Kapitel 5
»Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt«, sagte Bob Hurley. »Das kannst du mir glauben, Partner.« Er sprach laut genug, damit Chris Flynn ihn verstehen konnte.
Chris reagierte trotzdem nicht sofort. Seine Gedanken schienen woanders zu sein, sein Blick war auf das blank gewetzte Thekenholz und dennoch ins Leere gerichtet.
Die beiden Männer standen an der Theke, um sie herum tobte der Kneipenlärm. Zwei Tage waren seit Chris' großem Tag vergangen. Er hatte die Kollegen aus dem Fifth Precinct zum Feiern eingeladen. Dafür hatte er schnell einen Flyer ausgedruckt und drei Gründe genannt. Grund eins: mein Sohn. Grund zwei: der Orden. Grund drei: die Beförderung.
Das »Leprechaun«, die Stammkneipe der Cops vom fünften Revier, war einem typischen irischen Pub nachempfunden – mit dunkler Holztäfelung und fast schwarzen Deckenbalken. Aus den Zapfhähnen flossen das dunkle Stout und das helle Lagerbier, und in den Regalfächern hinter der Theke gab es sämtliche Whiskey-Sorten von der grünen Insel, aber auch den berühmten Irish Cream Liqueur, den die Ladys schätzten. Die Lautsprecherboxen erzeugten einen nicht abreißenden Klangteppich aus Jigs und Reels, jenen schwungvollen Folkrhythmen, die für ungeübte Ohren alle gleich klangen. Sean Mulligan, der Pub-Inhaber, kannte jedoch jede einzelne der Bands auf den vielen hundert CDs, die er in einem verschließbaren Schrankfach hinter der Theke hortete. Die Sammlung reichte für einen Monat irische Hintergrundmusik ohne jegliche Wiederholung, wie er stolz behauptete.
An diesem Abend platzte das »Leprechaun« fast aus den Nähten. Bob Hurley hatte sich als Gastgeber mit eingeklinkt, denn auch für ihn gab es einen Grund zum Feiern. Er war wegen seiner Leistungen bei dem Undercover-Einsatz ebenfalls zum Detective Sergeant befördert worden. Bis auf die diensthabende Stammbesatzung des nur einen Block entfernten Reviers waren alle Kolleginnen und Kollegen der Einladung der beiden frischgebackenen Sergeants gefolgt.
Sogar Lieutenant Gnadenlos.
Doch er hatte sich in die äußerste Ecke verzogen, hinten im halbdunklen Winkel neben dem Durchgang zu den Toiletten. Mit fortschreitender Stunde kamen zunehmend häufig Kollegen vorbei, um die gefliesten hinteren Räume aufzusuchen. Keiner von ihnen beachtete den Lieutenant, und er hob nicht ein einziges Mal den Kopf. Vor ihm auf dem Tisch standen ein Pintglas Stout und ein Shotglas Whiskey. Sean Mulligan brachte ihm unaufgefordert Nachschub, sobald die Gläser leer waren. Zweimal war das bislang geschehen. Ein besonderer Service des Pub-Wirts, denn normalerweise holten die Gäste ihre Drinks selbst an der Theke ab.
Bob Hurley legte seinem Partner die Hand auf die Schulter und wiederholte, indem er ihm ins Ohr rief: »Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt!«
Chris setzte sein Bierglas ab und wischte sich mit dem Handrücken den cremigen Schaum von den Lippen. »Richtiger Zeitpunkt?«, fragte er. »Wofür?«
»Um Frieden zu schließen.« Bob deutete mit dem Daumen über seine Schulter, in die Ecke, in der Lieutenant Kellso nur zeitweise durch eine Lücke im Gedränge zu sehen war.
»Ich?«, rief Chris entrüstet. »Ich habe keinen Streit mit ihm angefangen. Was will der überhaupt hier? Mich den ganzen Abend mit seinem Anblick belästigen?«
»Er hat eine Einladung gekriegt«, sagte Bob Hurley besänftigend.
»Aber nicht von mir!«
»Greta hat deine Flyer verteilt.« Bob deutete auf einen Tisch in der Nähe des Eingangs, wo Police Officer Greta Moynihan, eine dunkelhaarige Schönheit mit irischen Wurzeln, in heiterer Runde lachte und scherzte. »Ihr war nicht bewusst, dass sie damit einen Fehler gemacht hat.«
Chris winkte ab. »Greta hat überhaupt nichts falsch gemacht. Wenn der Mistkerl ...«, er wies mit einer Kopfbewegung in Kellsos Richtung, »auch nur einen Funken von Ehrgefühl in sich hätte, wäre er hier nicht aufgekreuzt. Ich meine, so, wie er da vor sich hin brütet, ist er doch die Provokation in Person.«
»Mag ja sein«, erwiderte Bob Hurley. »Aber vielleicht ist er auch ein armes Schwein, das nicht über seinen Schatten springen kann. Vielleicht hat er sich vorgenommen, heute Abend ein paar klärende Worte mit dir zu sprechen.«
»Danach sieht er nicht aus. Er stört eher.« Chris Flynn schnaubte zornig. »Der macht doch die ganze Stimmung kaputt!«
Bob Hurley schüttelte den Kopf. »Ach, was. Kein Mensch kümmert sich um ihn.«
»Und was ist mit mir?«, brauste Chris auf. »Mit meiner guten Laune, meine ich? Ich sage dir, Bob, es dauert nicht lange, dann schmeiße ich den Kerl raus – und wenn ich dafür degradiert werde!«
»Wir sind nicht beim Militär, Chris. Uns streichen sie höchstens den Pensionsanspruch.«
»Schlimm genug.«
»Na klar. Also gib dir einen Ruck und geh rüber.«
»Ich weiß nicht, warum ich das tun sollte.«
»Du siehst doch, er schafft es nicht. Er trinkt sich die ganze Zeit Mut an ...«
»Auf unsere Kosten!«
»... und er bringt es trotzdem nicht fertig.«
»Was bringt er nicht fertig?«, entgegnete Chris störrisch.
»Auf dich zuzugehen, Mann. Ein Versöhnungsgespräch anzufangen. Heute Abend wäre der Zeitpunkt dafür, das sage ich dir jetzt zum dritten Mal.«
»Glaube ich nicht. Wirklich nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er das vorhat.«
»Ich schon«, widersprach Bob. »Menschenskind, Chris, einer von euch muss doch den Anfang machen.«
»Wieso denn das?« Chris blieb uneinsichtig. »Ich muss gar nichts. Außerdem ist er immer noch unser Vorgesetzter. Mir steht es gar nicht zu ...«
»Du lieber Himmel!«, unterbrach ihn Bob. »Wir sind außer Dienst. Dies ist eine private Feier, und als Gastgeber bist du sogar der Boss.«
»Du auch.«
Bob Hurley verdrehte die Augen. »O Mann!«, stöhnte er. »Du hast zwei Gründe mehr auf der Liste.«
»Sergeants!«, fuhr ihnen eine helle Stimme dazwischen. »Officer Moynihan bittet, sich zur Stelle melden zu dürfen!«
Chris und Bob drehten sich um. Greta Moynihan hatte sich einen Weg durch das Gedränge gebahnt, stand vor ihnen stramm und salutierte militärisch-schneidig.
»Greta, du verwechselst da was«, sagte Chris und grinste. »Wir sind keine Kasernenhof-Schleifer, und du bist keine Rekrutin mehr. Wir sind auch nicht in einem Boot-Camp der Marines, sondern in einer New Yorker Cop-Kneipe.«
»Mit anderen Worten«, erwiderte sie und kicherte, »ich brauche keinen Respekt vor euch zu haben.«
»Das ...«, sagte Bob Hurley gespielt ernst, »ist eine unerlaubte Schlussfolgerung.« Mit erhobenem Zeigefinger fuhr er fort: »Es würde nämlich einer Verbrüderung zwischen unteren und mittleren Dienstgraden gleichkommen, und so etwas wäre absolut unerwünscht.«
»Von wem?« Greta hängte sich an seine Schulter und himmelte ihn an.
