Kapitel 3
»Weltuntergang«, sagte Salvatore »Sal« Lucca dumpf. »Was fällt dir zu dem Stichwort ein, mein Sohn?«
»Depressionen«, antwortete Peter Lucca und grinste unverschämt. »Krankhaft. Unangebracht. Weltuntergangsstimmung eben.«
»Mir würden ganz andere Sachen einfallen«, entgegnete sein Vater, und seine Augen nahmen einen harten Glanz an. »Schlimmer Fehlschlag. Größter Reinfall, den wir je erlebt haben. Miserable Planung. Noch schlechtere Ausführung. Alles Punkte, die man nicht mit einer großspurigen Handbewegung vom Tisch fegen kann.«
»Kommt ganz auf die innere Einstellung an«, konterte Peter besserwisserisch. »Wir sind doch hier in unserem Rückzugsgebiet, in unserem Paradies. Sieh dich doch um, Dad! Warum hast du dir diesen Platz für dein Haus ausgesucht? Erinnere dich an deine Worte: >Hier kann man einfach nicht auf düstere Gedanken kommen. Nicht mal bei Sturm und Regen.< Das hast du gesagt, Dad.« Die Stimme des Juniors nahm einen spöttischen Klang an. »Und ich bin noch nicht so alt, dass mir meine Erinnerung einen Streich spielen würde.«
Die Anwesenden hielten den Atem an. Keiner außer Peter hätte es gewagt, das Familienoberhaupt derart unverhohlen zu kritisieren. Würde Sal seinem Erstgeborenen die Frechheit auch diesmal durchgehen lassen? Am liebsten hätten alle den Boss erwartungsvoll angestarrt, um zu sehen, wie er reagieren würde. Aber auch das riskierte niemand. Deshalb taten die Männer das, wofür sie in dem luxuriösen Pavillon zusammengekommen waren.
Sie rührten in ihren Kaffeetassen, dass die Löffel klimperten, und gaben sich so entspannt, wie der Boss es bei einem Familientreffen wünschte. Rein äußerlich erzielten sie durchaus das Bild der Eintracht, das er sich vorstellte. Sie saßen in gemütlicher Runde, und das Sonnenlicht erreichte sie ungefiltert. Es wärmte die Luft innerhalb der großen, stahlgerahmten Glasscheiben. Es war später Vormittag, die Zeit, zu der ein Mann von Rang sich mit Freunden und Geschäftspartnern traf, um den weiteren Verlauf des Tages zu besprechen. Dies gehörte zu den lieb gewonnenen Gewohnheiten, die ihre Vorväter aus Italien mitgebracht hatten und die dort noch immer gepflegt wurden.
Salvatore Lucca hatte die ausgewählten Familienmitglieder aus diesem Anlass in den voll verglasten Pavillon gebeten. Es war ein sonniger Tag im August, und das idyllische Grundstück in Bayside hätte sich von keiner besseren Seite präsentieren können. Das Anwesen erstreckte sich über fünfzehntausend Quadratyard, und es enthielt sanft geschwungene Hügel ebenso wie windgeschützte kleine Täler, in denen sogar Palmen und andere südländische Pflanzen wuchsen.
Die Villa, ein weißer Palast mit leuchtend blauem Wasser im Swimmingpool, erhob sich mit ihren zwei ineinander verschachtelten Stockwerken und den Nebengebäuden auf dem höchsten der Hügel. Zwei weitere Anhöhen waren bebaut, die eine mit dem Pavillon, die andere mit drei flachen Blockhäusern und einem Corral. Von Baumgruppen umgeben, erinnerte das Ganze an eine Pferderanch im Wilden Westen. Von allen Hügelkuppen des Grundstücks fiel der Blick nach Nordosten weit auf die Little Neck Bay hinaus, einen der vielen großen Nebenarme, mit denen sich der Long Island Sound nach Süden hin ausbuchtete. Nordwestlich schlossen sich das Nachbargrundstück mit Peter Luccas Villa und das ausgedehnte Grün des Crocheron Parks an.
Die Bay wirkte weniger strahlend als der Pool, Reflexe der Sonnenstrahlen flirrten auf dem scheinbar endlosen, eher stählernen Blau der nur leicht gekräuselten Wasseroberfläche. Mit ihren weißen Dreiecken verliehen Segelboote und -jachten dem Panorama eine Atmosphäre von ständigem Urlaub. Salvatore Lucca hatte in dar höchsten Tönen geschwärmt, als er das traumhafte Stück Land in Bayside, Queens, gekauft hatte: >Es gibt keinen schöneren Ort auf der Welt, weder in Italien noch in Amerika.«
Zimmerpalmen ließen das behagliche Innere des Pavillons scheinbar mit dem Grün des Villenparks verschmelzen. Die Männer saßen in weichen weißen Polstersesseln, mit ihrem Kaffee und dem Gebäck auf filigranen Beistelltischen aus Schmiedeeisen und Glas. Auf einem Barwagen funkelten Flaschen, Gläser und Eiskübel im Sonnenlicht, außerdem Kristallaschenbecher und silberne Schatullen mit Zigarren und Zigaretten. Sal Lucca gehörte in der gehobenen Gesellschaft am südöstlichen Long Island Sound zu den wenigen Gastgebern, die das Rauchen weiterhin ausdrücklich erlaubten. In der Spitze des Pavillons waren die gläsernen Lüftungsklappen aufgestellt wie der Rauchabzug bei einem indianischen Tipi. Noch hatte sich allerdings niemand eine Zigarre oder eine Zigarette angezündet.
Die Atmosphäre war noch nicht entspannt genug.
Solange Sal Lucca unter der Weltuntergangsstimmung litt, konnte es in seiner Nähe keine wirkliche Entspannung geben. Und bislang ließ sich in seiner Miene keinerlei Hinweis auf freundlichere Gedanken erkennen. Sein rundes Gesicht war ausdruckslos. Unter seiner Glatze waren die buschigen schwarzen Augenbrauen das hervorstechendste Merkmal, die dunkelbraunen Augen wirkten stechend. Er war nur fünfeinhalb Fuß groß, aber schlank. Wegen seiner Launen und seiner Unberechenbarkeit wurde er hinter vorgehaltener Hand »Giftzwerg« genannt.
Als früherer Unterboss der mächtigen Gambino-Familie hatte Lucca die Zeichen der Zeit erkannt, als deren Oberhaupt, John Gotti, zu lebenslänglich verurteilt, im Gefängnis an Krebs gestorben war. Der Gambino-Clan war vorübergehend führerlos und zerstritten gewesen. Lucca hatte die Schwäche seiner früheren Verbündeten genutzt und sich seinen Teil vom großen Kuchen herausgeschnitten. Dazu hatte er sich mit seinem Familienzweig selbstständig gemacht und sich mit brutaler Härte durchgesetzt. Die Villa war das sichtbare Zeichen seines Erfolgs. Heute wohnten allerdings nur noch er und seine Frau darin.
Lucca war zweimal geschieden und zum dritten Mal verheiratet. Seine erste und seine zweite Frau hatten jeweils eigene Häuser in Florida und lebten von seinem Geld. Beide hatten nur noch über ihre Anwälte Kontakt mit ihm. Drei Kinder waren aus der ersten Ehe hervorgegangen, vier aus der zweiten. Sechs von ihnen hielten es mit dem Kontakt wie seine Ex-Frauen. Sie vertrieben sich die Zeit als Studenten und freischaffende Künstler. Alle wären ohne ihren zahlenden Daddy längst auf der Straße gelandet. Peter war der Einzige, der zu ihm hielt.
Nach minutenlangem Schweigen räusperte sich Sal Lucca vernehmlich. Schlagartig richteten sich alle Blicke auf ihn.
»Wir haben uns verhalten wie blutige Anfänger«, sagte er mit einem sonoren Bass, der in Widerspruch zu seinem eher schmalen Körperbau stand. Wie stets sprach er von seinen Untergebenen in der ersten Person Plural, als handelte es sich um eine Football oder Basketballmannschaft, die ihm gehörte. Schnaufend atmete er durch, die er weitersprach. »Wir haben viele gute Männer verloren, weil wir auf ein gottverdammtes Scheingeschäft hereingefallen sind. Wie viele Männer genau, Peter?«
»Sechzehn«, antwortete Peter kurz angebunden.
