Kapitel 2
»Ein Pflegeheim?« Mrs Steins strahlend blaue Augen richteten sich auf Cora und fixierten sie.
Cora widerstand dem Drang, die Flucht zu ergreifen. Dieser Job war manchmal wirklich zermürbend. Es gab Zeiten, in denen sie emotional so ausgelaugt nach Hause kam, dass sie beschämend früh ins Bett fiel.
»Ja, Mrs Stein. Ein Pflegeheim.« Cora machte sich nicht die Mühe, begeistert zu klingen. Sie würde zu Mrs Steins Schmerz nicht noch eine Beleidigung hinzufügen.
Falten bildeten sich um ihren Mund, als Mrs Stein die Lippen verzog. »Ich … ich will nicht in ein Pflegeheim.«
Wenn Mrs Steins drei abscheuliche, undankbare Kinder nicht wären, müsste Cora einfach nur das am wenigsten schreckliche, staatlich finanzierte Altersheim finden und die alte Dame dorthin überweisen. Aber diese charmanten Kinder, die das Haus ihrer Mutter bereits verkauft hatten, weigerten sich nicht nur, Geld für eine Privateinrichtung auszugeben, damit ein größeres Erbe für sie übrig blieb, nein, sie waren noch charmanter und wollten nicht diejenigen sein, die ihrer Mutter sagten, dass sie in eine staatliche Einrichtung musste, weil sie gierige kleine Würmer waren.
Wenn Fälle wie dieser wenigstens die Ausnahme und nicht die Regel wären. Cora fühlte einen beginnenden Kopfschmerz hinter der Stirn und wünschte sich, sie könnte nach Hause gehen. Leider war ihr Feierabend noch Stunden entfernt. Der Tag verging schleppend und diese bescheuerten Morgen-Meetings, auf die Alec bestand, waren auch nicht hilfreich. Manchmal fragte sie sich, ob der Grund für diese Tortur war, dass er seine Mitarbeiter insgeheim hasste. Hin und wieder vermisste sie die Zeit, als sie noch nicht die Leiterin der Abteilung Soziale Arbeit gewesen war, weil sie damals nicht hatte hingehen müssen.
Mrs Steins sorgenvolle Augen starrten sie an, ohne zu blinzeln, und Cora gab nach, setzte sich neben ihre Patientin und legte die Hand auf ihre. »Es tut mir leid, Mrs Stein. Sie können sich nicht mehr eigenständig versorgen.« Cora drückte sanft ihre Hand. »Das ist bereits Ihr dritter Krankenhausaufenthalt in drei Monaten.«
Die papierdünne Haut unter Coras Hand war erstaunlich weich und so durchscheinend, dass die Venen, die sich von ihren Handgelenken bis über ihre Finger zogen, deutlich sichtbar waren. Diese Haut zeichnete die Geschichte einer Frau nach, die nun am Ende ihre Würde verlor und nicht einmal dagegen ankämpfen konnte. Unter Coras Daumen schlug ein langsamer, schwacher Puls.
»Kann mir nicht jemand zu Hause zur Hand gehen?«, fragte Mrs Stein.
»Der Stundensatz, der Ihnen durch die staatlichen Mittel zusteht, wurde schon nach Ihrem letzten Krankenhausaufenthalt aufgebraucht.« Das war der Punkt, an dem Cora den Kindern der Frau die Schuld zuschieben konnte, aber wem würde das am Ende wirklich nutzen? Auf jeden Fall nicht Mrs Stein. »Ihre Risikobeurteilung zeigt, dass Sie in eine Pflegeeinrichtung müssen, und da Sie sich erneut die Hüfte gebrochen haben …«
Mrs Stein sackte gegen ihr Kissen und atmete langsam aus. »Ich verstehe.« Sie starrte aus dem Fenster und hatte Glück, in ihrem Zimmer einen Ausblick auf das Meer zu haben, das von diesem Stockwerk aus gerade noch sichtbar war.