»Von unseren Vorgesetzten natürlich.«
»Müssen wir immer auf die hören? Ich meine, in jedem Fall?« Greta produzierte einen tiefen Augenaufschlag. Alle im Revier wussten, dass sie und Bob im Begriff waren, ein Paar zu werden. Bevor sie ihren Traum verwirklichen konnten, mussten sie allerdings noch die Trümmer ihrer gescheiterten bisherigen Beziehungen wegräumen.
»Du musst jedenfalls auf mich hören«, erklärte Bob zwinkernd. »Das sage ich dir als dein Vorgesetzter, der ich ja nun bin.«
»Ich glaube, Chris ist der Nettere von euch beiden«, erwiderte Greta mit gespieltem Schmollen.
Chris nahm Haltung an und klopfte sich auf die Brust. »Hört, hört!«, rief er.
»Aber ich brauche dich«, sagte Greta, wieder an Bob gewandt. »Jetzt sofort.«
»Hm. Klingt gut!« Bob machte ein verzücktes Gesicht.
Greta löste sich von ihm und boxte ihm auf den Oberarm. »Keine sexistischen Anspielungen, mein Lieber! Als Vorgesetzter kann dich so was teuer zu stehen kommen.« Sie wurde ernst. »Unsere Freunde da drüben am Tisch wollen unbedingt unseren Four-Hand-Reel sehen. Du weißt, den haben wir letztes Jahr zusammen mit Maureen und Vance in unserer Tanzgruppe einstudiert und dann beim Polizeiball aufgeführt. Die beiden machen mit, sie warten schon auf uns.«
Bob Hurley blickte hinüber. Er überlegte nur kurz, während er die anderen winken und johlen sah. »Einverstanden«, entschied er. »Aber unter einer Bedingung – dass du Chris überredest, mit Lieutenant Gnadenlos zu sprechen.« Rasch schilderte er ihr die Argumente, mit denen er bisher ergebnislos versucht hatte, seinen Partner zu einem Einlenken zu bewegen.
Greta nickte mehrfach, während sie zuhörte. Dann wandte sie sich dem rotblonden Partner ihres Freunds zu. »Gib dir einen Stoß, Chrissie. Du bist seit vorgestern auf der Siegerstraße. Kellso dagegen ist ein trauriger Loser, und er weiß es. Zeig ihm einfach, was für ein großes Herz du hast. Sag ihm, dass du das Kriegsbeil begraben möchtest. Ich glaube, Bob hat recht. Der Lieutenant hat sich so sehr in seine Bitterkeit verrannt, dass er jetzt denkt, er kann nicht mehr zurück.«
Die Kollegin hatte es tatsächlich geschafft, ihn zu überreden. Chris nahm sein noch fast volles Bierglas mit und machte sich auf den Weg durch das Gedränge. Während Greta redete, hatte er an Anne gedacht und sich vorgestellt, was sie sagen würde. Es unterschied sich nicht wesentlich von dem, was Greta sagte. So war er zu der Einsicht gelangt, dass auch Anne von ihm erwarten würde, einen Schritt auf Kellso zuzugehen.
In der Schar der Kollegen traf er Jesse Trevellian und Milo Tucker. Die beiden G-Men waren gerade angekommen und waren auf der Suche nach ihm gewesen. Sie entschuldigten sich für die Verspätung, hatten Clive Caravaggio und Orry Medina noch bei Festnahmen und Vernehmungen im Fall Harold Williams unterstützen müssen. Chris empfahl Jesse und Milo, sich die Tanzvorführung anzuschauen, bei der sie Bob gleich erleben konnten, wie er seiner irischen Herkunft als Stepdancer Ehre machen würde.
Jesse und Milo befolgten den Tipp, und Chris setzte seinen Weg in Richtung Kellso-Ecke fort.
»Darf ich?«, sagte er, als er den Tisch erreichte. Er zeigte auf einen Stuhl, dem Lieutenant gegenüber. Wenn Kellso staunte, so ließ er es sich nicht anmerken. Gleichgültig und eher geringschätzig musterte er sein Gegenüber von Kopf bis Fuß.
»Sie sind der Gastgeber«, erwiderte er mit einem Schulterzucken. »Sie können sich hinsetzen, wo Sie wollen.«
»Tja, da haben Sie natürlich recht, Lieutenant.« Chris rückte den Stuhl zurecht und setzte sich. Er erhob sein Glas und prostete ihm zu. »Danke, dass Sie die Einladung angenommen haben.«
Kellso rührte keines seiner Gläser an. Stattdessen sagte er: »Was wollen Sie von mir?«
Chris glaubte, sich verhört zu haben. Trotzdem blieb er ruhig. Er ließ sein Glas sinken. »Ein Gastgeber«, erwiderte er, »begrüßt schon mal seine Gäste. Das gehört zur Höflichkeit, habe ich gelernt.«
»Ach. Auf der Police Academy?« Kellsos Stimme triefte vor Hohn. »Das würde zu dem passen, was man so hört. Neuerdings bringen sie den Greenhorn Cops da allen möglichen Unsinn bei. Benimmregeln gehören wohl auch dazu. Dafür kriegen sie dann schon das große Zittern, wenn ein Vorgesetzter sie mal ein bisschen hart anpackt – im Rahmen der Vorschriften, versteht sich.«
»Ansprache zur Kenntnis genommen«, sagte Chris mühsam beherrscht. Natürlich war ihm klar, dass er die herablassenden Worte des Lieutenants vor allem auf sich selbst münzen durfte.
»Gut. Immer dran denken, Sergeant: In unserem Beruf lernt man jeden Tag was Neues.«
»Danke für den Hinweis, Sir.«
Kellso beugte sich vor und fixierte sein Gegenüber mit schmalen Augen. »Was wollen Sie wirklich, Flynn?«
Dich rausschmeißen, dachte Chris, dich vor aller Augen am Kragen packen und dich dann mit einem Tritt in den Hintern nach draußen befördern. Doch er rief sich Bobs und Gretas Worte ins Gedächtnis und unternahm einen letzten Versuch des guten Willens, indem er sagte:
»Frieden schließen.«
»Ach, mit mir?« Kellso spielte grenzenloses Erstaunen.
»Ja, mit Ihnen.« Chris ärgerte sich darüber, dass seine Stimme vibrierte.
»Waren wir im Kriegszustand?« Kellso lehnte sich zurück und grinste abfällig. »Sind Sie so wenig belastbar, Sergeant«, er betonte Flynns neuen Dienstgrad in spöttischem Ton, »dass Sie die kleinsten dienstlichen Erschwernisse Ihres Berufs schon als Krieg betrachten?«
Chris Flynn spürte, wie seine guten Absichten schwanden. Was Bob und Greta sich ausgemalt hatten, war leider Unsinn. Gnadenlos hatte nie im Leben vorgehabt, ein Versöhnungsgespräch zu führen. Der Mistkerl war doch nur hergekommen, um zu stänkern, um allein durch seine Anwesenheit die Stimmung zu vergiften.
»Ich könnte es auch Schikane nennen«, sagte er deshalb. Seine Selbstsicherheit kehrte zurück, als er merkte, dass seine Stimme an Festigkeit gewann. »Sie sind ein Schikanierer, Lieutenant Kellso, ein Menschenschinder. Wissen Sie was? Mir tut es beinahe leid, dass ich Sie vor Vazquez gerettet habe. Ich hätte ihn auf Sie schießen lassen sollen, dann wäre die Menschheit jetzt von Ihnen befreit.« Er nahm sein Glas, stand auf und wandte sich ab.
»Flynn!«, peitschte Kellsos Stimme.
Chris drehte sich noch einmal um, aufreizend langsam. Einige der Umstehenden waren inzwischen aufmerksam geworden, blickten herüber und verfolgten den Wortwechsel. Kellso war kreidebleich vor Wut. Er rang nach Atem.
