg«, flüsterte er kaum hörbar. »Jesse Trevellian und Milo Tucker sind schon so gut wie tot.«
*
»Wir landen und verlassen die Maschine«, meldete ich den Einsatzbeteiligten über das Headset-Mikro. Wichtigste Adressaten des Funkspruchs waren Robert Hurley und Chris Flynn. Sie mussten das Hubschraubergeräusch hören, und sie sollten wissen, dass wir es waren. Ihre Lage war nicht so schlecht wie sie vielleicht dachten. Das war unsere Botschaft. Immerhin kontrollierten wir von der OCU die Situation, und dabei sollte es auch bleiben.
Jemand hatte die Drohne abgeschossen, okay. Mehr wussten wir nicht. Weder unser Pilot noch der Copilot hatten das ferngesteuerte Fluggerät im Blickfeld gehabt. Unsere Kollegen in der Technikzentrale der Kläranlage waren die einzigen Augenzeugen. Sie hatten gesehen, wie die Drohne auseinanderflog, konnten aber nicht sagen, was die Ursache gewesen war. Den Verlust der vier Kameras am Himmel mussten wir verschmerzen. Letzten Endes hatten wir noch die stationären Kameras, und dann waren da vor allem die Männer der ESU. Den größten Teil des Geländes am Newtown Creek hatten sie »bereinigt«, wie es im Dienstjargon hieß.
Wir behielten die Fritzhelme auf dem Kopf. Die Maschinenpistolen lagen auf unseren Knien, während der Agusta dem Platz zwischen dem Hafenschuppen und der Lagerhalle entgegenschwebte. Der Rotorwind peitschte Unkraut, das aus dem brüchigen Betonboden wucherte. Die SIGs steckten in den Holstern an unseren Hüften. Ein halbes Dutzend Reservemagazine klemmten an den Gürteln.
Hurley und Flynn hatten nach dem geplatzten Scheingeschäft bewusst Funkstille bewahrt. Vazquez und seine Komplizen saßen ihnen zu dicht im Nacken. Die Ungewissheit über das Schicksal der beiden Undercover-Detectives zerrte an unseren Nerven. Ich brauchte Milo nur anzusehen, um zu wissen, dass es ihm genauso erging wie mir. Auch Lieutenant Gnadenlos war nicht der harte Hund, für den man ihn hielt. Seine Lippen waren zusammengepresst, seine Wangenmuskeln verhärtet, während er den Monitor beobachtete, der den Lexus und den schwarzen Schlund des offenen Tors zeigte. Nichts rührte sich dort.
Der Copilot gab uns ein Handzeichen durch das Sichtfenster in der Monitorwand. Milo nahm die MPi in die Linke und zog die Kabinentür auf seiner Seite auf. Scharfer Luftzug wehte herein. Beide Piloten waren auf die Landung konzentriert. In wenigen Augenblicken würden die Kufen des Agusta aufsetzen. Irving Kellso wandte den Blick keinen Atemzug lang von den Monitoren. Deshalb war ich der Einzige, der einen Blick nach Backbord warf.
Mir gefror das Blut in den Adern. Buchstäblich.
»Raus!«, brüllte ich. »Alle raus! Angriff von Westen! Sofort raus!«
Milo reagierte blitzartig, schnellte ins Freie. Ich folgte ihm dichtauf. Kellso sprang auf seiner Seite hinaus, vorn flogen die Kanzeltüren auf. Die Piloten hechteten aus ihrem gläsernen Gehäuse, während die Maschine noch einen Fuß hoch über dem Boden schwebte.
Die Angreifer kamen aus der Sonne.
Ihr Helikopter war schwarz. Wie ein riesiger, drohender Schatten schraubte er sich über dem Dach der Lagerhalle empor. Der Platz zwischen den beiden Gebäuden verdüsterte sich.
Wir rannten.
Weg von dem Agusta, der in diesem Augenblick auf seine Kufen sackte.
Es war ein Wettlauf mit dem Tod.
Milo und ich hetzten nach Süden, an der Rückseite des Hafenschuppens entlang. Lieutenant Kellso und die Piloten benutzten den selben Fluchtweg, nach Norden jedoch. Es gab keine andere Möglichkeit, vor allem keinerlei Schutz. Wir holten alles aus unseren Beinmuskeln heraus. Mehr konnten wir nicht tun. Jeder Schritt, den wir hinter uns brachten, schien eine quälende Ewigkeit zu dauern. Für mich war es, als müsste ich eine Tonnenlast ziehen, mit einem Tau um die Brust.