»Sechzehn tote Männer?« Die Stimme seines Vaters nahm einen scharfen Klang an.
»So ist es, Dad. Sechzehn Tote.«
»Und was ist mit den anderen? Oder gab es keine Überlebenden?«
»Doch, die gab es. Neun Mann. Mehr oder weniger schwer verletzt und festgenommen.«
»Es ist also niemand entkommen. Auch die vier Mann deiner Eingreifreserve nicht.«
»Nein, Dad.«
Sal Lucca nickte und blickte in die Runde. Leise, damit sich alle beim Zuhören anstrengen mussten, sprach er weiter. »Außerdem – daran möchte ich nur noch mal erinnern – hat die Gegenseite unseren Freund Vernon C. Resnik. Die Zahl der Negativposten summiert sich also, auf unserer Seite des Kontos, wohlgemerkt. Ich denke, so weit sind die Fakten klar.« Abermals sah er die Anwesenden an. »Wenn ich demzufolge – bildlich gesprochen – vom Weltuntergang spreche, dann rede ich nicht von der schönen Aussicht, die wir hier gemeinsam genießen können.« Er wandte sich seinem Sohn zu, und seine Stimme wurde zum Peitschenhieb. »So weit begriffen?«
»Ja, Dad.« Peter presste einen Moment lang die Lippen zusammen, dann fügte er trotzig hinzu. »Wir wissen aber, dass Kellso das alles angeleiert hat.«
»Ja, und?«, zischte Lucca senior. »Ist es deshalb weniger schlimm, was daraus geworden ist?«
»Nein, Dad.« Peter senkte betreten den Kopf.
Sal Lucca beachtete ihn nicht mehr und sah wieder die anderen an. »Es ist eine Entscheidung fällig, die ich nicht allein treffen will. Die Frage lautet: Wie gehen wir weiter vor, um wieder so gut aufgestellt zu sein wie vor dieser Katastrophe? Ich will eure Meinungen hören.«
Sein Bruder meldete sich als Erster zu Wort. Rafaello »Rafe« Lucca sah Sal ähnlich, war aber etwas größer und hatte noch seine volle schwarze Haarpracht.
»Ich bin dafür, dass wir erst einmal kleine Brötchen backen. Also – unauffällig die Standard-Beteiligungen kassieren, sofortiger Rückzug, falls uns die G-Men oder die Cops in die Quere kommen. Und vor allem: keine spektakulären Aktionen wie dieses elende Scheingeschäft.«
»Mit anderen Worten«, kommentierte Peter bissig, »wir ziehen den Schwanz ein wie ein geprügelter Hund.« Er maß seinen Onkel mit einem verständnislosen Blick. Am liebsten hätte er den Kopf über ihn geschüttelt, aber das wagte er nicht, solange sein Vater dabei war.
Uncle Rafe war Dads einziger Bruder und außerdem sein Consigliere. Seine Dienste ließ er sich viel zu teuer bezahlen, denn er war ein fauler Hund und verbrachte den Großteil seiner Zeit in privaten Glücksspielclubs. Natürlich befanden sich diese Clubs alle in jenen Bereichen von Manhattan und Queens, in denen die Luccas das Sagen hatten. Wenn er in so einem Privatclub gesehen wurde, konnte Uncle Rafe deshalb stets behaupten, er hätte sich auf einem Kontrollbesuch befunden. Und das kam verdammt häufig vor. Peter wusste, dass Rafe seinen Bruder, Dad, ausnahm wie eine Weihnachtsgans, deshalb hatte er keine gute Meinung von seinem Onkel. Aber vielleicht hatte Dad deshalb so viel Verständnis für ihn, weil die beiden ein ähnliches Schicksal teilten. Auch Rafe musste eine Menge Geld für Ex-Frauen ausgeben. Dreimal war er verheiratet gewesen, Kinder hatte er jedoch nicht.
»Es reicht jetzt!«, herrschte Sal Lucca seinen Sohn an. »Ich habe zwar um Meinungen gebeten, aber nicht um deine. Von dir haben wir genug gehört. Ist das klar?«
»Ja, Dad«, erwiderte Peter gepresst. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass sein Vater ihn vor versammelter Mannschaft zurechtwies. Aber er musste es hinnehmen, denn Rafe genoss nun einmal Narrenfreiheit. Dagegen kam man einfach nicht an.
Und Uncle Rafe reagierte wie man es von ihm nicht anders erwarten konnte. Er warf seinem Neffen einen Blick zu, grinste überheblich und griff in die Silberschachtel mit den Havannas. Demonstrativ langsam nahm er eine der teuren Zigarren heraus, betätigte umständlich den Kapselschneider und benutzte einen Anzünder aus Pinienholz. Ausgiebig paffend drehte er die Zigarre zwischen den vorgestülpten Lippen und blickte dabei erneut herüber – triumphierend diesmal. Den Grund des Triumphs lieferte Lucca senior, indem er wohlwollend nickte. Feuer frei, hieß das. Raucherlaubnis. Bestätigung für Rafe. Er bewies damit, dass er Entscheidungen treffen konnte, von denen er seinen Bruder nicht erst überzeugen musste.
Peter gestand seine Niederlage ein, indem er sich in den Sessel zurücksinken ließ. An der Qualmerei, die jetzt einsetzte, beteiligte er sich nicht. Greg Niosi war der Einzige, der ebenfalls nicht rauchte.
»Armando«, erteilte Sal Lucca seinem Unterboss das Wort.
Armando Brancale stand in der Rangordnung direkt unter Peter Lucca. Zugleich war Armando jedoch als zweiter Unterboss auch ein ernst zu nehmender Konkurrent für Peter. Denn auch Armando war für die Leitung von Außeneinsätzen zuständig. Auch rein äußerlich wirkte er wie einer, der zupacken konnte – mittelgroß und kräftig gebaut, braune Augen und dunkelblondes, halblanges Haar, harte Furchen im kantigen Gesicht. Es verstand sich beinahe von selbst, dass er sich für den Größten hielt und alles besser wusste. Natürlich machte er auch alles besser. Deshalb wusste Peter, was jetzt kommen würde.
Brancale nahm seine Havanna aus dem Mund und betrachtete den fest gerollten Tabak eine Weile, als würde er daraus Anregungen gewinnen können. Dann hob er den Kopf, streifte Peter mit einem sarkastischen Blick und sah den Senior an.
»Ich denke ...«, sagte Brancale gedehnt, »die gesamte Aktion war bestens vorbereitet. Auch ich hätte das nicht besser hingekriegt. Mein Kompliment also an dich, Peter.« Er nickte dem Junior mit einem breiten Lächeln zu.
Falsch wie die Nacht, dachte Peter. Er nickte nur, sagte nichts.
Armando ließ mit seinem vernichtenden Hieb denn auch nicht lange auf sich warten.
»Der Fehler ...«, erklärte er genüsslich und machte es erneut spannend, »lag also nicht in dem Scheingeschäft selbst, oder, besser gesagt, in dessen Abwicklung, sondern in den Vorbereitungen. Ich mache es kurz: Wie kann es angehen, dass das FBI und die Cops uns zwei Dealertypen untergejubelt haben, die längst in der Versenkung verschwunden waren? Ich meine, wer von uns prahlt denn ständig mit seinen perfekten Spanischkenntnissen und seinen erstklassigen Kontakten in Kalifornien, Mittelamerika und Südamerika?«
Alle Blicke richteten sich auf Peter. Alle grinsten. Auch der Senior.
Peter wusste, dass er auf sich allein gestellt war. Wenn er in diesem Verein von Schwachköpfen bestehen wollte, musste er die Flucht nach vorn antreten. Logisch, weil Angriff nun mal die beste Verteidigung war.
»Ich habe wohl als Einziger richtig zugehört«, sagte er daher. »Wenn ich mich nicht irre, hat mein Vater um Entscheidungshilfen gebeten – nicht um ein Herunterbeten der Fehlerliste.«
Das saß. Brancale und den anderen fiel das Grinsen aus dem Gesicht, zumal sie sahen, dass Sal anerkennend die Augenbrauen hob.