Cora fragte sich, ob sie wohl darüber nachdachte, wann sie das letzte Mal ihre Zehen ins Salzwasser getaucht hatte, während der Wind die Haare um ihr Gesicht tanzen ließ. Ob sie sich an die Zeiten erinnerte, in denen sie ihre drei kleinen Kinder mit an den Strand genommen hatte, um ihnen zuzusehen, wie sie Sandburgen bauten und mit einer schnellen Bewegung wieder zerstörten, nur um sie dann wieder aufzubauen.
Oder ob sie daran dachte, dass sie nie wieder ans Meer gehen würde.
Mrs Steins fechte Augen blieben auf das Fenster gerichtet. »Danke, Liebes.«
Cora erkannte eine Verabschiedung, wenn sie eine hörte. Dankbar überließ Cora die arme Frau ihren Gedanken darüber, wie sich die nächsten Jahre ihres Lebens unter der konstanten Routine von überarbeiteten und unterbesetzten Pflegekräften gestalten würden.
Eine Gruppe Krankenschwestern huschte durch den Flur und Cora schlüpfte unbemerkt an ihnen vorbei. Ihre Notizen zur Entlassung von Mrs Stein ließ sie auf dem Schreibtisch liegen. Während sie durch die vertrauten labyrinthartigen Flure ging, warf Cora einen Blick auf ihre Uhr und stieß in dem Moment mit etwas Robustem und sehr Warmen zusammen.
»Herrje!«
Diese Stimme. O Gott, das konnte sie jetzt nicht auch noch gebrauchen. Musste es unbedingt Frazer sein? Diese Frau erdolchte sie den ganzen Tag mit ihren Blicken und Cora konnte sie nur ebenso scharf erwidern und hoffen, dass sie auch nur halb so bedrohlich dabei aussah. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr das nicht gelang.
Funken sprühende grüne Augen richteten sich auf sie. »Dir ist schon klar, dass du in einem Krankenhaus besser aufpassen solltest, wo du hingehst, oder?«
Ja, Cora brauchte das wirklich nicht. Sie war schon seit einer unchristlichen Uhrzeit wach, um an einem Meeting teilzunehmen, auf das ihr Ehemann bestand und verlangte, dass sie ihn dabei unterstützte, wenn sie wollte, dass ihre Abteilung Fördergelder bekam.
Es hatte heute Anrufe von wütenden Familienmitgliedern gehagelt und verschiedene Stationen hatten sich bei ihr darüber beschwert, dass ihre Ressourcen gekürzt worden waren und hatten gefragt, ob Cora ihre Patienten irgendwie in ein Suizid-Präventionsprogramm einschleusen konnte, das bereits voll war, oder behilflich sein könnte, einen abgelehnten Antrag auf Förderung wieder aufzugreifen. Beides lag überhaupt nicht in ihrer Hand. Zur Krönung hatte ihre Lieblingskaffeebar geschlossen und so trank sie stattdessen den Bodensatz aus einem Café, in das der gute Kaffee offenbar nur zum Sterben hinging. Das Zeug in ihrer Tasse schmeckte entfernt nach verbranntem Metall.
»Ja, tut mir leid«, sagte Cora schließlich.
Ein paar Funken in den Augen erstarben. Frazer verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand. »Ich hätte auch besser aufpassen können, nehme ich an.«
Cora zog fragend eine Augenbraue hoch. Frazers Arroganz war genauso groß wie die von Alec. Bei diesem Gedanken rutschte ihr eine Bemerkung heraus, ehe sie sie aufhalten konnte. »Du nimmst es an?«
Ein breites Grinsen war die Antwort und Cora wollte genervt die Augen verdrehen.
»Na ja«, sagte Frazer, »streich das.«
Wenn Frazer sie nicht mit finsteren Blicken bedachte, sah sie weniger wie eine böse Viper, sondern vielmehr wie eine Schlange aus, die sich in der Sonne aalte. Etwas weniger furchteinflößend, aber arrogant in der Gewissheit, dass sie immer ganz leicht ihre Giftzähne ausfahren konnte.