Höchstens fünf, sechs Yards waren wir vorangekommen. Oder weniger?
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich den schwarzen Chopper, wie er herumschwenkte und uns seine Breitseite zeigte. Gleichzeitig schien es, als würde er auf dem Hallendach aufsetzen. Doch der Eindruck täuschte. Er schwebte knapp darüber. Es war ein alter Bell UH1B, offenbar gut in Schuss.
Wir rannten und rannten.
Ich war versucht, die MPi wegzuwerfen. Unnötiger Ballast. Alles, was uns schneller machte, war gut und richtig, so wollte ich glauben. Doch etwas wie eine innere Stimme warnte mich. Verdammt, es war noch nicht vorüber. Und solange es uns nicht erwischte, würden wir kämpfen müssen.
Der Agusta hüpfte noch einmal empor – wie ein großer, schwerer Hühnervögel im Angesicht des angreifenden Berglöwen, dem er durch diesen albernen Luftsprung ganz und gar nicht entkommen konnte.
Als unsere fliegende Einsatzzentrale erneut absackte, neigte sie sich nach links, und wieder erinnerte die Maschine an das todgeweihte Opfer, als würde es seinen Hals den Reißzähnen des angreifenden Raubtiers hinhalten. Die Turbinen des Agusta heulten auf, als die Rotorblätter auf den Beton trafen. Es sah aus, als wollten sie sich hineinsägen, doch der Beton war stärker. Die Metallflügel verbogen sich, erzeugten ein markerschütterndes Kreischen, und einzelne herausgerissene Teile flogen wie Geschosse davon.
Ich spürte den heißen Luftzug zweier oder dreier Rotorteile. Links von uns prallten sie schmetternd gegen die Schuppenwand.
Ein roter Punkt erglühte in der Mitte des schwarzen Hubschrauberschattens.
Milo und die anderen, an der Nordseite, bemerkten es im selben Moment. Wir schafften einen letzten Sprung, um uns hinzuwerfen. Wir sahen noch den Glutschweif, den die Rakete zog. Der Lärm beider Hubschrauber schien anzuschwellen, schien uns mit einer alles erstickenden schwarzen Plane niederdrücken zu wollen. Aber auch das war sofort wieder vorbei. Bevor wir den Boden erreichten, schlug die Rakete ein.
Die Druckwelle packte uns, schleuderte uns mehrere Yards weit durch die Luft. Das Brüllen der Explosion löschte jedes andere Geräusch aus. Reflexartig zog ich den Kopf ein, presste die MPi mit beiden Händen gegen die Brust. Der Druck ließ mich einen Salto schlagen, den ich nicht selbst steuern konnte. Doch ich landete sicher, indem ich über die linke Schulter abrollte. Im nächsten Atemzug lag ich flach, die Maschinenpistole sicher unter mir.
Die Kraft der Detonation war gewaltig. In die Mitte des Rumpfes getroffen, wurde der Agusta buchstäblich zerfetzt. Die Reste des Rotors schwirrten davon, segelten flach über den Boden und krachten gegen die Wand der Lagerhalle. Über dem Dach stieg der schwarze Bell auf, um dem Trümmerhagel zu entgehen. Der abgerissene Heckrotor des Agusta hatte sich ebenfalls selbstständig gemacht und stieg mit einem lose baumelnden Rest des Hecks fast senkrecht auf, als wollte er den Bell verfolgen. Aber noch unterhalb der Dachhöhe verließ den kleinen Rotor die Kraft, und er grub sich in den Winkel zwischen Hallenwand und Beton.
Unterdessen flogen Metall und Kunststoffstücke in alle Richtungen. Ein Großteil davon prasselte gegen die Wand des Hafenschuppens in unserer Nähe. Noch mehr zerborstene Teile fielen auf dessen Dach. Eine große verbeulte Blechplatte mit schrundigen Rändern segelte über mich hinweg wie ein Flügelrochen in einem Unterwasserfilm. Das Blech landete scheppernd auf dem Beton und schrammte auf meinen Partner zu.