»Richtig, mein Sohn«, sagte er und wandte sich dem Unterboss zu. »Also komm zur Sache, Armando.«
Brancale schluckte und stotterte, und ihm entging nicht, dass das allgemeine Grinsen nun ihm galt.
»Wir ... wir haben ... keine große Auswahl«, sagte er rasch. Es klang lahm, als er hinzufügte: »Wir können meines Erachtens nur eines tun: Wir müssen den Festgenommenen schleunigst die besten Rechtsanwälte zur Seite stellen, die wir haben.«
»Könnte man sie nicht auch anders zum Schweigen bringen?«, warf Rafe Lucca in die Debatte. Sein Gesicht hatte einen verschlagenen Ausdruck angenommen.
»Bist du verrückt?«, sagte sein Bruder ärgerlich. »Wenn auf Rikers Island nur ein einziger Gefangener Schaden an Leib und Seele nimmt, spielen die Menschenrechtsorganisationen schon verrückt. Was meinst du wohl, was los wäre, wenn es neun von ihnen erwischt?«
Rafe schwieg betreten und versteckte sich hinter den Rauchwolken seiner Havanna, indem er heftig paffte.
Sal beachtete ihn ohnehin nicht mehr. »Greg«, sagte er. »Du bist als Letzter dran. Das bedeutet aber nicht, dass deine Meinung am wenigsten wert ist.« Der Familienboss wandte sich dem engsten Vertrauten seines Sohns zu und erteilte ihm mit einer Handbewegung das Wort.
»Ich leide nicht an Minderwertigkeitskomplexen«, erwiderte Greg Niosi und spielte damit auf seine Sonderrolle im Führungsgremium der Luccas an.
Greg war praktisch durch die Hintertür dazugestoßen, und weil er es verstand, Peter im Zaum zu halten und ihn vor allzu schlimmen Fehlentscheidungen zu bewahren, hatte er bei Sal einen Stein im Brett. Rafe und Armando dagegen hielten Greg für einen raffinierten Wichtigtuer, der Peters Schwächen ausnutzte, um sich selbst in den Vordergrund zu drängen.
»Zur Sache, Greg«, forderte Armando Brancale denn auch prompt. »Die persönlichen Dinge kannst du mit deinem Psychotherapeuten besprechen.«
»Ich habe keinen«, antwortete Greg. »Aber wenn ich einen brauchte, würde ich mir eine Therapeutin aussuchen.«
»Armando«, sagte Lucca senior scharf. »Du bist nicht dran. Schon vergessen?«
»Nein, Sal«, erwiderte Brancale zerknirscht.
»Dann verschwende unsere Zeit nicht mit Nebensächlichkeiten.« Abermals erteilte der Boss dem Consigliere seines Sohns das Wort.
»Der Abschuss der Drohne«, sagte Niosi knapp, »und natürlich der Abschuss des NYPD-Agusta waren die letzten Erfolge unseres eigenen Hubschraubers. Danach ging alles schief, weil wir mit dem Jet Ranger des NYPD nicht gerechnet hatten. Und wem wir die Niederlage letztlich zu verdanken haben, wissen wir durch den letzten Funkspruch aus unserem Bell. Unsere Piloten konnten noch melden, dass alle aus dem Agusta gerade noch rausspringen konnten. Also ...«, Greg Niosi machte eine bedeutungsschwere Pause, die er fortfuhr, »kann meine Entscheidungshilfe nur lauten: Wir müssen uns die Verursacher unserer Niederlage vornehmen, und zwar besonders gründlich, ja, man könnte fast sagen – liebevoll.«
Peter lachte. Sein Vater schmunzelte. Rafe und Armando beobachteten es mit sichtlichem Unbehagen.
»Diese Verursacher ...«, sagte Sal und nickte Greg Niosi wohlwollend zu. »Ich nehme an, wir kennen sie alle.«
»Natürlich«, antwortete Niosi. »An erster Stelle sind Trevellian und Tucker zu nennen. Aber wir müssen Kellso fast gleichrangig betrachten. Vergessen wir nicht, dass er für die Undercover-Cops in seinem Laden zuständig ist. Also dürfte er auch die Einzelheiten für das Scheingeschäft eingefädelt haben – zusammen mit den G-Men natürlich.«
»Trevellian und Tucker«, murmelte Sal Lucca nachdenklich, als müsste er sich die Namen besonders gut einprägen. »Und Kellso, der Gnadenlose.«
»Lieutenant Gnadenlos«, korrigierte Peter seinen Vater. »Der Mistkerl wird natürlich weiter versuchen, uns ans Bein zu pinkeln. Aber er macht sich das Leben selbst schwer. Er lebt in ständigen Spannungen mit seinen Detectives. Das werden wir ausnutzen.« Peter senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Ton. »Ich habe eine kleine Schweinerei vorbereiten lassen, als es noch ging, praktisch in letzter Minute.« Rasch schilderte er die Einzelheiten, und diesmal hingen alle Blicke wie gebannt an seinen Lippen.
Nach einem Moment überraschten Schweigens lobte ihn sein Dad: »Hervorragende Idee, mein Sohn. Das nenne ich kreatives Denken.«
Rafaello Lucca, Armando Brancale und Greg Niosi klatschten Beifall in trauter Gemeinsamkeit. Sie wussten, dass sie es ihrem Boss und seinem Sohn schuldig waren, trotz aller Kritik, die sie an Peter nun einmal zu äußern hatten. Das Klatschen half ihnen auch dabei, nicht übertrieben auffällig nach draußen zu blicken. Denn dort, auf einem der Wege des Villenparks, schlenderte in diesem Augenblick Sal Luccas Ehefrau vorbei.
Sie war eine strahlende junge Schönheit, schlank und blond, in einen eng anliegenden weißen Sportanzug gekleidet. Jacqueline Lucca, geborene Morris, war dreißig Jahre jünger als ihr Ehemann. Sie winkte zum Pavillon herüber, und Sal erwiderte ihr Winken. Nur ihm stand das zu, das hatte er von Anfang an klargemacht. So verlor auch niemand ein Wort darüber, dass Jacquelines Ziel bekannt war.
Unten am privaten Bootssteg der Luccas wartete ihr Segellehrer, ein hoch gewachsener dunkelhaariger Sportlertyp von Ende zwanzig, der aussah wie ein Hollywoodstar.
*
Die Tür zum Vorzimmer unseres Chefs flog auf, als wir eintreten wollten. Milo und ich verharrten. Unsere Kollegen Clive Caravaggio und Orry Medina stürmten heraus.
»Aus dem gemeinsamen Morgenkaffee wird nichts«, ließ Clive uns im Vorbeieilen wissen. Er war groß, athletisch und flachsblond wie ein Skandinavier, trotz seiner italienischen Vorfahren. Orry war schlank und dunkelhaarig und von indianischer Abstammung.
»Williams hat einen Selbstmordversuch unternommen«, rief Orry, während sie schon den Korridor hinunterliefen, auf die Fahrstühle zu.
Mehr brauchte er nicht zu erklären. Harold Williams war Kronzeuge in einem Mordprozess und hatte es abgelehnt, ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden. Weil es um zwei Angeklagte aus dem organisierten Verbrechen und um insgesamt achtundzwanzig Morde ging, die ihnen zur Last gelegt wurden, konnte es sein, dass Williams' Selbstmordversuch in Wirklichkeit ein Mordversuch war. Die Kollegen mussten zur Stelle sein, falls er noch etwas zu sagen hatte, das er bislang verschwiegen hatte.
Mandy, die Sekretärin des Chefs, begrüßte uns gut gelaunt wie immer und ließ uns wissen, dass der Kaffee bereitstand. Sie wusste, wie sehr wir den heißen Lebenswecker zu schätzen wussten, den sie so unvergleichlich zubereitete.
»Clive und Orry müssen dringend nach Rikers Island«, empfing uns der Chef. »Die beiden erhalten eine Aufzeichnung unseres Gesprächs.«
Auf eine Handbewegung Mr McKees setzten wir uns an den Besuchertisch und bedienten uns aus der Kaffeekanne. Milo und ich waren es gewesen, die um Clives und Orrys Teilnahme an diesem Gespräch gebeten hatten. Wenn es in einem gemeinsamen Team von NYPD und FBI Differenzen gab, war es stets ratsam, neutrale Kollegen dazuzuholen. In dem Punkt waren wir uns auch mit dem Chef einig.