Chris kam ihm zuvor und brüllte ihn an: »Was wollen Sie denn noch, Sie Arschloch! Verschwinden Sie! Hauen Sie ab, Mann! Oder ich mache Ihnen Beine!«
Kellso sprang auf. »Das wird Ihnen noch leidtun!«, fauchte er. »Jetzt kriege ich Sie ran wegen Beleidigung eines Vorgesetzten. Und dann sind Sie erledigt, Sie ... Sie Killer! Sie haben Vazquez erschossen, weil Ihnen das Töten Freude macht.«
Einen Atemzug lang war Chris Flynn starr vor Fassungslosigkeit.
»Raus!«, schrie er dann. »Raus, bevor ich mich vergesse!«
Im ersten Moment schien es, als wollte Kellso zurückbrüllen. Doch dann wandte er sich ruckartig zur Seite. Mit seltsam abgehackt wirkenden Schritten stapfte er los und verschwand im Durchgang zu den Toiletten, wo es einen Hinterausgang gab.
Wegen des Lärms in der Kneipe bekamen es nur diejenigen mit, die sich in unmittelbarer Nähe aufhielten. Etliche von ihnen klopften Chris auf die Schulter.
»Das hat er mal gebraucht«, sagte einer.
*
Das Bellevue Hospital war ein gewaltiger Gebäudekomplex mit medizinischen Abteilungen der verschiedensten Sparten. Am East River gelegen, glich es einer Großstadt für sich, die sich über zehn Blocks in Nord-Süd-Richtung ausdehnte und von der First Avenue und dem Franklin Delano Roosevelt Drive eingerahmt wurde. Ein Stück weiter nördlich befand sich das Hauptquartier der Vereinten Nationen. Insgesamt eine Gegend, in der Milo und ich öfter zu tun hatten, sei es wegen Sicherheitsmaßnahmen beim Besuch berühmter ausländischer Politiker oder nach Festnahmen angeschossener Gangster, die in Krankenhauszimmern bewacht wurden, weil sie wichtige Zeugen für uns waren.
Am Vormittag nach Chris Flynns Dreifach-Feier im »Leprechaun« fuhren Milo und ich aus einem ganz und gar ungewohnten Anlass zum Bellevue. Die ersten Stunden des neuen Tages hatten wir in unserem gemeinsamen Büro im Federal Building mit dem Aufarbeiten von Falldateien verbracht. Dann hatte Mr McKee meinem Vorschlag zugestimmt, den Kontakt zu unseren NYPD-Kollegen in der Organized Crime Unit auch außerhalb dienstlicher Einsätze zu pflegen. Das hatten wir zwar am vorangegangenen Abend schon ausführlich getan, aber eben daraus hatte sich für mich ergeben, dass wir noch etwas mehr tun mussten. Milo war der gleichen Meinung, und nachdem der Chef einverstanden war, waren wir sofort aufgebrochen.
An der First Avenue hielt ich vor einem Blumenladen, und eine Viertelstunde später, nachdem ich den Sportwagen auf dem passenden Parkplatz abgestellt hatte, betraten wir das Gebäude der Babystation. Wir fragten nach der Zimmernummer, und auf dem Flur im dritten Stock entbrannte zwischen Milo und mir die Frage, wer der glücklichen Mutter das Blumengebinde überreichen sollte. Wir lösten die Frage auf altbewährte Weise.
»Kopf oder Zahl?«, fragte Milo und kramte einen Cent hervor.
»Kopf«, entschied ich.
Mein Freund warf die Münze und klatschte sie sich auf den Handrücken.
»Kopf«, sagte er enttäuscht.
»Ich schlage einen Kompromiss vor«, erklärte ich kurz entschlossen. »Ich habe gewonnen, also trage ich die Blumen ins Zimmer. Dann übernimmst du den zweiten Teil und übergibst sie Anne Catherine.«
»Einverstanden«, antwortete Milo und strahlte. »Manchmal hast du doch noch gute Ideen.«
Es war eine geradezu idyllische Szene, die wir vorfanden, nachdem wir geklopft hatten und eintraten. Anne hatte Besuch von den derzeit wohl wichtigsten Personen in ihrem Leben. Ihre Mutter war da – und natürlich Chris, der von Commissioner Kelly persönlich drei Tage Sonderurlaub bekommen hatte. Absolute Nummer Eins in der Rangfolge der Anwesenden war aber der kleine Padraigh, der sanft in seiner himmelblauen, mit Rüschen verzierten Wiege schlummerte.
Unser Blumenübergabe klappte wie besprochen und löste große Freude aus. Annes Mutter, eine resolute Mittfünfzigerin, übernahm das Gebinde von Milo und platzierte es auf einer Kommode. Anne trug ein buntes Sommerkleid, und die Strapazen der nicht ganz einfachen Geburt waren ihr nicht mehr anzusehen. Seit wir mit ihrem Lebensgefährten zusammenarbeiteten, waren wir ihr ein paar Mal bei Geburtstagsfeiern und ähnlichen Anlässen begegnet. Sie trug ihr dunkles Haar in einer Kurzfrisur, was ihrem sportlichen Gesamteindruck entsprach.
Sie bat uns, bei ihrer kleinen Familie in der gemütlichen Sitzecke am Fenster Platz zu nehmen. Von dort aus hatte man einen eindrucksvollen Panoramablick auf den East River sowie auf Brooklyn und Queens. Dem Bellevue gegenüber befand sich sinnigerweise die Einmündung des Newtown Creek.
Anne nahm Chris und uns das Versprechen ab, keine dienstlichen Gespräche zu führen. So ließen wir uns ausführlich über den neuen Erdenbürger informieren, vom genauen Zeitpunkt, an dem er das Licht der Welt erblickt hatte, bis hin zu Gewicht, Größe, Augenfarbe und mutmaßlicher späterer Haarfarbe. Irgendwie musste es der kleine Mann mitbekommen haben, dass wir über ihn redeten, denn nach einer Weile meldete er sich mit vernehmlicher Stimme zu Wort.
»Da hat aber jemand Hunger, wenn ich das richtig verstehe«, rief Annes Mutter, laut genug, um das kraftvolle Organ des Stammhalters zu übertönen.
»Es klingt ganz danach«, bestätigte Anne und sah uns mit einem um Verzeihung bittenden Blick an. »Dann muss ich die Gentlemen wohl bitten, für eine Weile nach nebenan zu gehen.«
»Ins Besucherzimmer«, erläuterte Chris, und es hörte sich ganz danach an, dass er über den Ortswechsel erfreut war. Keine Frage, dass ihn die Geschehnisse des vergangenen Abends noch immer stark beschäftigten.
Mrs Perkins hob Padraigh aus seiner Wiege, und er verstummte augenblicklich. Große blaue Augen versuchten, aus einer flauschigen Babykappe heraus, die Umgebung zu erforschen. Anne kam herüber, nahm ihrer Mutter den Kleinen ab.
»Bevor ihr geht«, sagte Anne, »möchte Mister Flynn junior noch mal ordnungsgemäß guten Tag und auf Wiedersehen sagen. Nachher, wenn er satt und zufrieden ist, braucht er seinen Mittagsschlaf.«
»So sind sie, die Männer«, seufzte Chris. »Das wolltest du doch sagen, stimmt's?«
»Nicht, wenn Besucher da sind.« Anne sah uns mit entwaffnendem Lächeln an.
Chris übernahm seinen Sohn, indem er ihn behutsam in seine Arme bettete. Der Kleine lachte, als er ihn mit dem Zeigefinger am Bauch kitzelte. »Ihr habt richtig gehört, er wird meinen Nachnamen tragen, und damit werden wir beide nicht allein bleiben, denn es wird auch eine Mrs Flynn geben.«
»Ja«, sagte Anne leise. »Wir wollen bald heiraten.«
Padraigh stieß ein vergnügtes Krähen aus, als wollte er sein Einverständnis kundtun. Und wieder strahlte er über das ganze Gesicht.