»Milo!«, rief ich warnend. »Hinter dir!«
Er reagierte schnell genug, indem er sich zur Seite rollte. Das scharfkantige Teil schlitterte an ihm vorbei. Dafür kriegte ich es knüppeldick. Etwas zischte auf mich zu, von hinten, das merkte ich noch. Das Ding erwischte mich, obwohl ich mit der Nase in den Dreck tauchte. Ein Schlag wie von einer Tonne Stahl.
Der Schmerz explodierte in meinem Hinterkopf und riss mich ins Nichts.
*
Die ganze Zeit über hatten sie sich belauert, im Halbdunkel und in den völlig finsteren Ecken des Schuppens. Die Schüsse und Explosionen draußen hatten keine Konsequenzen für sie gehabt. Jedenfalls konnte man sich das einbilden, weil sich alles in einiger Entfernung abspielte. Doch jetzt war es anders. Der Betonboden des alten Hafenschuppens schien noch immer zu beben, so gewaltig war die Detonation gewesen. Und das Hubschrauberdröhnen war nach wie vor da. Doch es entfernte sich anscheinend, wenn auch sehr langsam.
Licht flutete dort herein, wo sich zuvor die hintere Tür befunden hatte.
In unmittelbarer Nähe war der Agusta in Stücke gerissen worden. Fast hatte es den Anschein gehabt, als würde der gesamte Schuppen einstürzen. Doch es war nur eine Öffnung von drei bis vier Yards Durchmesser, die jetzt in der Rückwand klaffte. Mit der Tür waren auch beträchtliche Teile des Mauerwerks herausgerissen worden.
Die Helligkeit der Sonne zeichnete einen Tunnel, der von dem geborstenen Loch an der Westseite bis zur vorderen Toröffnung führte. Staubpartikel füllten den Tunnel aus Licht, und ein schwacher Luftzug wirbelte sie durcheinander.
Chris Flynn hatte sich sofort nach der Explosion in die Dunkelheit der südwestlichen Gebäudeecke zurückgezogen. Bob Hurley hatte es in die gegenüberliegende Ecke geschafft. Die Druckwelle hatte sie beide von der Rückwand weggeschleudert, und sie hatten mordsmäßiges Glück gehabt. Sie waren weit genug von der Hintertür entfernt gewesen. Deshalb waren sie weder von Mauerbrocken noch von Stahlteilen der aus ihren Verankerungen gerissenen Tür getroffen worden.
Flynn wollte die Lage sondieren, wollte vor allem herausfinden, wie Vazquez und seine Komplizen sich darauf einstellten. Das war das vordringlichste Problem für ihn und Bob Hurley. Nicht weniger machte ihm aber die Ungewissheit über das Schicksal der Männer im Agusta zu schaffen. Waren sie alle getötet worden? Von draußen war nur der Angreifer-Hubschrauber zu hören. Es fielen keine Schüsse. Bedeutete das, dass niemand im Agusta überlebt hatte?
Er murmelte einen Fluch. Verdammt, er hatte Lieutenant Gnadenlos die Pest an den Hals gewünscht, aber einen solchen Tod hatte der Mistkerl denn doch nicht verdient. Der Undercover-Cop spähte zum Tor, wo die beiden Fahrzeuge das Gegenlicht ausfüllten. Er war im Begriff, vorsichtigen Funkkontakt mit Bob Hurley aufzunehmen.
Da veränderte sich das Hubschraubergeräusch draußen.
Im selben Augenblick entstand Bewegung am vorderen Ende des Lichttunnels. Links und rechts von dem schwarzen Kastenschatten des Cadillac CTSV tauchten Silhouetten auf. Wie animierte Scherenschnitte huschten sie hin und her, dann verschmolzen sie wieder mit den Umrissen des CTSV.
Das Hubschrauberdröhnen schien anzuschwellen. Doch Chris Flynn hörte heraus, dass es sich um zwei verschiedene Turbinengeräusche handelte. Eines in höherer Tonlage hatte sich hinzugesellt. Es wurde deutlich lauter, stammte also offenbar von einer näher kommenden Maschine.
»Bob, hörst du das?«, flüsterte Flynn in das aufgeklebte Kehlkopfmikro. »Und siehst du was, vorn?«
»Beides bestätigt«, antwortete Robert Hurley ebenso leise.