»Keine Neuigkeiten, Sir«, sagte ich. Mr McKee wusste, was ich meinte.
Anne Catherine Perkins, Christopher Flynns Lebensgefährtin, ging es den Umständen entsprechend gut, aber sie hatte ihr Kind noch nicht zur Welt gebracht. Wir hatten es unterdessen geschafft, ihn zu ihr zu bringen, ins Bellevue Hospital, obwohl er sich beinahe mit Händen und Füßen gesträubt hatte. Seit die hunderttausend Dollar in seiner Jacke gefunden worden waren, rechnete er fest mit seiner Suspendierung. Dass Flynn scheinbar versucht hatte, einen Teil des Drogengelds zu unterschlagen, war für Kellso ein gefundenes Fressen. Davon hatte Chris uns nicht erst überzeugen müssen. Dass Chris die Jacke, in der die Dollars steckten, sofort als seine identifizierte, hatte den Lieutenant nicht im Mindesten beeindruckt. Dem Detective sei ja nichts anderes übrig geblieben, hatte er trocken bemerkt.
»Haben Sie noch einmal mit Kellso gesprochen?«, erkundigte sich der Chef.
»Wir haben es versucht«, antwortete ich.
»Er will nicht mit uns reden«, fügte Milo hinzu. »Weil wir uns in einem schwebenden Verfahren befinden, wie er sagt. Mit anderen Worten: Er hat das Internal Affairs Bureau eingeschaltet.«
Mr McKee stützte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte, faltete seine schlanken Künstlerhände und legte das Kinn darauf. Sein kurz geschnittenes silbergraues Haar schimmerte im hereinfallenden Tageslicht.
»Das hat Seltenheitswert«, sagte er nachdenklich. »Ein Cop, der sich den Feind im eigenen Haus selbst auf den Hals holt.«
»Er hat im IAB einen guten Kontakt«, erklärte ich. »Der Mann heißt Cliven Oates. In der NYPD-Abteilung für innere Angelegenheiten hat er den Rang eines Inspectors.«
»Sind Oates und Kellso persönlich befreundet?«, fragte Mr McKee.
»Captain Murtaugh, sein Revierleiter, sagt, ja«, antwortete ich. »Kellso hat sonst keine Freunde.«
»Wenn das so ist«, erwiderte der Chef, »könnte Detective Flynn den Inspector wegen Befangenheit ablehnen.«
»Würde das an der Sache etwas ändern?«, warf Milo zweifelnd ein.
»Wir werden es bald wissen«, kündigte Mr McKee an. Mit ein paar Mausklicks rief er eine E-Mail auf den Bildschirm seines Computers. »One Police Plaza hat mir einen Termin geschickt. Heute, zwei Uhr nachmittags, im fünften Revier. Vorbesprechung zur Verfahrenseröffnung gegen Christopher Flynn. Ihr Termin, Jesse und Milo.«
Wir bestätigten den Auftrag, und ich fragte: »Wer wird außer uns dabei sein, Sir?«
Der Chef las die Namen vom Bildschirm ab: »Captain Murtaugh, Inspector Oates, Lieutenant Kellso, und die Detectives Flynn und Hurley.« Mr McKee wandte sich wieder uns zu. »Was ist los mit Kellso? Warum wird er Lieutenant Gnadenlos genannt, und warum schikaniert er Detective Flynn? Man könnte meinen, dass er einen regelrechten Hass auf Flynn entwickelt hat. Hat er sich Ihnen gegenüber irgendwie dazu geäußert?«
Milo und ich verneinten.
»Wir können nur Vermutungen anstellen«, sagte ich. »Tatsache ist, dass Christopher Flynn bereits eine außergewöhnliche Karriere gemacht hat – so kurz seine bisherige Dienstzeit auch gewesen sein mag.«
»Drei Jahre«, ergänzte Milo.
Ich nickte. »Die letzten zwei in der Kriminalabteilung des fünften Reviers. Nach der High School hat er Jura studiert, Kampfsport betrieben und als Guardian Angel bei Curtis Sliwa gearbeitet. Daneben hat er noch am Kadettenprogramm des New York Police Department teilgenommen. Nach Abschluss des Studiums folgten eine verkürzte Ausbildungszeit an der Police Academy und die Aufnahme in den regulären Polizeidienst.«
»Ich erinnere mich an den jungen Mann«, sagte Mr McKee. »Sein erstes Dienstjahr hat er schon im fünften Revier absolviert. Während dieser Zeit sorgte er für Schlagzeilen, als er eine Kollegin vor Vergewaltigung rettete und die beiden Täter überwältigte und festnahm. Ich war damals zu dem Festakt eingeladen, als Police Commissioner Kelly und Bürgermeister Bloomberg ihn mit einer Verdienstmedaille auszeichneten und vom Police Officer zum Detective beförderten – nach nur einem Dienstjahr!«
»Und dann kam Chris Flynn ausgerechnet in Irving Kellsos Abteilung, praktisch von außerhalb zugewiesen«, spann Milo den Faden weiter. »Flynn muss dem Lieutenant von Anfang an ein Dom im Auge gewesen sein.«
»Aus Neid?«, mutmaßte der Chef.
»Durchaus möglich«, antwortete ich. »Zumal sich abzeichnet, dass Flynns Karriere weiter steil nach oben gehen wird. Nach seiner praktischen Dienstzeit wird er die gehobene Laufbahn einschlagen und dann, mit der Beförderung zum Lieutenant, zunächst als Ausbilder an den juristischen Zweig der Police Academy wechseln. Danach wird es wohl nicht lange dauern, bis er als Captain in den Führungsstab des Departments versetzt wird.«
»Natürlich sieht Kellso das alles voraus«, folgerte Milo. »Deshalb legt er Flynn Steine in den Weg, wo er nur kann. Wahrscheinlich kann er den Gedanken nicht ertragen, dass der Mann eines nicht so fernen Tages rangmäßig über ihm stehen wird.«
Jonathan D. McKee schob einen Stapel Schnellhefter zur Seite. »Captain Murtaugh und die anderen Lieutenants im fünften Revier haben damit keine Probleme, nehme ich an.«
»Überhaupt nicht«, antwortete Milo. »Obwohl Murtaugh der Erste wäre, der sich darüber beklagen könnte, dass jemand über seinen Kopf hinweg befördert wurde.«
»Wie verhält sich Kellso anderen Untergebenen gegenüber?«, wollte der Chef wissen.
»Ähnlich rücksichtslos«, entgegnete ich. »Deshalb haben sie ihm ja auch den Spitznamen verpasst. Nur bei Flynn ist seine Abneigung besonders groß.«
Mr McKee nickte versonnen. »Spielt Kellsos persönlicher Hintergrund bei seinem Verhalten eine Rolle?«
Milo und ich wechselten einen Blick. Wir wussten beide genau, worauf der Chef mit seiner Frage hinauswollte. Wir hatten dem Gremium angehört, das über die personelle Zusammensetzung der OCU, der Organized Crime Unit, entschieden hatte. Es ging einfach nicht an, dass wir jemanden ins Boot geholt hatten, der etwa wegen seiner Charakterschwäche für den Job völlig ungeeignet war. Immerhin repräsentierte unsere Spezialeinheit die vereinten Kräfte des FBI und des NYPD im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Für diesen Kampf mussten wir unsere ganze Energie einsetzen, da gab es keinen Platz für Missgunst und Feindseligkeiten.