Frazer sprach selten mit Cora, aber es war offensichtlich, dass sie es hasste, dass Alec nie den Hebammen oder der Geburtsstation half. Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er half ihnen so viel oder wenig wie den meisten anderen auch. Seine Mittel waren nicht endlos.
»Wenn ich das streiche, ist es fast eine Entschuldigung«, sagte Cora.
Frazer zwinkerte ihr zu. »Fast.«
Frazer wirkte beinahe … verspielt. Ihr Verhalten bewegte sich definitiv am Rande zum Nettsein. Sie war Cora gegenüber nie unhöflich, aber auch nie besonders freundlich gewesen. Was war mit ihr los?
Was auch immer es war, Cora war nicht in der Stimmung für Spielchen. Die Tatsache, dass sie noch mehr Patienten überweisen musste, die in Mrs Steins Situation waren, lastete schwer auf ihren Schultern. Mit einem knappen Nicken machte sie einen Schritt um Frazer herum. »Okay. Also. Ich muss dann mal weiter.«
»Kannst du überhaupt lächeln?«
Cora wirbelte ihren Kopf herum und zog die Augenbrauen zusammen. »Was?«
»Kannst du lächeln?« Frazer machte es mit Leichtigkeit vor. »Weißt du, es wird oft mit Freude in Verbindung gebracht, aber Menschen tun es aus verschiedenen Gründen ganz automatisch.«
»Ich muss weiter, Frazer.«
In diesem Moment piepte Coras Pager und rief sie, Gott sei Dank, an die andere Seite des Krankenhauses.
»Ja, okay.« Frazer winkte. »Wir sehen uns.«
Was sollte das jetzt? Frazer hatte zuvor kaum mehr als drei Sätze am Stück mit ihr gesprochen. Cora war sich nicht sicher, ob sie sie überhaupt wiedersehen wollte, selbst wenn die Worte aufrichtig geklungen hatten. Wo würde sie Frazer auch sehen? Nächsten Montag beim Meeting?
Das alles war viel zu bizarr.
~ ~ ~
»Weißt du, sie umzurennen ist nicht dasselbe, wie sie um Hilfe zu bitten.«
Frazer zuckte zusammen und wirbelte herum. Warum tauchte Tia immer überall auf? Glücklicherweise bog Cora bereits um die Ecke, um irgendein Soziale-Arbeit-Problem zu lösen. »Um fair zu bleiben: Sie hat den Löwenanteil der Kollision übernommen. Ich habe sogar einen Teil der Schuld auf mich genommen.«
Tias verengte ihre Augen zu Schlitzen, etwa zum fünften Mal heute, und dabei war es noch nicht einmal fünfzehn Uhr. »Du bist schrecklich darin, Kontakte zu knüpfen.«
Frazer öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch dann klappte sie ihn wieder zu. »Nur bei der Arbeit.«
Tia nickte mitfühlend, aber das Funkeln in ihren Augen passte nicht dazu. »Immer noch gekränkt, weil diese Chirurgin mit dir Schluss gemacht hat?«, fragte sie.
»O mein Gott, selbst du weißt davon?«
»Liebes, ich bin ziemlich sicher, dass sogar die Pathologieassistenten davon wissen.«
Frazer wandte sich zum Gehen und seufzte theatralisch. »Und jetzt werde ich ein Kilo Schokolade essen und so tun, als hättest du nichts gesagt.«
Tia rief ihr vollkommen ohne Reue nach: »Wenn du willst, dass dieses Projekt funktioniert, musst du dir mehr Mühe geben.«
Frazer blieb stehen. Sie schloss die Augen. Atmete tief ein. Schließlich drehte sie sich wieder um. »Ich kann nicht gleich bei der ersten Gelegenheit um Hilfe bitten. Das würde beweisen, dass …«
»Dass du ihre Hilfe brauchst?«, fragte Tia mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Nein.« Na ja, schon. »Es würde beweisen, dass ich nur mit ihr rede, damit sie mir einen Gefallen tut.«
»Das tust du ja auch.«
Die Tatsache, dass Tia zu Hause regelmäßig zwei Jungs im Teenageralter verhören konnte und zusätzlich noch zwei bereits erwachsene Töchter hatte, war in diesem Moment unglaublich offensichtlich.