»Zwei Hubschrauber, stimmt's?«
»Ja. Und Vazquez will sich unseren Caddy unter den Nagel reißen.«
»Aber nach vorne kann er nicht raus, da ist der Lexus im Weg.«
»Die zweite Ausfahrt ist jetzt hier bei uns. Ein paar Schuttbrocken machen unserem Offroader nichts aus.«
»Stoppen wir ihn, bevor er Anlauf nehmen kann.« Chris Flynn spähte nach vorn. Sie hatten die Türen des Cadillac lautlos geschlossen. Durch die dunkel getönten Scheiben war nicht zu erkennen, wer eingestiegen war.
»All right«, antwortete Bob Hurley. »Wir gehen direkt auf ihn zu, aber außerhalb des Lichtstreifens.«
»Bestätigt.« Chris Flynn setzte sich in Bewegung. Seinen Partner konnte er in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Lichttunnels nicht sehen, doch er wusste, dass Bob in dieser Sekunde ebenfalls unterwegs war und die Glock, wie er, schussbereit am langen Arm hielt.
Etwa auf halbem Weg, in der Mitte des Schuppens, verharrten sie unwillkürlich. Der Hubschrauberlärm hatte erneut zugenommen. Weil sich bei dem Cadillac noch nichts weiter rührte, riskierten die Undercover Cops es, sich umzudrehen. Durch den direkteren Blick waren sie nun imstande, das Geschehen draußen zu beobachten.
Mit scharf gezeichneten Umrissen waren die beiden Hubschrauber gut zu erkennen. Schon weit hinter der angrenzenden Lagerhalle flogen sie der Sonne entgegen. Der Bell UH1D, das ältere Modell, wirkte schwerfällig wie ein dickes Insekt. Der Bell Jet Ranger dagegen, schlank und schnittig, war so wendig wie er aussah. Er verfolgte die schwarze Maschine, die den heimtückischen Angriff auf den Agusta geflogen hatte. Aus dem offenen Bauch des UH1D zuckten Mündungsblitze einer Maschinenkanone. Sofort darauf wurde auch der Feuerschweif einer Rakete sichtbar. Schnell und mühelos ging der Jet Ranger in den Steigflug über, die Geschosse sengten unter seinem Bauch hinweg und schafften es bis auf den Atlantik hinaus, wo ihnen jedoch die Kraft fehlte, um noch Schaden anrichten zu können.
Der Jet Ranger stieg höher, und die ESU-Cops an Bord machten kurzen Prozess. Nur kurz neigte sich der schlanke Drehflügler zur Steuerbordseite. Zwei Luft-Luft-Raketen zischten mit rot glühender Spur aus der offenen Kabinentür. Beide Explosivgeschosse fanden ihr Ziel, bevor die Gangster ihre Maschinenkanone und den Raketenwerfer neu ausrichten konnten. Während der Explosionsdonner über den Himmel rollte, verwandelte sich der schwarze Bell in einen rot glühenden Feuerball. Zerfetzte Einzelteile lösten sich daraus und fielen taumelnd herab, bis der Glutball in den Newtown Creek eintauchte. Eine riesige Fontäne gischtete weiß empor wie ein Geysir.
Chris Flynn glaubte, das Zischen zu hören, mit dem das brennende Wrack in der Industriekloake versank. Gleichzeitig entfernten sich das Turbinensingen und das Rotorklatschen des Jet Ranger. Flynn und Hurley wandten sich wieder in die gemeinsame Marschrichtung. Vorn, beim Tor, hatte sich nichts verändert. Vielleicht waren die Kerle im Cadillac damit beschäftigt, das Geld und das Kokain ordentlich einzupacken. Die beiden Undercover-Cops hatten nur zwei Schritte geschafft, als eine Männerstimme aus ihrem Knopf im Ohr ertönte.
»Detectives Flynn und Hurley! Können Sie mich hören?«
Sie hätten jubeln können, denn sie erkannten die Stimme sofort. Es war Milo Tucker.
»Klar und deutlich«, antworteten Flynn und Hurley wie aus einem Mund freudig und im Flüsterton.
»Wir sind in Ihrer Nähe«, teilte der G-Man gedämpft mit.