»Freundlich ist er schon«, stellte ich fest und wurde postwendend dafür bestraft, als Chris mir seinen Junior stolz übergab und fachmännisch darauf hinwies, dass ich mit einer Hand den kleinen Hinterkopf stützen müsse. Obwohl ich alles richtig machte und sogar ein bisschen Babytalk aus meinem Gedächtnis hervorkramte, erntete ich offenbar höchstes Missfallen.
Zuerst verzog der Kleine auf meinem Arm das Gesicht wie ein Erwachsener, der auf eine Zitrone gebissen hatte. Dann begann er wie wild zu strampeln, und gleichzeitig stellte er erneut seine Stimmgewalt unter Beweis.
»Lass mich mal«, sagte Milo hilfsbereit, hob den kleinen Protestierer vorsichtig von mir weg, gackerte wie Donald Duck und kitzelte ihn wie Chris es getan hatte. Dazu schmeichelte er sich samtweich ein: »Ich nehme dich dem reichen Onkel Jesse ab. Der hat nämlich nichts anderes im Sinn als seinen Super-Sportwagen. Und wie man mit Kindern umgeht, tja, davon hat er keine Ahnung.«
Prompt verstummte Padraigh, strahlte, richtete die leuchtenden blauen Augen auf den freundlichen Mann, und man hatte fast den Eindruck, dass der Drei-Tage-Spross schon sehen konnte. Aber das war natürlich nicht der Fall.
»Mach dir nichts draus«, tröstete Anne mich, nachdem ihre Mutter den Jungen wieder übernommen hatte. »Später werdet ihr garantiert die besten Freunde. Alle Jungs bewundern FBI-Agenten.«
»Na, dann kann ich ja noch hoffen«, antwortete ich, spielte den Bekümmerten und entkräftete es mit einem Schmunzeln.
»Jungs bewundern aber auch Cops«, ließ Chris sich vernehmen, grinste dabei und tat wie ein trotziges Kind.
»Aber ja«, beruhigte ihn Anne mütterlich. »Vor allem, wenn sie einen Orden bekommen haben.« Tröstend streichelte sie seine Wange. Er küsste sie dafür.
Aus dem Zimmer nebenan konnte man ebenfalls auf den East River und das überwiegend flache Häusermeer von Brooklyn und Queens blicken. Die Einrichtung bestand aus Tischen und Polsterstühlen, garniert mit Zimmerpflanzen und Originalgemälden von Kunststudenten an den Wänden. In einer Ecke gab es einen Kaffeeautomaten. Wir hatten den Raum für uns. Der große Besucheransturm würde erst am Nachmittag einsetzen. Chris holte drei Becher Arabica-Kaffee für uns herüber und setzte sich zu uns an den Tisch am Fenster, den wir ausgesucht hatten.
Wir wussten bereits, was sich am Abend zuvor zwischen Chris und Lieutenant Gnadenlos im »Leprechaun« abgespielt hatte. Wegen des hohen Geräuschpegels und des Beifalls für die Tanzvorführung von Greta Moynihan, Bob Hurley und ihren Kollegen hatten wir es nicht direkt mitbekommen.
»Wo ist eigentlich Bob abgeblieben?«, fragte ich.
Chris schmunzelte. »Bei Greta natürlich. Die beiden sind ein Paar, auch wenn sie's offiziell noch nicht zugeben. Aber sie passen gut zusammen. Greta ist die typische temperamentvolle Irin. Sie hat das Zeug, ihm die fehlende Lebendigkeit einzuhauchen. Und sie weiß, wo's langgeht. Auch den Vorgesetzten gegenüber nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Gnadenlos würde bei ihr kein Bein an die Erde kriegen.«
»Das klingt«, erwiderte Milo, »als würdest du dir wünschen, dass Anne sich deinen Lieblings-Lieutenant mal vorknöpft.«
»Himmel, nein!«, rief Chris. »Greta ist ein Cop, Anne nicht. Ihr würde ich niemals zumuten, so einem Mistkerl wie Kellso auch nur gegenübertreten zu müssen. Im Gegensatz zu Greta wäre Anne da total überfordert.«
»Vielleicht sollten wir uns auch mal unter unseren Kolleginnen umsehen«, überlegte Milo laut. »Ich meine, wenn alle Welt sich mit Frau und Kind umgibt, dann müssen wir eventuell auch mal darüber nach denken.«
»Komisch«, sagte ich mit todernster Miene. »Warum haben wir das eigentlich noch nie getan?«
»Auf den Arm nehmen kann ich mich selber«, knurrte Milo.
Natürlich wusste er, was ich meinte. Zum Thema feste Beziehungen zu Frauen hatten wir beide schon vor Jahren klare Entscheidungen getroffen. Wir widmeten unser Leben dem Kampf gegen das Verbrechen. Deshalb konnte ich für mein Teil keiner Frau zumuten, dass sie eine auch nur annähernd eheähnliche Beziehung mit mir einging. Milo sah das genauso, auch wenn er gelegentlich behauptete, von einem gut bürgerlichen Familienstand zu träumen.
»Wie sieht es aus?«, wechselte ich das Thema und sah Chris dabei an. »Hat Kellso sich schon gerührt? Wollte er dich nicht wegen Beleidigung eines Vorgesetzten verklagen?«
»Ja, die Klage hat er mir angedroht.« Chris nickte und stieß ein abgehacktes Lachen aus. »Aber es hat sich keiner bei mir gemeldet, kein LAB und kein Anwalt. Allerdings war ich ja noch nicht wieder im Dienst. Schon möglich, dass sie so freundlich sind, mich im Urlaub nicht zu stören. Außerdem gibt es ja auch einen anderen Punkt. Ich halte Kellso zwar für unbelehrbar, aber es könnte ja sein, dass er sich nicht mehr an mich herantraut. Immerhin habe ich nicht nur den Bürgermeister und den Commissioner auf meiner Seite, sondern auch Inspector Oates und das gesamte Internal Affairs Bureau – denke ich doch.«
»Davon kannst du ausgehen«, sagte ich überzeugt. »Und die Medien wissen auch, was sie an dir haben. Die stehen geschlossen hinter dir.« Nachdem ich einen Schluck von dem starken schwarzen Kaffee getrunken hatte, stellte ich den Becher ab.
Milo nickte bekräftigend. »Du müsstest schon silberne Löffel klauen, wenn du in der Gunst der Presse sinken solltest. Erst einmal bist du der Held, und die Menschen brauchen Heldenfiguren. Sie verschlingen die Neuigkeiten, die jeden Tag über dich gebracht werden.«
»Vielleicht werde ich noch Filmstar«, freute sich unser frisch ernannter Detective Sergeant. »O Mann!« Er richtete den Blick zur Decke und nahm das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und Mittelfinger. »Also, ich wüsste schon ein paar tolle Hollywood-Schauspieler, die meine Rolle übernehmen könnten.«
»Das wäre kein Problem«, sagte ich überzeugt. »Das Problem wäre wahrscheinlich Kellso. Der müsste ja auch in deinem Film vorkommen, und ich könnte mir vorstellen, dass keiner so eine negative Figur spielen will.«
Wir mussten lachen. Ich nippte weiter an meinem Kaffee und blickte über den Becherrand hinaus auf Brooklyn und Queens. Irgendwo da draußen gab es eine Crime-Family, eine Verbrechensfamilie, wie die Luccas und ihresgleichen in den Medien oft genannt wurden, die sich bedroht fühlte. Massiv bedroht. Salvatore Lucca und sein Clan fühlten sich wie im Kriegszustand. Mit Recht. Denn schwere Geschütze wurden gegen sie aufgefahren.