»Ja, aber –«
»Hör zu, rede in dieser Sache nicht um den heißen Brei herum. Sie ist Sozialarbeiterin. Falls Alec überhaupt auf jemanden hört, dann auf sie.« Sie tauschten einen Blick aus. »Sie ist jemand, der dir helfen kann.«
»Was, wenn sie nicht helfen will?«
»Das wird sie. Und wenn nicht, erfährst du es direkt. Aber schmier ihr keinen Honig ums Maul. Das wirkt billig.«
Frazer musste wirklich an ihrer Taktik arbeiten, wenn sie so offensichtlich war. Ihre Wangen wurden warm. »Wir reden normalerweise nie miteinander. Ich sehe sie kaum und wenn, dann nur bei diesen dämlichen Montag-Meetings. Es hat sich falsch angefühlt, einfach nur um einen Gefallen zu bitten.«
Tia verdrehte die Augen. »Weißt du, ihr steht nicht auf verschiedenen Seiten. Ihr könnt euch gegenseitig helfen.«
»Was kann ich ihr schon im Gegenzug anbieten?«
»Ich bin mir sicher, dass du ihr später auch mal helfen kannst. Wie kommst du überhaupt darauf, dass sie dem Programm nicht freiwillig helfen würde? Es trifft genau in das blutende Herz einer Sozialarbeiterin.«
»Sie hat mich beim Meeting auch nicht gerade unterstützt.« Frazer schob das Kinn vor. Endlich ein Punkt für sie.
»Es ist nicht so, dass sie generell viel sagt.«
Frazer ließ die Schultern sinken. Doch kein Punkt für sie. »Stimmt.«
Es stimmte wirklich. Für gewöhnlich marschierte Cora in die Meetings und ging dann wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben. Mit gesenktem Blick, bereit die Welt zu retten – oder was auch immer Sozialarbeiterinnen taten. Frazer hatte einfach angenommen, sie wäre ein wenig … langweilig. Aber vielleicht war sie nur schüchtern.
»Schön.« Frazer schmollte und fühlte sich dabei wieder wie fünfzehn. »Ich rede mit ihr wie eine Erwachsene.«
»Gutes Mädchen. Und jetzt geh. Oh, und viel Spaß, wenn du auf dem Weg durch ihr Büro an Lauren vorbeigehst.«
Frazer seufzte erneut. Laut.
Tia kicherte und zog ab.
Frazer schürzte die Lippen.
Wirklich, sie hatte keine Ahnung, warum sie diese Frau mochte.
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Nach einer dramatischen Steißgeburt fand Frazer endlich die Zeit, Tias Ratschlag zu befolgen. Sie ließ die frischgebackenen Eltern auf ihrem Krankenhausbett mit ihrem winzigen Bündel neuen Lebens zwischen sich zurück. Nachdem sie die Handschuhe ausgezogen hatte, rollte Frazer mit den Schultern und ließ ihren Nacken knacken. Normalerweise verbrachte sie Montage unter Bergen von Verwaltungskram, aber diese Geburt hatte nach jemandem mit Erfahrung verlangt und Frazer hatte die Gelegenheit ergriffen. Sie ließ warmes Wasser über ihre Hände laufen und schrubbte sie mit Seife.
Eine solche Geburt war weitaus besser als Papierkram.
Sie überließ es der jungen Hebamme im ersten Jahr, den Bericht zu schreiben, den Frazer später nur noch überprüfen würde, und ging die Treppen hoch. Büroarbeit, der Fluch jedes Pflegenden und jeder Hebamme. Frazer tat der Neuen einen Gefallen, indem sie ihr die Gelegenheit gab, das Berichteschreiben zu üben, wie man es einst auch mit ihr getan hatte.
Sie grinste in sich hinein. Niemand würde diese Ausrede glauben.
Der Gang der Abteilung für Soziale Arbeit war leer und das war schlecht. Wie sollte sich Frazer verstecken und sich unbemerkt zu Coras Büro durchschlagen, wenn niemand da war?