Rasch und so leise wie möglich brachten sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand. Die Detectives erfuhren, dass Jesse Trevellian wieder bei Bewusstsein war, nachdem ihn ein heranfliegendes Metallrohr getroffen hatte. Lieutenant Kellso und auch Milo hatten es unversehrt überstanden, während die beiden Agusta Piloten Schnittverletzungen und Prellungen davongetragen hatten. Ihre Kollegen im Jet Ranger brachten sie ins Bellevue Hospital, gleich auf der anderen Seite des East River.
Flynn und Hurley schilderten die Lage im Hafen schuppen in Stichworten. Sie endeten mit ihrer Vermutung, dass die Gangster den Cadillac für einen Ausbruch benutzen würden, nachdem sie begriffen hatten, dass sie es mit einer Übermacht zu tun bekommen würden, wenn sie zu Fuß nach vorn aus dem Gebäude fliehen würden.
»Wir übernehmen«, sagte Milo Tucker, nachdem die Detectives ihren Bericht beendet und ihre Positionen in den Ecken des Schuppens beschrieben hatten. »Bleiben Sie, wo Sie sind, und geben Sie uns notfalls Feuerschutz.«
»Verstanden«, antwortete Flynn und Hurley gleichzeitig.
Noch im selben Atemzug erschienen die drei Männer in der Maueröffnung. Sie trugen schwarze Kampfanzüge und Fritzhelme und waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Sofort nachdem sie das Innere des Hafenschuppens erreicht hatten, gingen sie auf Abstand und drangen in das Halbdunkel vor. Milo Tucker übernahm die Position links, an der Nordseite der Halle, Lieutenant Gnadenlos ging in der Mitte, jedoch am linken Rand des Lichttunnels. Jesse Trevellian nickte Chris Flynn zu, während er an ihm vorbei an der rechten Seite des Gebäudes entlangpirschte.
Sie schafften es bis in die Mitte der Halle.
Plötzlich kreischten Reifen.
Der Cadillac fegte rückwärts los und fuhr eine rasante Wende. Nur für einen Sekundenbruchteil stoppte er und reckte seine kantige Schnauze in den Lichttunnel. Im selben Moment brüllte der Achtzylinder auf, dann preschte der schwere Wagen los wie der leichtfüßige Renner, aus dem sein Motor stammte. Das Fenster auf der Beifahrerseite war geöffnet worden. Mündungsblitze stachen heraus.
Die G-Men und der Lieutenant erwiderten das Feuer sofort.
Auch die Detectives jagten das großkalibrige Vollmantelblei aus den Läufen ihrer Dienstwaffen.
Das Hämmern der Maschinenpistolen und das harte, trockene Krachen der Pistolen entfesselten einen ohrenbetäubenden Lärm in dem hallenartigen Gebäude. Kugelgarben und Einzelgeschosse durchschlugen den Kühlergrill und die Motorhaube, perforierten das Sicherheitsglas der Windschutzscheibe und der Seitenscheiben. Die Mündungsblitze aus dem Beifahrerfenster erloschen. Der Hagel der Projektile leistete seine brachiale Arbeit im Motorraum mit jener Zuverlässigkeit, die auf der Erfahrung der Schützen beruhte. Lebenswichtige Einzelteile der Achtzylindermaschine wurden zerfetzt, zerrissen, zerschmettert. Die bewährte Methode brachte den Wagen zuverlässig zum Stehen. Lieutenant Kellso, schon im Begriff, zur Seite zu springen, brauchte sich die Mühe nicht mehr zu machen. Der Cadillac war noch drei Yards entfernt, als sein Motor den Geist aufgab. Der Dienstwagen aus dem Fuhrpark des NYPD stand wie von einem Betonwall gestoppt. Die Karosserie schwang in der Federung nach, und der Achtzylinder verabschiedete sich mit einem röchelnden Laut.
Hinter den durchlöcherten Fenstern bewegten sich Schatten, doch ihre Bewegungen waren nicht kontrolliert, eher ein kraftloses Sinken. Die Tür an der Fahrerseite schwang auf. Der Fahrer musste den Griff schon in der Hand gehabt haben, als er getroffen worden war. Jetzt fiel er heraus und blieb mit verschränkten Gliedmaßen auf dem Beton liegen. Vom Beifahrer waren nur die Konturen zu sehen. Es sah aus, als hätten ihn die Kugeln in den Sitz genagelt. Ein dritter Mann war nicht zu sehen. Womöglich lag er zwischen den Sitzen, auf dem Bodenteppich.