»Als wir den Spitznamen Lieutenant Gnadenlos zum ersten Mal hörten«, erklärte ich, »haben wir ihn einfach für einen besonders strengen Vorgesetzten gehalten, der sich aber stets an die Dienstvorschriften hält ...«
»Und sie bis auf Punkt und Komma genau anwendet«, bekräftigte Milo. »So wurde es uns auch von Captain Murtaugh und anderen beschrieben. Und als wir Irving Kellso kennenlernten, konnten wir nichts Gegenteiliges an ihm feststellen. Von seinem Hass auf Christopher Flynn erfuhren wir erst, als der Undercover-Einsatz am Newtown Creek schon lief.«
»Was Kellsos privaten Hintergrund betrifft«, fügte ich hinzu, »gibt es nach wie vor nichts Negatives. Er ist geschieden und lebt allein. Mehr ist nicht bekannt. Während unseres Einsatzes wurde er allerdings ein paar Mal von Handy-Anrufen belästigt, die ihn wütend machten. Vielleicht war es ihm auch nur unangenehm, dass es in unserer Gegenwart geschah.«
»Wer von uns wir nicht gelegentlich von verschmähten Geliebten belästigt?«, sagte Milo und zwinkerte mir zu. »Irving hat ein Recht darauf wie jeder andere.«
»Nichts dagegen einzuwenden«, stimmte Mr McKee zu. »Nur mit Kellsos Verbohrtheit können wir uns nicht abfinden. Ich werde mit Mr Homer sprechen. Vielleicht können wir Lieutenant Gnadenlos auf den Boden der Tatsachen zurückholen.«
Edward G. Homer war der Leiter der Field Operation, Section East. Ihm unterstanden alle Field Offices des FBI an der Ostküste, von Maine bis Florida. Folglich war Mr Homer, der seinen Dienstsitz im FBI Hauptquartier in Washington DC hatte, auch direkter Vorgesetzter unseres Chefs.
Ein feinsinniges Lächeln umspielte Jonathan D. McKees Mundwinkel. So sah er meistens dann aus, wenn er etwas im Hinterkopf hatte, worüber er erst reden würde, wenn es spruchreif war.
*
»Mafia-Romantik«, sagte Milo, als wir ein Stück auf der Canal Street fuhren. Er zeigte auf die linke Straßenseite. »Das war hier früher eine echte Touristenattraktion. Und jetzt? Alles weg. Na ja, fast alles.«
Milo meinte Little Italy. Die Zeiten, von denen er redete, lagen noch nicht mal so lange zurück. Da war die Canal Street eine echte Trennlinie gewesen. Links Little Italy, rechts Chinatown. Heute gab es auf der linken Seite fast genauso viele chinesische Schriftzeichen wie rechts. Das Italienische an Little Italy war auf dem Rückzug, die Chinesen breiteten sich aus.
»Was ist?«, fragte Milo verwundert, als ich nicht antwortete.
»Was soll sein?« Ich betätigte den Blinker links und ordnete mich zur Mitte hin ein, rechtzeitig vor der Bowery-Kreuzung und der Auffahrt zur Manhattan Bridge.
»Normalerweise widersprichst du mir, wenn ich etwas sage.« Milo angelte das Funkmikro aus der Halterung, wie immer, wenn wir kurz vor dem Aussteigen waren.
»Nicht grundsätzlich«, sagte ich und bog in die Elizabeth Street ab. »Ich widerspreche dir nur, wenn du etwas Falsches sagst.« Ich grinste. »Das ist allerdings meistens der Fall.«
»Womit habe ich das verdient?«, stöhnte Milo, lehnte den Hinterkopf an die Kopfstütze und blickte Hilfe suchend Richtung Himmel. »Schade, dass es deine Partei nicht mehr gibt«
»Welche Partei?«
»Die Know-Alls, die Besserwisser.«
»Du meinst die Know-Nothings, die Nichtswisser. Neunzehntes Jahrhundert. Die korrekte Bezeichnung lautete American Party. Besserwisser gab's nicht.«
Milo seufzte ergeben. »Gut, dass wir nicht zusammen zur Schule gegangen sind. Mit Strebern konnte ich mich nie anfreunden.« Er schaltete das Mikro auf Senden und gab an die Zentrale durch: »Erreichen fünftes Revier. Verlassen das Fahrzeug.« Er klinkte das Mikro ein und löste den Verschluss des Sicherheitsgurts.
Ich lenkte den Sportwagen in eine freie Besucher-Parkbucht vor dem Reviergebäude. Bis zum Beginn der Besprechung hatten wir noch zwei Stunden Zeit. Wir waren absichtlich früh losgefahren und hatten uns vorgenommen, in unserer Mittagspause ein bisschen von dem zu schnuppern, was Milo Mafia-Romantik nannte. Gleich nebenan, in der Mott Street, gab es nämlich, mittlerweile eingeklemmt von China-Läden, ein Stück vom alten Little Italy: »Da Nino«, ein italienisches Restaurant wie aus dem Mafia-Bilderbuch. In der Blütezeit der fünf New Yorker Familien sollte es sogar das Stammlokal des berüchtigten Gambino-Clans gewesen sein. Kein Wunder, es gab dort auch heute noch das beste Saltimbocca von ganz New York. Selbst die Fernsehleute hatten sich davon anlocken lassen und im Hinterzimmer eine Szene für die Sopranos gedreht, die berühmte Mafia-Serie.
Ich wollte den Motor abstellen, doch ich ließ ihn laufen.
Milo ließ den Gurtverschluss wieder einrasten.
Wir brauchten nichts zu sagen, denn die Erklärung kam auf uns zu.
So sah es aber nur im ersten Moment aus, als Lieutenant Gnadenlos aus der dunkel verglasten Eingangstür mit dem Wappen des New York Police Department ins Freie trat. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte er das Handy am Ohr und redete – wütend, wie es aussah. Heftig gestikulierend kam er die vier, fünf flachen Treppenstufen herunter.
Milo öffnete die Seitenscheibe nur um zwei Finger breit, damit es nicht auffiel, aber hören konnten wir trotzdem nichts. Daran änderte sich auch dann nichts, als Kellso direkt vor unserer Motorhaube ankam und nach links schwenkte. Deutlich sahen wir aber sein verzerrtes und gerötetes Gesicht. Hatte er wieder einen dieser Anrufe, die ihn so aufregten? Wie auch immer, bei allem Zorn dämpfte er seine Stimme. Er wollte also nicht durch Wutgebrüll vor dem Reviergebäude auffallen. Uns bemerkte er nicht, obwohl er meinen Sportwagen kannte. Ich hatte ihm die Technik des Renners bei einem unserer ersten Treffen zu Beginn unserer Zusammenarbeit erklärt. Das Telefongespräch musste ihn so sehr in Anspruch nehmen, dass er von seiner Umgebung kaum etwas wahrnahm.
Milo sah mich an, ich nickte.
Wir waren uns einig. Mein Freund rief die Funkzentrale und machte seine vorherige Meldung rückgängig. Ich wartete, bis Kellso vier Parkbuchten zu unserer Linken in seinen Wagen stieg und losfuhr. Als ich den Sportwagen hinausrangierte, hatte der Lieutenant bereits die Straße erreicht und fädelte sich in nördlicher Richtung in den fließenden Verkehr ein. Er fuhr einen weinroten Chrysler Sebring, das neueste Modell, mit Sechszylindermaschine. Ich ließ ihm drei Fahrzeuglängen Vorsprung und achtete auch anschließend darauf, dass zwischen ihm und uns mindestens drei, manchmal sogar vier oder fünf Fahrzeuge waren.
»Glaubst du, dass sie im Revier wissen, wohin er fährt?«, fragte Milo.
»Gehen wir erst mal davon aus, dass sie es nicht wissen«, antwortete ich.
»Also Funkstille.«
Ich nickte abermals.
Schon zwei Blocks weiter bog Kellso nach rechts in die Grand Street ab.
Er war der einzige Abbieger, deshalb waren wir froh, dass die Ampel vor uns auf Rot umsprang. Als wir Grün bekamen, hatte der Querverkehr uns kräftig geholfen. Vor uns, in der Grand Street, war der Chrysler das achte Auto, das in Richtung East River rollte. Milo strengte sich an, indem er sich nach links und nach rechts beugte und den Hals reckte, um es rechtzeitig mitzukriegen, falls Kellso abbiegen sollte. Ich konzentrierte mich unterdessen aufs Fahren und schaffte es, den Abstand auf fünf Fahrzeuge zu verkürzen.