»Frazer!«
Erwischt. Sie versuchte, freundlich zu wirken, und zwang ihre Mundwinkel nach oben, während sie in Richtung Schreibtisch ging. »Hi Lauren.«
»Wie geht’s dir?«
Lauren bestand scheinbar nur aus Zähnen und Lippenstift und sie war wirklich sehr nett.
Aber so verdammt interessiert. Und sie war eine Kollegin. Und nein.
»Mir geht’s gut. Eigentlich suche ich Cora. Hast du sie gesehen?«
»Sie ist in ihrem Büro, aber …«, Lauren senkte ihre Stimme, »Alec ist mit ihr da drin.«
Natürlich war er das. Frazer war wirklich nicht in der Stimmung, mit ihrem Boss zu sprechen. Überhaupt nicht. Es war seine Schuld, dass sie überhaupt hier war. Aber sie wollte genauso wenig mit Lauren sprechen. Das nennt man wohl Zwickmühle, Frazer.
Sie entschied sich für das geringere Übel und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Frau, die noch immer mit diesen Hundeaugen zu ihr aufsah. »Seit wann ist er da drin?«
»Seit etwa zehn Minuten.«
Vielleicht knutschten sie rum. Ein Grinsen umspielte bei diesem Gedanken ihre Lippen. Cora schien nicht der Typ dafür zu sein. Alec schien auch niemand zu sein, der gegen Regeln verstieß.
»Du brauchst gar nicht so zu gucken. Das werden sie nicht tun.« Erneut senkte Lauren ihre Stimme. »Sie haben sich vorhin angeschrien.«
Interessant.
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Es war einer dieser Momente, in denen Cora das Gefühl hatte, nicht Teil ihres eigenen Lebens zu sein.
Wie konnte es sein, dass sie auf der Macht seite des Schreibtisches saß und Alec ihr auf der Besucherseite gegenüberstand und es sich trotzdem anfühlte, als wäre er derjenige, der die Macht besaß? In diesen Situationen gab es keine Gewinner.
»Um Gottes willen, Cora, wenn du manchmal einfach ein bisschen nachdenken würdest!«
Die Wut in seinen Augen überraschte sie immer noch jedes Mal, wenn sie sie sah. Was in letzter Zeit viel zu häufig vorkam. Cora wollte sich nicht auch noch während der Arbeit streiten, aber wenn Alec über etwas sprechen wollte, konnte es nicht warten.
Sie wünschte sich, er würde seine Stimme senken.
»Es wäre einfacher, wenn ich wüsste, um was es tatsächlich geht, Alec.« Sie hasste ihren Tonfall. Beschwichtigend. Beruhigend. Und trotzdem etwas zu hoch.
»Versuch ja nicht, das auf mich zu schieben.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer.
Er schloss die Tür zu laut und Cora musste dem Drang widerstehen, ihm etwas hinterherzuwerfen. Sie atmete tief und langsam ein und wieder aus. Cora war nicht mehr fünf Jahre alt. Sie warf nicht mit Gegenständen um sich.
Wie hatte das alles überhaupt angefangen? War es nicht um irgendetwas gegangen, das Cora zu Alecs Eltern gesagt hatte? Oder den Tonfall einer E-Mail, die Cora geschrieben hatte?
Wenn sie zu Hause gewesen wären, wäre dieser Streit eskaliert, aber wenigstens hätten nur die Nachbarn und nicht ein ganzes Gebäude voller Kollegen die Auseinandersetzung mit angehört. Wie waren sie beide zu der Art Menschen geworden, die sie wirklich nicht mochte, sobald sie miteinander allein gelassen wurden? Warum stritten sich zwei Erwachsene wie Kinder? Und wieso war sie es, die immer Alecs Wut besänftigte und sich entschuldigte, auch wenn sie die meiste Zeit nicht einmal wusste wofür?
Das alles wurde langsam ermüdend.