Die G-Men und ihre Kollegen ließen die Waffen sinken. Der Bell Jet Ranger war nicht mehr zu hören. Eine unnatürliche Stille kehrte ein, etwas wie eine Insel der Lautlosigkeit im Hintergrundrauschen des New Yorker Verkehrslärms. Doch dabei blieb es nur eine Sekunde.
Schritte wurden laut.
Schnelle Schritte.
Ich sah ihn zuerst. Es war Vazquez. Aus der Sonne heraus sprang er durch die Maueröffnung, und blindwütig wie ein angreifender Stier stürmte er herein. Die MPi in seinen Händen flog hoch, und er feuerte auf den Erstbesten, den er sah.
Das war Lieutenant Kellso.
Die ersten Kugeln gingen fehl, aus der wilden Bewegung des Schützen heraus. Aber Kellso hatte keine Chance. Das hätte jedoch nur gegolten, wenn er allein gewesen wäre. Er wollte herumwirbeln, sich hinwerfen.
In diesem Augenblick hatte ich die MPi bereits herumgeschwenkt. Auch Milo war bereit, drüben, doch ich reagierte als Erster. Zog durch. Mit meinem Feuerstoß säbelte ich dem Angreifer die Beine unter dem Leib weg. Seine Kugeln, die für den Lieutenant gedacht waren, tackerten in den Betonboden.
Ich lockerte den Abzugsfinger. Doch es war ein Fehler, anzunehmen, Vazquez würde schon aufgeben. Er hielt die MPi krampfhaft fest, und das Geschehen spulte sich innerhalb einer Zehntelsekunde ab.
Irving Kellso hatte sich inzwischen hingeworfen, begann, schräg von seinem Gegner wegzurobben. Auf der rechten Körperseite liegend, knickte Vazquez in der Hüfte ein. Blitzschnell brachte er die Waffe in Anschlag, knapp über dem Boden. Rechts von mir krachte ein einzelner Schuss. Vazquez zuckte und lag still. Kein Schuss löste sich mehr aus seiner MPi.
Atemloses Schweigen breitete sich aus, während Kellso mit schussbereiter Maschinenpistole auf dm Toten zulief und dessen Waffe zur Seite kickte.
»Kopfschuss«, stellte er fest. »Einschussöffnung im Hinterkopf.« Langsam wandte er sich in meine und Chris Flynns Richtung, bellte: »Wer war das?«
»Ich, Sir«, antwortete der Detective. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er sicherte seine Glock und schob sie ins Gürtelholster.
»Sie also«, sagte Kellso und schüttelte den Kopf. »Das hätte ich mir ja denken können. Ihnen ist klar, dass es mindestens eine Untersuchung geben wird?«
»Ja, Sir«, erwiderte Chris ergeben. Er zeigte keine weitere Reaktion. Ihm war regelrecht anzumerken, dass er von Lieutenant Gnadenlos kein anderes Verhalten erwartet hatte.
Kellso starrte ihn an, als wollte er sagen: >Was soll ich bloß mit Ihnen machen, Flynn?< Doch in unserer Gegenwart wäre das wohl selbst ihm eine Spur zu heftig erschienen.
Milo und Detective Hurley kamen herüber. Meinem Partner hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Ich erfasste seinen verständnislosen Blick. Bob Hurley schien es vorzuziehen, keinen Kommentar abzugeben, um es sich bei seinem Vorgesetzten nicht zu verscherzen.
Mir dagegen platzte der Kragen. Ich verstieß zwar gegen den Grundsatz, einen höheren Dienstgrad nicht in Gegenwart von Untergebenen zu maßregeln. Aber das war mir in diesem Moment von Herzen egal. Ich sicherte die MPi, hängte den Riemen über die Schulter und ging auf Gnadenlos zu. Zwei Schritte vor ihm blieb ich stehen.
»Lieutenant Kellso!«, fuhr ich ihn schneidend an. »Sind Sie noch bei Verstand?«
Seine Miene versteinerte. »Agent Trevellian«, sagte er tonlos. »Was nehmen Sie sich heraus?«
»Reden Sie keinen Unsinn«, knurrte ich. »Detective Christopher Flynn hat Ihnen das Leben gerettet! Er hat in Notwehr gehandelt, Mann!«
»Das sehe ich nicht so«, widersprach der blonde Hüne unbeeindruckt. »Vazquez war bereits weitgehend kampfunfähig. Da entsprach es nicht mehr dem Notwehrprinzip der adäquaten Mittel, ihm von hinten in den Kopf zu schießen.«
Milo und ich sahen uns fassungslos an.