Vernon C. Resnik würde seine Aussage machen. Im Zeugenschutzprogramm befand er sich in absoluter Sicherheit. Die Zeiten, in denen der US Marshals Service sich wichtige Zeugen entreißen ließ, waren endgültig vorbei. Resnik würde in den Zeugenstand treten. Das allein reichte aus, um Salvatore Lucca und seinen Familienmitgliedern schlaflose Nächte zu bereiten. Hinzu kamen die Festgenommenen aus dem Einsatz am Newtown Creek. Es würde nicht bei einem oder zwei Aussagewilligen aus ihrer Mitte bleiben. Nach und nach würden die meisten oder sogar alle neun erkennen, dass eine Zusammenarbeit mit uns das Beste war, was sie tun konnten. Es gab genügend berühmte Beispiele, die sie mit Sicherheit alle kannten. Eines der berühmtesten war Sammy »The Bull« Gravano, dem vor Gericht mehr als zwanzig Morde nachgewiesen wurden und der deshalb zu mehrfach lebenslänglich Gefängnis verurteilt wurde. Aber nur zwei Jahre hatte er abgesessen, zwei Jahre, die er genutzt hatte, um in der Zelle einen Bestseller zu schreiben – seine Lebensgeschichte als Unterboss der New Yorker Mafia-Familie Gambino. In den zwei Jahren war er aber auch zu der Einsicht gelangt, dass er als freier Mann besser leben würde. Deshalb hatte er beschlossen, sich umdrehen zu lassen und den berühmt-berüchtigten Gambino-Boss John Gotti zu verraten. Seither lebte »The Bull« in Freiheit, während Gotti dafür lebenslänglich ins Gefängnis kam, wo er schon nach wenigen Jahren an Kehlkopfkrebs starb.
Sammy Gravano also, das große Vorbild aller festgenommenen Mafia-Gangster – und die Faust im Nacken für Leute wie Salvatore Lucca und den Rest der Family.
Das Handy in meiner Tasche vibrierte. Ich meldete mich und ging ans Fenster, blickte hinaus auf das Land der Mafia.
»Lieutenant Kellso ist verschwunden«, sagte Mr McKee. »Seit Sergeant Flynns Feier gestern Abend ist er nicht wieder aufgetaucht.«
Ich brauchte nicht mit Worthülsen wie »Was?«, »Das gibt es nicht!« oder »Ist das wahr?« zu antworten. Unser Chef sagte nie etwas, was nicht den Tatsachen entsprach.
»Sir«, sagte ich deshalb. »Ich bin im Bellevue Hospital, bei mir sind Milo und Chris Flynn. Kann ich sie mithören lassen?«
»Selbstverständlich, Jesse.«
Ich drückte die Tastenkombination und erklärte den Kollegen, was los war. Milo zog die Mundwinkel nach unten, während Chris mich mit geweiteten Augen anstarrte.
»Captain Murtaugh rief mich vor zwei Minuten an«, berichtete Mr McKee. »Lieutenant Kellso ist heute Morgen nicht zum Dienst erschienen. Sein Auto steht noch auf dem Revierparkplatz. Weil er sich nicht krank gemeldet oder auf andere Weise von sich hören lassen hat, haben die Kollegen in der Detective Division versucht, ihn anzurufen. In seiner Wohnung meldet er sich bis jetzt nicht, sein Handy ist abgeschaltet. Auch im >Leprechaun< haben die Kollegen nachgefragt, es hätte ja sein können, dass Kellso sich dort unbemerkt in ein Gästezimmer verzogen hat, weil er nicht mehr fahren konnte. Der Wirt, Sean Mulligan, hat persönlich alles abgesucht und auch sein Personal eingespannt. Nichts.«
»Haben seine Revierkollegen ihn woanders gesucht?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete der Chef. »Captain Murtaugh hat eine Streifenwagenbesatzung zu seiner Wohnung geschickt und den Beamten erlaubt, die Tür zu öffnen – wegen Gefahr im Verzug, damit er ihnen keinen Strick daraus drehen konnte. Ohne diese Rückversicherung durch ihren Captain hätten sie das Schloss nicht aufgebrochen, weil sie ja wussten, dass sie es mit Lieutenant Gnadenlos zu tun bekommen konnten. Er war aber nicht in der Wohnung. Es gab auch keine Anzeichen, dass er sich in der Nacht überhaupt dort aufgehalten hat.«
Ich hörte Chris Flynn einen Fluch murmeln.
»Captain Murtaugh hat sicherlich alle Möglichkeiten ausgeschöpft«, sagte ich.
»In der Tat«, bestätigte Mr McKee. »Bei seiner Ex-Frau war er nicht und ebenso wenig bei seiner Schwester in Yonkers. Dort lebt auch seine Tochter, wie Sie wissen.«
»Sir!«, rief ich. »Beide müssen meiner Meinung nach bewacht werden. Die Schwester, mit Denise, und auch die Ex-Frau.«
»Das habe ich bereits veranlasst«, erwiderte der Chef. »Captain Murtaugh hat auch mit Inspector Oates gesprochen, der ja immerhin mit Kellso befreundet war oder noch ist. Oates hat aber schon seit der Ordensverleihung nichts mehr von Kellso gehört. Der Inspector konnte auch keine Adresse beisteuern, an der sich der Lieutenant sonst noch aufhalten könnte. Dass er eine Freundin haben könnte, ist jedenfalls nicht bekannt.«
»Irgendwo«, sagte ich, »gibt es vielleicht jemanden, bei dem sich trösten lässt. Alles in allem hat er ja eine schwere Niederlage einstecken müssen.«
Milo ließ sich laut genug vernehmen, damit Mr McKee es hören konnte: »Wenn er keine Freundin hat, bliebe nur eine Prostituierte. Von denen lassen sich Männer bekanntlich auch gern trösten.«
Chris Flynn konnte es sich nicht verkneifen, einen Kommentar abzugeben: »Ein Lieutenant Gnadenlos braucht keinen Trost. Der hat weder ein Herz noch eine Seele. Wahrscheinlich ist er so eine Art lebensnaher Roboter mit programmierten Eigenschaften, und die Programmierer haben eine Menge bei ihm vergessen.«
Mr McKee ging nicht darauf ein. Vielmehr sagte er: »Wenn Kellso tatsächlich bei einer Prostituierten sein sollte, wird es schwer sein, ihn aufzuspüren. Die Kollegen sind aber mit der Durchsuchung seiner Wohnung noch nicht fertig. Vielleicht finden sie noch die eine oder andere Telefonnummer bei ihm. Ich rufe wieder an, sobald ich etwas Neues erfahre.«
»Danke, Sir«, sagte ich und drückte die Aus-Taste.
Chris Flynn war nachdenklich geworden. »Jetzt mache ich mir doch Vorwürfe«, murmelte er und stützte den Kopf in die Hände. »Bob Hurley meinte gestern Abend schon, ich hätte den armen Kerl vielleicht zu hart angefasst ...«
»Redest du von Lieutenant Gnadenlos?«, fragte Milo ungläubig.
»Ja. Vielleicht hat er sich ja zu Herzen genommen, was ich ihm an den Kopf geknallt habe.«
»Ich glaube nicht, dass er so empfindlich ist«, erklärte ich überzeugt. »Und ganz bestimmt hat er sich nicht aus Weltschmerz erschossen. Wir werden ihn also finden. Und dann lese ich ihm die Leviten.«
*
Sie hatten ihn betäubt. Kellso spürte die Nachwirkungen sofort, als er zu Bewusstsein kam. Es war anders als das Erwachen nach einem erholsamen Schlaf. Völlig anders. Sein Kopf fühlte sich an wie ein zu stark aufgepumpter Ball, der bei der kleinsten Berührung von außen platzen konnte. Allerdings spürte er keine Einstichstelle, und auch Schmerzen hatte er nicht. Möglich auch, dass sie das Betäubungsmittel in einem Drink aufgelöst hatten und ...
Flynn!
Der Name durchzuckte ihn, als hätte ihn ein Hieb getroffen. Noch bevor er die Augen öffnen und seine Umgebung wahrnehmen konnte, breitete sich die Gewissheit kristallklar in seinen Gedanken aus.
Natürlich!