Wir hatten die Bowery und drei weitere Querstraßen hinter uns gelassen und näherten uns der Kreuzung Grand und Allen Streets. Diesmal sprang die Ampel noch vor dem Chrysler Sebring um. Kellso stoppte, und wir kamen zum Stehen, nachdem ich auf Vierer-Abstand verkürzt hatte. Diesmal konnte ich die weinrote Karosserie besser sehen als Milo. Der Lieutenant hatte auf die mittlere Spur gezogen, fuhr also geradeaus. Die rechte Spur war zum Abbiegen in die Allen Street gedacht.
Weitere drei Blocks vor uns erhoben sich jetzt die Wohntürme der Seward Park Houses. Weitere Wohnanlagen folgten zum East River hin, die Hillman Houses und auf der anderen Seite der Auffahrt zur Williamsburg Bridge der riesige Komplex der Baruch Houses. Die Grand Street und die Clinton Street kreuzten sich in der Mitte des Wohngebiets, das nach dem Seward Park benannt war.
Ich hatte keine Mühe, Kellso zu folgen, als er ein Stück nach Süden in die Clinton hineinfuhr. Er bog nach links auf den Parkplatz eines der Wohnblocks ab. Ich fand ein freies Stück Seitenstreifen schräg gegenüber. Wir checkten unsere Handys und die Walkie-Talkies, beides funktionierte. Aus dem Handschuhfach nahm ich das Taschenfernglas und steckte es ein. Milo hielt die Stellung am Funkgerät und am Computer Terminal, während ich Lieutenant Gnadenlos zu Fuß auf den Fersen blieb. Ich nutzte die Buschgruppen der Grünanlagen, Mülleimer-Verschläge und Werbetafeln als Sichtschutz. Überall lag Unrat herum, besonders unter den Büschen. Sämtliche ehedem freien Flächen waren beschmiert mit halbfertigen Graffiti oder sinnfreiem Gekritzel.
Ich erreichte den Verbindungsweg vom Parkplatz zu Gebäudeblock A, als Kellso bereits auf den Eingang zuging. Er blieb vor der Tafel mit den Klingelschildern stehen. Ich reagierte sofort, nahm das Fernglas ans Auge und machte einen schnellen Schritt nach rechts. Dort, hinter einer Hecke, die eine Parkbanknische umrahmte, fand ich Deckung. Rechtzeitig, um Kellso anzuvisieren. Ich hatte ihn im Halbprofil, schräg von hinten links.
Der Zeigefinger seiner rechten Hand kam ins Blickfeld, als er auf die äußerste linke der Klingelschilderkolonnen zufuhr. Er brauchte nicht zu suchen. Seine Wahl traf auf den zweiten Klingelknopf von unten. Zwei Sekunden später betrat er das Haus. Wen er auch besuchen mochte, der oder die Betreffende musste auf ihn gewartet haben und hatte deshalb sofort den Türöffner betätigt.
Ich steckte das Fernglas ein und nahm stattdessen das Handy aus der Tasche. Ich wählte Milos Nummer und ging auf den Hauseingang zu. Mit knappen Worten schilderte ich, was gelaufen war, dann las ich Milo den Namen auf dem Klingelschild vor. Ein Computerausdruck, das Papier leicht angegilbt, aber immer noch gut zu erkennen.
»C. Ames«, sagte ich und buchstabierte es zusätzlich.
»Bleib dran«, erwiderte Milo.
Mit dem Handy am Ohr schlenderte ich in die andere Ecke des Hauseingangs – wie jemand, auf dessen Klingeln niemand reagierte hatte und der es nun telefonisch versuchte. Zwar haben wir in den Vereinigten Staaten kein Einwohnerregister, aber das weltweite Netz und seine Suchmaschinen leisten uns oftmals wertvolle Dienste. Milo versuchte es zuerst über Google.
»Ungefähr zehntausend Einträge über die Ames Brothers«, berichtete er. »Das war ein Gesangsquartett in der Steinzeit, Fünfzigerjahre letztes Jahrhundert, mehrfach in den Top Ten, damals.«
»Aha«, brummte ich und tat, als hätte ich von den berühmten Ames-Jungs noch nie gehört. Schließlich wollte ich nicht schon wieder als Alles oder Besserwisser dastehen. Stattdessen hörte ich zu, wie Milo leise murmelnd die Eintragslisten über den Bildschirm rollen ließ.
»Aber hier!«, rief er unvermittelt. »Das wäre doch schon mal was. Clarissa Ames, Schauspielerin, eigene Website und ein Fan-Forum.«
»Nie gehört«, sagte ich.
»Ich auch nicht. Also sehen wir mal nach.« Wieder Gemurmel, dann fasste Milo zusammen, was er gesehen und gelesen hatte: »Ames ist ihr Künstlername und gleichzeitig auch ihr Mädchenname. Den hat sie wieder angenommen, als sie geschieden wurde.«
»Von wem?«
»Steht hier nicht. Die Scheidung war vor zehn Monaten, die Ehe hatte zwölf Jahre gehalten. Genauso alt ist ihre Tochter Denise. Clarissa hat ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu ihr, steht hier.«
»Was heißt das?«, fragte ich stirnrunzelnd. »Das klingt so, als würde das Mädchen nicht bei ihr wohnen.«
»Sehe ich auch so, aber hier wird nichts über das Sorgerecht erwähnt.«
»Kommt mir vor wie eine ungepflegte Website.«
»Stimmt auch. Warte mal, ich glaube ja, das könnte die Erklärung sein. Hier ist eine Liste ihrer Fernsehrollen, nur Fernsehen, kein Theater, kein Kinofilm. Tja, das waren alles nur Schmonzetten. Und sie hatte nur Nebenrollen. Ein Star wäre was anderes. Die einzigen länger dauernden Engagements hatte sie in zwei Telenovelas. Die letzte endete vor dreieinhalb Jahren.«
»Danach nichts mehr?«
»Scheint so zu sein. Das würde vielleicht erklären, weshalb sie hier wohnt.«
»Mhm. Eine arbeitslose Schauspielerin, alleinstehend, zwölfjähriges Kind ...« Ich blickte auf die anderen Wohnsilos. »Wahrscheinlich geht es ihr überhaupt nicht gut. Wenn sie es ist, die Kellso mit Anrufen nervt, dann könnte sie seine Ex-Frau sein, und er muss gute Gründe haben, weshalb er nicht über sie redet.«
»Ich gehe kurz ins Forum«, kündigte Milo an. »Da werden ja meist klarere Worte gebraucht.« Wieder folgte gemurmeltes Querlesen, dann die entscheidenden Zitate aus den Mailings. »Na ja, sehr viele Fans scheint es nicht gerade zu geben. Hier schreibt einer, schon vor einem Jahr: >Weiß jemand, wann wir mal wieder was von Clarissa im TV sehen? Ich hab sie schon ein paar Mal direkt gefragt, aber auf E-Mails antwortet sie anscheinend nicht. Jedenfalls nicht auf meine.< Dazu schreibt dann ein weiblicher Fan: >Mann, wo lebst du? Clarissa bringt's nicht mehr. Das weiß doch nun jeder, der Zeitung lesen kann. Sie kriegt keine Engagements mehr, keiner will sie mehr haben. Und ist das ein Wunder? Die Gute ist Alkoholikerin, wer weiß wie lange schon. Gegen Drogen hat sie auch nichts einzuwenden. Dreimal wurde sie deswegen allein in diesem Jahr schon festgenommen, und außerdem haben die Cops spitzgekriegt, dass sie mit dem Zeug auch handelte Darauf antwortet ein anderer: >Wen wundert's? Von irgendwas muss sie ja leben, wenn sie in diesen Schundfilmchen nicht mehr spielen darf. Ja, so geht der große Traum von Hollywood den Bach runter. Ich möchte nicht wissen, wie vielen Möchtegern-Stars das schon vor Clarissa passiert ist.< Dazu äußert sich wieder der weibliche Fan von vorhin: >Das schöne Kind ist labil, kapiert ihr das denn nicht? Ihre Misere fing an, als sie sich von diesem Cop getrennt hat. Der Kerl soll zwar ein Stinkstiefel sein, aber er hat ihr wenigstens Halt gegeben. Seit zehn Monaten sind sie geschieden, aber davor waren sie bestimmt schon ein ganzes Jahr getrennt.« Milo holte Luft und fügte hinzu: »Von der Tochter wird hier nichts erwähnt.«
»Dafür wird ein gewisser Stinkstiefel genannt, der auch noch Cop ist. Scheint so, als ob das ein anderes Wort für Lieutenant Gnadenlos ist.«
*
Den Geruch kriegte man aus diesen Häusern wohl nie mehr heraus. Kellso war froh, dass er nur in den zweiten Stock musste und die Treppe nehmen konnte. Obwohl auch dort von Sauberkeit keine Rede sein konnte, war es erträglicher als in den Fahrstühlen, wo es einem die Kehle zuschnürte. Über Jahrzehnte hatten die Wände alles aufgesogen ‒ alles von Kochdünsten über Zigarettenrauch, verschüttetem Bier und verfaulten Speiseresten bis hin zu Urin und anderen Hinterlassenschaften von Hunden und Menschen.