»Das glaube ich nicht!«, entfuhr es meinem Partner. »Menschenskind, Irving, es ist genauso wie Jesse sagt! Flynn hat Ihnen das Leben gerettet! Jeder von uns kann das bezeugen.«
Kellso ging darauf nicht ein. Er sah mich an. »Warum haben Sie dem Gangster nicht sofort in den Kopf geschossen, Jesse?«
»Du lieber Himmel!«, stöhnte ich. »Da war die Situation doch noch völlig anders!«
Kellso schüttelte abermals den Kopf, und er sah mich auf die gleiche Weise an, wie er zuvor Flynn angesehen hatte, mit diesem Was-soll-ich-bloß-mit-Ihnen-machen-Blick. Zu allem Überfluss kommentierte er seine aberwitzigen Ansichten auch noch, indem er sagte:
»Ich glaube, ich bin der Einzige hier, der einen klaren Überblick hat und die Dinge so sieht, wie sie sind. Aber ich denke, darüber brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen. Schließlich haben wir eine unparteiische Instanz, die dafür zuständig ist.«
Sein Größenwahn war unerträglich, doch wir kamen nicht dazu, ihm die Meinung zu sagen.
Sein Handy klingelte, als wollte es ihn zum Schweigen bringen. Natürlich hatte er es vor dem Start unseres Hubschraubers ausgeschaltet. Wann er es wieder eingeschaltet hatte, war mir ein Rätsel. Schon möglich, dass er es in dem Moment nach Flynns finalem Rettungsschuss getan hatte. Wenn es so war, konnte er es wahrscheinlich gar nicht abwarten, wieder belästigt zu werden. War er eine Art Masochist, dass er sich von diesen nur scheinbar unerwünschten Anrufen malträtieren ließ? Gefiel es ihm etwa, sich auf diese Weise quälen zu lassen?
Während Kellso, mit dem Handy am Ohr, von uns wegstelzte, standen wir anderen einfach nur da und versuchten, zu verdauen, was sich abgespielt hatte.
»Verdammt, es reicht mir jetzt!«, hörten wir den Lieutenant zischen. »Wie oft muss ich noch sagen ...« Seine Stimme verlor sich in der dunklen Südwestecke des Schuppens, nicht weit von dem scharf gezeichneten Rechteck des Tors entfernt.
Ich rief Mr McKee an und informierte ihn über den Stand der Dinge. Er sagte zu, alles Notwendige zu veranlassen. In wenigen Minuten würde es auf dem Gelände der Greenpoint Shipping Company von Tatort-Teams nur so wimmeln. Spurensicherer und Fotografen der Scientific Research Division, kurz SRD, würden in alle Ecken und Winkel ausschwärmen und ihren Job erledigen. Notärzte und ihre Helfer würden sich um die Verletzten kümmern, während Gerichtsmediziner und Mitarbeiter des Leichenschauhauses das Ihre taten. Cops vom zuständigen Revier des NYFD würden den gesamten Bereich absperren.
Ich beendete das Gespräch mit dem Chef und warf einen Blick in die Runde.
Chris Flynn schien von uns am gelassensten zu sein. Ich versuchte, mich in seine Lage zu versetzen. Es gelang mir nicht. Es konnte daran liegen, dass ich zu wenig über ihn wusste. Nach meinem jetzigen Wissensstand aber wäre ich an seiner Stelle nicht so ruhig geblieben wie er es war. Hätte ich eine Lebensgefährtin gehabt, die wegen vorzeitig einsetzender Wehen ins Hospital gebracht worden war, hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um jetzt endlich zu ihr zu fahren zu können – oder sie wenigstens anrufen zu dürfen.
Chris aber tat nichts dergleichen.
Er war völlig ruhig, fast schon geistesabwesend. Kellsos neuerlicher Beweis für seine Gnadenlosigkeit musste bei dem Detective unendliche Hoffnungslosigkeit ausgelöst haben. Totale Apathie. Weil er wusste, dass er auf jede Frage, die er an seinen Vorgesetzten richtete, ein »Nein!« entgegengeschmettert bekam. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Aber ich war fest entschlossen, die Dinge ins rechte Lot zu rücken. Undank war der Welt Lohn, okay. In Kellsos Fall jedoch traf das alte Sprichwort zweihundertprozentig zu. Mindestens.