Flynn, der verfluchte kleine Bastard, hatte ihn ausgetrickst. Wahrscheinlich hatte er mit dem Kneipeninhaber gemeinsame Sache gemacht. Einer von beiden oder beide gemeinsam hatten das Mittel entweder in seinem Whiskey oder seinem Bier aufgelöst.
Deshalb!
Ja, verdammt, deshalb hatte Flynn ihn rausgeworfen! Es war alles ein abgekartetes Spiel gewesen. Er, Kellso, hatte kaum den Hinterhof betreten, da hatten die Lucca-Handlanger ihn auch schon eingesackt. Zu viert waren sie gewesen, wenn er sich richtig erinnerte. Sie hatten ihn in einen schwarzen SUV gesteckt und waren losgejagt.
Völlig klar!
Es fiel Kellso wie Schuppen von den Augen. Flynn, dieser Drecksack, arbeitete mit dem Lucca-Mob zusammen. Dazu passte zwar nicht ganz, dass fast der gesamte Verein am Newtown Creek über die Klinge gesprungen war. Aber Flynn hatte Geld gerochen. Und das brauchte er dringend, vor allem jetzt, wo sein ach so toller Sohn geboren worden war. Da musste man der extravaganten Lady seines Herzens schon was bieten können, zumal sie gleichzeitig auch Mutter seines Stammhalters war.
Am Newtown Creek hatte es mit dem Dollar-Einsacken nicht geklappt, also hatte er es anders angestellt. Er hatte ja nur seine Kontakte aus dem Drogendeal anzuzapfen brauchen, um den Kontakt zu der Lucca Bande herzustellen. Ja, so einfach war es gelaufen. Jetzt arbeitete er eben für sie. Es gab bekanntlich immer wieder korrupte Cops, die sich auf die Lohnliste der Mafia setzen ließen und für Insider-Informationen gutes Geld kassierten.
Kellso empfand ein überwältigendes Triumphgefühl. Durch einfache Gedankenarbeit hatte er so etwas wie einen grandiosen Ermittlungserfolg erzielt. Der Umstand, dass er an einem unbekannten Ort gefangen war, gefesselt und völlig hilflos, geriet zur Nebensache. Nur noch eines zählte:
Er hatte ihn!
Endlich konnte er diesen verfluchten Emporkömmling fertigmachen. Ja, er würde den zuständigen Leuten die Beweise auf einem Silbertablett präsentieren. Und was noch viel schöner war: Als Mitarbeiter der Mafia und damit des organisierten Verbrechens war Flynn ein FBI-Fall. Er fiel seinen geschätzten Freunden vom FBI direkt in die Hände, und zwar auf eine Art und Weise, die sie sich wahrscheinlich nicht im Traum vorgestellt hatten.
Kellso verspürte das Bedürfnis, lauthals zu lachen und sich auf die Schenkel zu klopfen. Doch beides ging nicht. Erst jetzt merkte er, dass er gefesselt und geknebelt war. Deshalb dieses Druckgefühl im Kopf. Weil sie ihm einen dreckigen Lappen in den Mund gestopft hatten. Das pelzige Ding schmeckte nach Benzin und Motoröl. Und die Fesseln waren verdammt professionell angelegt, erst die Handgelenke auf den Rücken geschnürt und dann durch einen Strick mit den ebenfalls gefesselten Fußgelenken verbunden. Er saß auf diesem Verbindungsstrick, und die Beine waren dadurch angewinkelt, zwischen den Stuhlbeinen nur ein kleines Stück nach hinten. Trotzdem war es unangenehm, weil es ein Dauerzustand war. Und die Fesseln schnürten ein, auch das merkte er erst jetzt. Es war nichts mit der Schmerzlosigkeit. Das wurde nun umso deutlicher, je mehr sein Bewusstsein zurückkehrte.
Er versuchte, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihm nicht sofort. Es kam ihm vor, als hätten seine Bezwinger die Ränder seiner Lider mit Klebstoff bestrichen, einem extrem wirksamen Kleber zudem, sodass er einen Moment lang befürchtete, die Augen aus eigener Kraft nicht öffnen zu können. Doch das Skalpell blieb ihm erspart. Er war unendlich erleichtert, als es ihm mit großer Anstrengung gelang, die Lider buchstäblich auseinanderzureißen. So fühlte es sich jedenfalls an, und es schmerzte. Nebensächlichkeiten. Lächerlichkeiten. Normalerweise hätte er an so etwas nicht mal einen Gedanken verschwendet, aber wie es aussah, wog alles doppelt und dreifach, weil der Hurensohn Flynn es ihm eingebrockt hatte.
Halbdunkel umgab ihn wie an einem regnerischen Tag, wenn eine grauschwarze Wolkendecke den Himmel verhüllte. Doch der Eindruck trog, das ahnte er, auch wenn er die Ursache für diesen Trugschluss nicht sofort ergründen konnte. Er saß in einem Verlies, zumindest in einem Raum, der wahrscheinlich keine Sichtverbindung mit der Außenwelt hatte.
Nach und nach wurde auch sein Sehvermögen besser. Die Wände, so stellte sich jetzt heraus, waren mit dunkelbraunem Packpapier abgeklebt. Doch das Papier reichte nur bis etwa drei Fuß Höhe. Darunter befanden sich Aluminiumprofile, die mit hellgrauen Kunststoffplatten ausgefüllt waren. Leichtbauwände also, wie sie in Großraumbüros und Fabrikhallen gebräuchlich waren. Folglich bestand der obere Teil der Wände ans Glas und war deshalb zugeklebt worden. Nur die eine Längswand war verputzt, völlig ohne Fenster, eine Außenwand aus Beton oder Mauerwerk demzufolge. Er stellte sich ein Büro in einer Fabrikhalle vor, aber gearbeitet wurde hier anscheinend schon lange nicht mehr. Was es an Schreibtischen und sonstigem Mobiliar gegeben haben mochte, war hinausgeräumt worden. Nur ein paar Drehstühle waren ungeordnet in eine Ecke geschoben und seitdem nicht mehr angerührt worden. Kellsos Stuhl hatte eine glatte Sitzfläche und vier Beine aus verchromtem Stahlrohr. Der Kunststoffbelag des Fußbodens war verstaubt, aber mit Trittspuren übersät.
All right, die Spuren stammten von den Kerlen, die ihn hergebracht hatte. Ansonsten aber schien sich in diesem Bau nicht viel zu tun. Es herrschte Ruhe. Stille konnte man es jedoch nicht nennen. Gelegentlich waren Autos zu hören, allerdings nicht aus unmittelbarer Nähe, sondern vielleicht einen oder zwei Blocks entfernt. Aus größerer Entfernung glaubte Kellso jene Art von Rauschen zu hören, wie es typisch war für einen sechs oder achtspurigen Highway.
Kellso vermutete daher, dass er sich irgendwo am Rand von New York befand, aber in einer Gegend, die von Manhattan South aus einigermaßen zügig zu erreichen war. Am wahrscheinlichsten waren daher Brooklyn oder Queens, weil nur der East River überquert werden musste. Staten Island oder die Nachbarstädte in New Jersey lagen zwar ebenso nahe, doch auf dem Weg dorthin befanden sich Brücken oder Tunnel, die meist hoffnungslos verstopft waren.
Ein Geräusch löste sich plötzlich aus dem Hintergrundrauschen und näherte sich rasch.
Kellso horchte angestrengt. Augenblicke später identifizierte er das Geräusch. Es war das schnarrende Singen grobstolliger Reifenprofile auf Asphalt oder Beton. Große, klassische Geländewagen waren mit solchen Reifen ausgestattet. Mindestens zwei dieser Offroader mussten es sein, die sich dem Gebäude näherten. Die Außenwand war dünn, bot jedenfalls keinen nennenswerten Schallschutz. Sonst, da war Kellso sicher, hätte er die herannahenden Wagen garantiert nicht gehört.