Die Wände atmeten es immer wieder aus, selbst wenn sie einmal im Jahr neu gestrichen wurden. Der Urgestank überlagerte den frischen Duft neuer Farbe spätestens nach einer Woche wieder. Es war niederschmetternd. Wo viele Menschen auf engem Raum zusammenlebten, schienen Unordnung und Dreck eine zwangsläufige Folge zu sein. Ebenso Gewalttaten. Wozu sonst gab es eine Housing Police, die Unterabteilung des NYPD, deren Cops in Wohnlagen wie hier am Seward Park stationiert waren?
Kellso hatte keinen Wohnungsschlüssel, brauchte ihn auch nicht. Er würde nicht lange fackeln und die Tür eintreten, wenn es sein musste. Es reichte ihm jetzt. Seine Geduld war am Ende. Clarissa verstieg sich in Forderungen, die nicht nur unsinnig waren, sondern auch eine Menge Geld kosten würden, wenn sie damit weitermachte. Geld, das letztlich wieder er aufbringen musste, denn sie hatte ja nichts. Alkohol und Drogen fraßen ihren Verstand auf, langsam aber sicher. Anders war ihr Verhalten nicht mehr zu erklären.
Das Handy vibrierte in seiner Tasche. Nicht schon wieder, dachte er und schloss entnervt die Augen, als er es hervorzog. Er hatte den ersten Stock erreicht, blieb vor der Fahrstuhltür stehen. Von irgendwo, ganz in der Nähe, waren helle Mädchenstimmen zu hören. Im ersten Moment erschrak er, weil er an Denise dachte. Aber sie konnte nicht hier sein, völlig ausgeschlossen. Sie war ihrer verkommenen Mutter nicht länger ausgeliefert. Wenigstens dafür hatte er gesorgt.
Er atmete auf, als er das Handy-Display ansah.
»Cliven«, sagte er, nachdem er die Empfangstaste gedrückt hatte. »Was gibt's?«
»Du weißt, ich dürfte dich eigentlich nicht anrufen«, antwortete Inspector Cliven Oates. »Jedenfalls nicht privat. Wir befinden uns in einem schwebenden Verfahren, das weißt du auch.«
»Natürlich, ich habe es ja selbst in Gang gebracht.« Kellso sprach gedämpft, damit es im Treppenhaus nicht nachhallte.
»All right«, erwiderte der Inspector des Internal Affairs Bureau. »Aber darüber reden wir jetzt nicht. Ich habe versucht, dich im Revier zu erreichen. Du hast dich nicht abgemeldet. Wo steckst du?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
»Menschenskind, Irv, tu jetzt nichts, was dir später leidtun könnte.«
Irving Kellso schüttelte den Kopf. »Du hörst dich an, als wäre ich ein gottverdammter Killertyp.«
»Du sollst wie ein angestochener Stier aus dem Revier gerannt sein.«
»Ach, haben die lieben Kollegen dir das berichtet?«
»Ich habe sie gefragt, wo du bist. Sie sind dazu verpflichtet, mir alle Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Das weißt du.«
»Okay. Und jetzt weißt du, wo ich bin«, entgegnete Kellso pikiert. »Was noch? Unser Termin ist erst um zwei. Ich habe also noch jede Menge Zeit, um eine Affekthandlung zu begehen.«
»Zu so einem Unsinn sage ich nichts«, knurrte Oates.
»Weshalb rufst du mich dann an?«
»Um dich zu warnen, Irv. Mach deine Lage nicht noch schlimmer.«
»Waaas?« Kellso bekam den Mund nicht wieder zu. »Ich? Meine Lage? Sag mal ... Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein! Ich bin derjenige, der das Verfahren angestrengt hat. Muss ich das dauernd wiederholen?«
»Nein«, sagte Oates schroff. »Aber es wird nicht so laufen, wie du es dir vorstellst. Auch ich muss mich wiederholen: Ich rufe dich an, obwohl ich es eigentlich nicht dürfte. Deine Sache gegen Flynn könnte nach hinten losgehen.«
»Das sagst du? Verdammt, Cliven, du hast es doch in der Hand, diesem Mistkerl die Leviten zu lesen!«
»Dazu kann ich jetzt nichts sagen, bei aller Freundschaft nicht. Aber nur so viel: Zieh dich warm an und überleg dir jedes Wort, das du von dir gibst.«
»Das glaube ich nicht!«, stöhnte Kellso fassungslos. Er spürte Wut in sich aufsteigen.
»Du wirst es müssen. Und vor allem: Lass Clarissa in Ruhe, wenn es dafür nicht schon zu spät ist.«
»Himmel noch mal! Sie will das Sorgerecht für Denise! Mit aller Gewalt. Seit Tagen und Wochen macht sie mich damit verrückt. Jetzt hat sie sogar einen neuen Anwalt beauftragt. Wovon sie den bezahlen will, weiß der Hexer.«
»Vergiss nicht, dass sie immer noch diesen Fernseh-Bonus hat. Sie war zwar kein Superstar, aber doch relativ bekannt.«
»Du meinst, der Anwalt könnte den Job pro bono übernehmen, wenn sie als Gegenleistung die Beine für ihn breitmacht?«
»So krass wollte ich das nicht ausdrücken. Nichts für ungut, Irv.«
»Vergiss es. Diese Frau ist eine Hure. Das hat schon angefangen, als wir noch verheiratet waren. Deshalb hat sie vor keinem Gericht dieser Welt eine Chance.«
»Wenn dir das klar ist, was willst du dann bei ihr?«
»Ihr die Meinung sagen. Sie von dem Wahnsinn abbringen. Vor allem muss ich Denise vor der verdammten Hexe schützen.«
»Menschenskind, Irv, sie will dich doch nur herausfordern, dir die Stärke zeigen, die sie noch zu haben glaubt. Also kümmere dich nicht darum. Lass sie einfach in Frieden. Hast du verstanden?«
»Ja, verdammt!«, fauchte Kellso. In Wirklichkeit verstand er überhaupt nichts mehr, und er konnte die Wut nicht länger unterdrücken, obwohl es sein bester Freund war, mit dem er telefonierte. »Und lass du mich auch in Ruhe! Du solltest wissen, dass du mit dem Beteiligten eines schwebenden Verfahrens nicht reden darfst.« Er hob das Handy hoch, um es an die Wand zu schmettern. Gleich darauf aber besann er sich, ließ es sinken und drückte das Gespräch weg.
Als er die nächsten Treppenstufen hinaufstieg, rechnete er damit, dass Cliven Oates sofort wieder anrufen würde. Doch er tat es nicht. Das Handy blieb stumm. Kellso versenkte es in die Jackentasche und stieß einen grimmigen Laut aus.
Auf dem nächsten Treppenabsatz, in der Ecke, verstummten die Mädchenstimmen, als er in Sicht kam. Vier Augenpaare, nein fünf, richteten sich auf ihn, als wäre er der Wolf, der in einen Hühnerstall eindrang. Das fünfte Mädchen, wohl das kleinste, hatte sich ganz hinten in der Ecke hinter dem Rücken ihrer Freundin verkrochen. Einen Atemzug lang befürchtete Kellso, dass es womöglich doch Denise war, die da mit den älteren Girls herumhing. Warum nicht? Wenn sie aus ihrem neuen Zuhause abgehauen und zu ihrer Mutter geflüchtet war ...? Er verscheuchte den Gedanken. Totaler Blödsinn. Er hätte es erfahren.