Hölle und Teufel, der Einsatz war abgeschlossen. Christopher Flynn und Robert Hurley hatten an vorderster Front ihr Leben riskiert. Es durfte doch nicht wahr sein, dass einer von ihnen dafür wie der letzte Dreck behandelt wurde!
Dass Milo genauso dachte, wusste ich. Im Laufe unserer dienstlichen Partnerschaft und unserer Freundschaft hatten wir uns so gut kennengelernt, dass wir uns auch ohne Worte verständigen konnten. Milo war so entschlossen wie ich, Kellso den Marsch zu blasen. Es durfte einfach nicht angehen, dass ein Vorgesetzter seine Autorität auf diese Weise missbrauchte. Denn genau das war es, was er in unseren Augen tat. Wir waren zwar nicht berechtigt, uns in die Zuständigkeiten des New York Police Department einzumischen. Aber wir waren Zeugen des Vorfalls, und natürlich würden wir für Chris Flynn aussagen. Dazu brauchten wir nichts zu beschönigen. Wir brauchten einfach nur die Wahrheit zu sagen.
Detective Robert Hurley schien unter zwiespältigen Gefühlen zu leiden. Das mochte der Grund sein, weshalb er sich nicht äußerte. Einerseits war er seinem Partner Chris verpflichtet, andererseits wollte er es sich mit dem Lieutenant sicherlich auch nicht verderben.
Sirenengeheul näherte sich. Es kam von allen Seiten und klang völlig anders als in den Straßenschluchten von Manhattan. Brooklyn und Queens waren unsere flachsten Stadtbezirke. Es gab nur wenige Hochhäuser.
Lieutenant Gnadenlos kehrte nicht zu uns zurück, obwohl er sein Handygespräch längst beendet haben musste. Wir sahen ihn später noch an verschiedenen Stellen auf dem Gelände, wo er sich in Gespräche mit Erkennungsdienstlern und ESU-Cops vertiefte. Ich hatte den Eindruck, dass er Milo und mich und auch die beiden Undercover-Detectives absichtlich mied. Vielleicht hatte er für das Verfahren gegen Chris Flynn schon alles Erforderliche veranlasst und wollte ab sofort neutral bleiben. Ich konnte nur hoffen, dass Kellso für sein niederträchtiges Verhalten einen kräftigen Dämpfer bekam.
Milo und ich versuchten, Chris Flynn zu überzeugen, dass es völlig in Ordnung war, wenn er jetzt den Einsatzort verließ und zu seiner Frau ins Hospital fuhr. Milo und ich und auch Bob Hurley redeten mit Engelszungen auf ihn ein, aber er blieb stur.
»Ich kann hier nicht weg«, sagte er immer wieder. »Irgendwas ist hier bestimmt noch im Busch.«
Schon eine Viertelstunde später stellte sich heraus, dass er recht hatte. Der Leiter des Spurensicherer Teams rund um den Cadillac und den Lexus kam zu uns herüber und berichtete uns, dass das Kokain sichergestellt worden war. Der Teil, der sich in Staub aufgelöst hatte, war zusammengefegt und in Plastikbeutel gefüllt worden. Auch den Geldkoffer hatten die Erkennungsdienstler sichergestellt, doch dabei gab es einen Haken. Schon mit bloßem Auge war erkennbar, dass die zuvor geschlossene Oberfläche der Banknotenpäckchen in dem Koffer eine deutliche Lücke aufwies.
An der Million fehlten hunderttausend Dollar.
Es dauerte noch einmal fünf Minuten, bis ein weiterer Spurensicherer in weißem Overall erschien und einen schwarzen Windbreaker hochhielt. Eine Jacke, wie Männer in Zivil sie für schlechtes Wetter oft im Wagen liegen hatten. Der SRD-Beamte zeigte uns die Innentaschen der Jacke. Dicke Geldscheinbündel ragten heraus.
»Es sind genau hunderttausend Dollar«, erklärte er. »Wem gehört die Jacke?«
Chris Flynn trat sofort vor und sagte: »Es ist meine.«