Sie fuhren bis direkt vor die Außenwand. Zwei Fahrzeuge, in der Tat. Die Achtzylindermotoren stellten ihren dumpf wummernden Betrieb kurz nacheinander ein. Trockene Laute zufallender Türen waren zu hören. Kellso stellte sich vor, dass nur die wichtigsten Leute das Gebäude betreten würden. Die anderen waren Bodyguards, wie üblich. Sie würden sich draußen unauffällig verteilen und aufpassen, dass ihnen niemand zu nahe kam. Ihre Waffen würden sie verborgen am Körper tragen, unter den Jacketts also. Kein zufälliger Zuschauer durfte Verdacht schöpfen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Unbeteiligte auftauchten, schien allerdings gering zu sein. Die Menschen, die in dem Gebäude einmal einen Job gehabt hatten, waren vermutlich alle arbeitslos. Auch die unmittelbare Umgebung war anscheinend verlassen. Ein leer stehendes Industriegebiet? Was es auch war, Kellso wusste, dass er niemanden auf sich aufmerksam machen konnte, weder durch Gebrüll noch durch irgendwelche Zeichen. Eine Flucht war also so gut wie ausgeschlossen, es sei denn, er konnte einem der Gangster die Waffe abnehmen und sie alle über den Haufen schießen.
Wunschdenken.
So etwas funktionierte nur im Fernsehen oder auf der Kinoleinwand. Die Wirklichkeit war so gnadenlos, wie man ihr andichtete. Kellso stöhnte voller Selbstmitleid. Um irgendetwas ausrichten zu können, musste er erst einmal die Fesseln loswerden. Und den Gefallen, sie ihm abzunehmen, würden die Bastarde ihm kaum tun.
Ein Tür wurde aufgeschlossen, Schritte näherten sich. Dann schwang die Tür zu Kellsos Verlies auf. Ein Lichtschalter klickte, und erstaunlicherweise flammte die Deckenbeleuchtung auf. Sie hielten die Bude also in Schuss. Ein ständiger Rückzugsort, vielleicht auch ein Lagerraum, ein Umschlagplatz für heiße Ware.
Zwei Männer traten auf den Gefangenen zu.
Irving Kellso glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er kannte sie beide, wenn auch nur von den vielen Observierungsfotos, die es von ihnen gab. Der eine, mit den buschigen schwarzen Augenbrauen und den dunklen Augen, war Peter Lucca. Sein Begleiter, bullig gebaut, mit kantigem Schädel und kurzem schwarzem Haar, hieß Greg Niosi.
Was verschafft mir die Ehre?, hätte Kellso gesagt, wenn er gekonnt hätte.
»Sie müssten sich selber sehen«, sagte Peter Lucca spöttisch. »Ein staunender Lieutenant Gnadenlos! Dabei sollen Sie doch zu menschlichen Regungen gar nicht fähig sein.« Er gab Niosi einen Wink.
Der Leibwächter des Juniors trat auf Kellso zu und zog ihm den Knebel aus dem Mund. Der Geschmack von Benzin und Öl blieb. Kellso krächzte, hustete, räusperte sich angestrengt und versuchte, einen Ton herauszubringen. Es klappte nicht.
»Lassen Sie sich Zeit«, erklärte Lucca großzügig. Er wandte sich zur Seite. »Greg, haben wir Mineralwasser dabei?«
Niosi nickte. »Im Auto, in der Kühlbox.«
»Dann hol es doch bitte – für unseren armen, gnadenlosen Lieutenant.«
Niosi ging los – betont gemächlich.
Kellso räusperte sich erneut und schaffte es, die ersten Silben zu sprechen. Angestrengt und laut stieß er hervor: »Peter Lucca!«
Der Juniorboss lachte und nickte wohlwollend. »Ich dachte mir schon, dass Sie mich kennen, Lieutenant. Sie brauchen es nicht noch extra zu erwähnen. Aber ich werte es als ein Zeichen von Respekt. Es tut einem Mann einfach gut, wenn sein Name gewürdigt wird. Habe ich recht?«
»Kein Respekt«, erwiderte Kellso. Es klang immer noch mühevoll. »Es ist Verachtung.«
Peter Lucca lachte. »Aber ja! Was sollte man von dem berüchtigten Lieutenant Gnadenlos auch anders erwarten! Bissig bis in den Tod, was?« Er machte einen Schritt auf den Gefangenen zu, beugte sich vor und musterte interessiert sein Gesicht, als würde er darin etwas Neues entdecken können. Dann erklärte er: »Ich will Ihnen was sagen, Kellso. Wir brauchen Sie. Wir haben Sie aus gutem Grund hergebracht – nicht etwa nur, um den Personalbestand des New York Police Department zu dezimieren.«
»Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen«, krächzte der Lieutenant.
»Das habe ich auch nicht erwartet«, nahm Lucca den Faden gelassen auf. »Cops wie Sie denken ja bekanntlich nur in Dienstvorschriften.« Er grinste höhnisch. »Ich erkläre es Ihnen, damit Sie wissen, woran Sie sind. Und wenn Sie etwas nicht verstehen, unterbrechen Sie mich einfach und fragen Sie.«
»Danke«, antwortete Kellso sarkastisch. »Das ist sehr freundlich.«
Greg Niosi kam mit dem Mineralwasser. »Mund auf!«, kommandierte er, schraubte die Plastikflasche auf und ließ dem Gefesselten das perlende Nass langsam und vorsichtig in den Hals rinnen.
Kellso kam mit dem Schlucken mühelos nach. Niosi nahm die Flasche zurück, schraubte sie wieder zu und trat zur Seite.
»Besser?«, erkundigte sich Peter Lucca scheinbar fürsorglich.
»Ja. Als Nächstes kriege ich Hunger.«
»Nun werde mal nicht unverschämt, Freundchen«, knurrte Niosi. »Wir können auch anders. Klar?«
Peter Lucca machte eine dämpfende Handbewegung. »Nehmen Sie es ihm nicht übel«, sagte er, an den Lieutenant gewandt. »Greg hat eine schlechte Kindheit gehabt. Da kamen dauernd die Cops ins Haus, haben seinen Vater grün und blau gehauen und ihn dann auch noch mitgenommen. Seitdem sind Cops ein rotes Tuch für ihn.«
»Müsste mich das interessieren?«, entgegnete Kellso kalt. »Für mich sind Gangster ein rotes Tuch. Also ...«
Niosi machte einen Satz auf ihn zu und packte ihn an der Gurgel. »Weißt du was?«, zischte er. »Wenn ich deinen Cops damit nicht einen Gefallen täte, würde ich dich jetzt kaltmachen.«
»Greg, um Himmels willen!«, rief Peter Lucca und tat bestürzt. »Wir brauchen den Lieutenant noch! Das hast du eben nicht mitgekriegt, aber ich habe es ihm schon gesagt.«
Widerstrebend, mit einem ärgerlichen Knurrlaut, wich Niosi zurück.
»Also sind wir quitt«, vollendete Kellso seinen Satz.
Niosi beachtete ihn nicht mehr, er ging im Kreis spazieren wie ein gereizter Tiger im Käfig und klopfte sich dabei mit der Wasserflasche ans Bein.
»Ich sage Ihnen jetzt, um was es geht«, erklärte Lucca junior feierlich.
»Mit dem Einverständnis Ihres Vaters?«
»Selbstverständlich. Ich führe zurzeit die Amtsgeschäfte. Sozusagen auf Bewährung.« Lucca lachte. »Besser gesagt, ich zeige, was ich kann. Unsere Familie befindet sich in einer Krisensituation, das wissen Sie natürlich. Ich habe mich erboten, den Karren aus dem Dreck zu ziehen – gemeinsam mit Greg Niosi natürlich.«
»Mhm.« Kellso nickte. »Sie meinen, die Sache am Newtown Creek hat Ihnen den Boden unter den Füßen weggerissen?«
»Nein. Obwohl ich nicht verhehlen will, dass die Festnahmen, die es dort gegeben hat, uns noch Probleme machen könnten.« Er holte tief Luft und atmete hörbar aus. »Es gibt eine Person, die uns besonders schwer zu schaffen macht, ist ein Kronzeuge. Vernon C. Resnik. Der Name ist Ihnen sicherlich ein Begriff.«
»Klar. Trevellian und Tucker haben ihn eingesackt. Dass es solche korrupten Hurensöhne wie Resnik immer noch gibt, ist mir ein Rätsel. Die müssten doch wissen, was ihnen blüht. Aber wo das Geld winkt, schaltet sich der Verstand wahrscheinlich automatisch aus. Und so was leistet beim Antritt seines leitenden Postens einen Diensteid auf die Verfassung.«
»Das tun Politiker auch«, sagte Lucca und schien sich über die Bemerkung diebisch zu freuen.