Er brachte die nächsten Stufen hinter sich, bis er mit den Girls auf gleicher Höhe war. Sie musterten ihn noch immer stumm, abwartend, feindselig. Erleichtert stellte er fest, dass die Kleine in der Ecke nicht Denise war. Seine Tochter war blond, das hatte sie von ihm. Diese Mädchen hier hatten ausnahmslos dunkles Haar, und auch die Kleine war sechzehn oder siebzehn Jahre alt wie die anderen. Alle sahen so ungepflegt aus wie ihre Umgebung. Eingerissene Jeans und zu kurze Tops waren ihre Mittel, um nackte Haut zu zeigen. In den Augen, üppig mit Lidschatten umschmiert, stand Abgebrühtheit. Es gab nichts, was diese.Augen noch nicht gesehen hatten, das signalisierten sie jedenfalls.
Kellso hoffte, dass Denise nie solche Augen haben würde.
Er verharrte einen Moment, um die Lidschattenblicke niederzuzwingen ‒ nur mit der stählernen Härte in seinen eigenen Augen. Es gelang ihm nicht. Er begriff, dass es nichts gab, was diese Jungschlampen beeindrucken konnte.
»Hi, Granddad«, sagte die Stachelhaarige, die ganz vorn saß. Sie dehnte die Stimme herausfordernd. »Was für einer bist du denn? So ein alter Knochen, der scharf ist auf junges Gemüse?« Sie grinste und spreizte die angewinkelten Beine, um sie nach einem Moment wieder zu schließen. Gleich darauf wiederholte sie den Vorgang aufreizend langsam, um zu zeigen, dass ihren Jeans auch an entscheidender Stelle ein Stück Stoff fehlte. Ihre Stimme nahm einen verruchten Klang an. »Wenn du ein paar Bucks springen lässt ...«
Ihre Nachbarin stoppte sie, indem sie ihren Oberarm packte und flüsterte: »Hör auf! Bist du blöd? Lass den Kerl in Ruhe, das ist ein Bulle. Den hab ich schon mal hier gesehen.«
Kellso grinste hart, formte mit Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen der rechten Hand eine Pistole und zielte auf die erbleichende Stachelhaarige. Er tat, als würde er abdrücken, und gab dazu einen Schusslaut von sich. Dann setzte er seinen Weg fort und drehte sich nicht um. Hinter sich hörte er hastig trappelnde Schritte, die sich treppab entfernten.
Im zweiten Stock sah er, dass er sich den geplanten Tritt gegen das Türblatt sparen konnte.
Die Wohnungstür war nur angelehnt.
Seine Nackenhaare stellten sich auf, dazu gesellte sich ein Kribbeln, das er zuletzt gespürt hatte, als er im regulären Dienst als Detective gearbeitet hatte. Das war zwar Vergangenheit, aber eine Dienstwaffe besaß er noch immer.
Er zog sie aus dem Gürtelholster, nahm sie in den Beidhandanschlag und richtete den Lauf senkrecht nach oben. Er vergewisserte sich, dass er auf dem Treppenabsatz allein war. Dann öffnete er die nur angelehnte Wohnungstür langsam mit dem linken Fuß.
Er senkte die Pistole in die Waagerechte, und seine Blickrichtung wurde eins mit der Visierlinie ‒ so, wie er es einmal gelernt hatte. »Eindringen in unbekannte Räumlichkeiten bei zu erwartendem Widerstand«, hieß das in der Amtssprache der Police Academy.
»Jemand zu Hause?«, rief er beim Eintreten. »Clarissa?«
Niemand antwortete. Kellso schloss die Tür hinter sich, ohne sich umzudrehen, indem er sie mit der linken Hand ins Schloss drückte. Dann legte er die Linke erneut um seine Rechte mit dem Pistolengriff und setzte seinen Weg fort. Er kannte die Wohnung nicht besonders gut, war nur zwei- oder dreimal hier gewesen. Es war durchaus möglich, dass Clarissa einen Mitbewohner aufgenommen hatte. Sie war allerdings verpflichtet, ihm so etwas mitzuteilen ‒ und natürlich der Sozialbehörde der Stadt, die diese Wohnung finanzierte.
Von dem kleinen Flur zweigten vier Türen ab, eine geradeaus, zwei nach links und eine nach rechts. Er sah zuerst im Bad nach, dann in der Küche und im Schlafzimmer. Zuletzt wandte er sich nach rechts und betrat das Wohnzimmer. Auch hier ließ er seinen Blick der Visierlinie der Pistole folgen. Das Bild, das sich ihm bot, ähnelte dem Aussehen der anderen Zimmer. Unordnung so weit das Auge reichte. Was sie benutzt hatte, räumte sie nicht weg, sondern ließ es dort stehen oder liegen, wo sie es benutzt hatte. Kellso erinnerte sich an die Zeiten, in denen sie viele Fernsehrollen gehabt hatte. Da war der Berufsstress ihre Entschuldigung gewesen. Doch hinterher war es nicht besser, sondern eher noch schlimmer geworden. Die Langeweile hatte ihren Hang zur Unordnung eher noch verstärkt. Nach der Trennung hatte ihr beruflicher Abstieg voll durchgeschlagen. Die Luxus-Eigentumswohnung aus besseren Zeiten hatte sie sich nicht mehr leisten können, und für ihn, Irving Kellso, war es völlig unmöglich gewesen, den Abtrag des Kredits zu bezahlen. So war sie in dieser Sozialwohnung gelandet. Immerhin konnte sie sich freuen, noch ein Dach über dem Kopf zu haben. Nur kurz war sie an der Obdachlosigkeit vorbeigeschrammt. Eines Tages, davon war ihr Ex-Mann überzeugt, würde sie dennoch auf der Straße landen. Denn die Zeiten, in denen er sie davor bewahrt hatte, waren vorbei. Endgültig.
Sie lebte allein. Das stellte er nach einem kurzen aber gründlichen Rundgang fest. Ein Untermieter oder ein Freund hätten das Chaos nicht ertragen. Kellso hielt die Waffe am langen Arm, nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Wohnung tatsächlich leer war. Vielleicht war Clarissa nur kurz zu einer Nachbarin gegangen. Er hielt nach ihrem Handy Ausschau, konnte es aber nirgendwo entdecken. Der Hörer des Festnetztelefons war aufgelegt.
Er nahm ihn ab und rief seine Schwester an. Lorraine meldete sich sofort. Sie gehörte nicht zu den leichtsinnigen Frauen, die ihre minderjährigen Kinder ans Telefon gehen ließen und nicht ahnten, welche Gefahren sie damit heraufbeschworen.
»Ich bin's«, sagte Kellso. »Mit den Kindern alles in Ordnung?«
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte Lorraine. »Denise und meine beiden sitzen am Küchentisch und genießen ihre Chicken Nuggets.«
»Mit Pommes Frites und Ketchup.«
»Ich kann es nicht leugnen, Irv. Aber du weißt, ohne kleine Zugeständnisse geht es nicht. Dafür gibt es morgen Fisch und frisches Gemüse vom Markt.« Nach einer Atempause fragte Lorraine: »Weshalb rufst du an?«
Kellso erklärte es ihr und schloss: »Das, was sie Wohnung nennt, ist leer. Erst ruft sie mich an und droht mal wieder, mir Denise wegzunehmen, und dann ist sie weg. Ich weiß nicht, wo sie sich herumtreibt.«
»Irv«, sagte seine Schwester eindringlich. »Sei vorsichtig. Du weißt, wie unbeliebt du bist.«
»Ja, verdammt«, knurrte er.
»Und wegen Denise brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen«, bekräftigte Lorraine. »Soll ich sie dir ans Telefon holen?«
»Nicht jetzt, danke. Ich rufe später wieder an.«
Kellso legte auf und wählte Clarissas Handynummer, eine Nummer, die er in den letzten Monaten gemieden hatte wie die Pest. Das Rufzeichen war gleich darauf zu hören, dann wurde abgenommen.
»Hallo«, sagte eine Männerstimme.