»Darüber will ich nicht reden«, grollte Lieutenant Gnadenlos, »sonst wird mir schlecht.«
»Einverstanden.« Lucca nickte. »Wie auch immer. Resnik ist im Weg, wenn ich meinen Job machen will. Sie wissen schon, den Karren aus dem Dreck ziehen.«
Kellso furchte die Stirn und spielte den Ahnungslosen. »Ich verstehe nicht ganz. Was heißt das, Resnik ist im Weg? Glauben Sie, Sie können ihn beseitigen? So, wie es die Mafia mit den meisten Zeugen macht?« Er schüttelte den Kopf. »An Resnik kommen Sie nicht heran. Er ist im Zeugenschutzprogramm.«
»Na und?« Lucca junior lächelte geduldig. »Ich muss nur wissen, wo der Mann versteckt wird. Das herauszufinden, dürfte doch für einen leitenden Cop oder einen FBI-Agenten nicht schwierig sein.«
»Sie überschätzen meine Möglichkeiten.«
»Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel, Lieutenant. Ich wette, Sie würden die Information kriegen. Ich brauche nur Resniks Aufenthaltsort, den Rest erledigen meine Spezialisten.«
»Das klappt nicht.« Kellso schüttelte heftig den Kopf. »Himmel noch mal, Sie unterschätzen den US Marshals Service.«
»Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf. Auch die Marshals sind nur Befehlsempfänger.« Lucca schnitt mit der flachen Hand durch die Luft. »Aber lassen wir das. Ich habe mir schon gedacht, Lieutenant, dass Sie für den Job nicht der richtige Mann sind. Aber Sie sind der richtige Mann für eine andere Aufgabe. Sie werden mir die Leute herholen, die die besseren Verbindungen zum Federal Attorney, zum Federal Court und natürlich auch zum Marshals Service haben.«
»Sie meinen Jesse Trevellian und Milo Tucker?«
»Ich sehe, wir verstehen uns, Lieutenant. Ich lege die Karten auf den Tisch. Sie sind für uns nur Mittel zum Zweck. Sie sollen für uns den Lockvogel spielen, damit wir Trevellian und Tucker einsacken können. Und ihren Freund Flynn am besten gleich mit. Wenn wir die drei haben, kriegen wir Resniks Versteck. Da bin ich ganz sicher. Sie werden also Trevellian anrufen und ihm sagen, dass er Sie befreien soll – gemeinsam mit Tucker und Flynn.«
Es gelang Kellso, äußerlich ruhig zu bleiben. Aber innerlich war er plötzlich aufgewühlt. Allein den Namen Flynn zu hören, war wie ein Zündfunke.
»Ich habe eine Bedingung«, sagte er daher.
Im Hintergrund stieß Greg Niosi ein raues Lachen aus.
»Sie können keine Bedingungen stellen«, entgegnete Peter Lucca hart. »Sie verkennen Ihre Situation, scheint mir.«
Kellso blieb hartnäckig. »Es ist nur eine Kleinigkeit, praktisch nicht mehr als ein Wunsch, den Sie mir erfüllen. Umso bereitwilliger werde ich all Ihre Bedingungen erfüllen.«
»Ein Wunsch?«, wiederholte Lucca verdutzt. »Sagen Sie mal, spinnen Sie?«
»Überhaupt nicht. Ich möchte von Ihnen nur die Bestätigung, dass Flynn jetzt für Sie arbeitet. Dass er ein Mafia-Cop geworden ist.«
Lucca starrte ihn an. »Sind Sie verrückt geworden?«
»Kommen Sie«, drängte Kellso. »Sie brechen sich doch keinen Zacken aus der Krone, wenn Sie mir diese kleine Information geben.«
Ein listiger Ausdruck trat in die Augen des Juniorbosses. »Nur eine Information nennen Sie das? Sie wollen, dass ich Ihnen Flynn ans Messer liefere, richtig?«
»So was würde Ihnen nicht schwerfallen, nehme ich an.«
»Okay, wenn Sie Trevellian angerufen haben, sage ich Ihnen, was Sache ist.«
»Vorher.«
»Nein, nachher.« Unmutsfalten zeigten sich auf Luccas Stirn.
Greg Niosi eilte herbei, zog eine Glock unter dem Jackett hervor und drückte dem Gefangenen die Mündung an die Schläfe. »Du hast es gehört«, zischte Niosi. »Du tust, was dir gesagt wird. Glaube bloß nicht, dass wir nicht auch ohne dich zurechtkommen!«
»Schon gut, schon gut«, ächzte Kellso. »Ich tue es. Was soll ich sagen?«
Peter Lucca erklärte es ihm, beschrieb ihm auch den Ort, an dem er sich befand. Der Lieutenant gab bereitwillig Auskunft, dass sein Handy in der linken Innentasche seiner Jacke steckte. Niosi fischte es heraus, schob die Glock in sein Gürtelholster und ließ sich von Kellso Trevellians Nummer sagen. Er wählte und hielt dem Gefangenen das Handy ans Ohr.
»Jesse Trevellian?«, rief Kellso nach einem Moment. »Jesse, sind Sie es? Ja, ich bin es, Irving Kellso. Hören Sie, ich kann nicht viel sagen. Sie haben mich gefangen. Ich bin in einem leer stehenden Supermarkt, Super Extra, am Cove Boulevard in Whitestone, Queens. Das ist unmittelbar westlich von der Throgs Neck Bridge. Sie wollen mich nur freilassen, wenn Sie, Milo und Flynn herkommen – ohne andere Cops oder G-Men.« Er atmete heftig, und mit weinerlicher Stimme fügte er hinzu: »Bitte holen Sie mich hier heraus!«
Kellso hörte der Erwiderung seines Gesprächspartners zu, doch er konnte nicht mehr antworten, denn Niosi riss ihm das Handy weg und drückte die Aus-Taste.
»Was wollte er noch?«, fragte Lucca.
»Er wollte wissen, ob dies eine Falle ist.«
Lucca und Niosi lachten.
»Das wird er schon früh genug merken«, entgegnete der Juniorboss. Niosi und er wollten sich abwenden.
»Moment mal!«, rief Kellso aufgebracht. »Ich bekomme eine Information von Ihnen. Schon vergessen? Arbeitet Flynn jetzt für Sie? Steht er auf Ihrer Lohnliste?«
Niosi tippte sich an die Stirn.
Peter Lucca sagte mitleidig: »Sind Sie eigentlich noch bei Trost, Kellso? Wie kommen Sie auf so einen Schwachsinn? Flynn ist ein Held des New York Police Department, er hat einen Orden bekommen, weil er Ihnen – Ihnen – das Leben gerettet hat, und er wurde zum Detective Sergeant befördert! Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir versuchen würden, so einen Mann auf unsere Seite zu ziehen! Also: Flynn arbeitet nicht für uns. Verstanden? Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.«
Niosi lachte glucksend. »Eine gnadenlose Information, was?«
»Wir sind gleich wieder bei Ihnen«, erklärte Lucca, bevor sie hinausgingen. »Es gibt noch ein paar Vorbereitungen zu treffen.«
Irving Kellso starrte den Männern nach.
Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es war eine schwere Niederlage, die er einstecken musste.
Schon wieder.