Cora öffnete ihre E-Mails und schloss sie sofort wieder, als sie eine Nachricht von einem ganz besonderen Absender in ihrem Postfach sah. Wann hatte ihre Mutter gelernt, E-Mails zu schreiben? Schnaubend funkelte sie den Bildschirm an. Und wer hatte ihr Coras Adresse gegeben? Es musste Alec gewesen sein. Noch eine Möglichkeit für ihre Mutter, sich ständig in ihr Leben einzumischen und Cora keine Rückzugsmöglichkeit zu lassen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Cora glaubt hatte, dass Handys eine fantastische Erfindung wären. Jetzt erwarteten alle, dass man ständig erreichbar war. Die Hälfte der Zeit lag ihr Handy mit leerem Akku ganz unten in ihrer Tasche. Normalerweise mit fünf verpassten Anrufen ihrer Mutter.
Sie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als es an der Tür klopfte. Es konnte nicht Alec sein. Er klopfte nie. An einer Bürotür zu klopfen wirkte absurd, wenn man gewohnt war zu pinkeln, während die andere Person daneben unter der Dusche stand.
»Herein.«
Als sich die Tür öffnete, unterdrückte sie ihr Seufzen. Frazer? Warum? Warum nur?
»Hey! Entschuldige, störe ich?«
Cora lehnte sich zurück und deutete auf den Stuhl, der ihrem Schreibtisch gegenüberstand. Der, auf den sich Alec gar nicht erst gesetzt hatte. »Nein, setz dich.«
Wenn sich Cora eins wünschte, dann dass Frazer Alecs Abgang nicht mitbekommen hatte. »Danke.« Frazer ließ sich auf dem Stuhl nieder, als würde sie jeden Tag dort sitzen. Wie konnte sie sich in einer Umgebung so wohlfühlen, in der sie noch nie gewesen war? »Also, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
Verwundert lachte Cora auf.
Frazer lächelte sie über den Tisch hinweg einfach nur weiter an. »Schockierend, ich weiß.«
Wenn Frazer einmal nicht so arrogant war, konnte sie beinahe charmant sein. Deshalb war sie also im Flur so gesprächig gewesen. Sie wollte etwas von Cora.
Frazer rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Mir wurde gesagt, dass es höflicher ist, direkt um einen Gefallen zu bitten, anstatt um den heißen Brei herumzureden.«
»Dein Versuch heute Morgen mit mir zu sprechen, war, ähm …«
»Offensichtlich?«, fragte Frazer.
»Im Nachhinein ja, das beschreibt es ganz gut.«
»Ich brauche deine Hilfe.« Frazer stieß die Worte heraus, als müsste sie sich dazu zwingen, sie auszusprechen.
Cora blinzelte. Nun, das kam unerwartet. »Warte mal, hast du gesagt, dass du meine Hilfe brauchst?«
»Ja.« Das Grinsen, das Frazer so mühelos über die Lippen kam, ließ ein Grübchen auf ihrer linken Wange entstehen. Es war ein wenig schief und beinahe süß. »Die brauche ich wirklich. Dieses Projekt muss endlich realisiert werden, Cora.«
»Und Alec versucht, dein Budget zu kürzen, damit du – wie hast du es noch formuliert? – die Leute gleich mit Kondomen bewerfen kannst?«
So etwas wie Verlegenheit huschte über Frazers Gesicht. »Ich brauche die Mittel. Wenn du ein paar der Personen treffen würdest, denen es helfen könnte …«
»Personen? Ich dachte, das Programm richtet sich an Frauen?«
»Es richtet sich an alle schwangeren Personen .« Die Betonung warf Cora einen Augenblick aus der Bahn, aber Frazer fuhr fort, als wäre es ihr nicht aufgefallen. »Anfangs konzentriere ich mich auf Teenager, aber sobald wir Fuß gefasst haben, weiten wir es aus. Es gibt bereits eine Warteliste. Wir wollen einen Ort für Menschen schaffen, zu dem sie gehen können, ohne sich verurteilt zu fühlen. Sie sollen einen Mentor haben, zu dem sie während der Schwangerschaft und nach der Geburt Kontakt halten können. Der Fokus wird sich langfristig auf die Zeit nach der Geburt und die Unterstützung der beiden Elternteile richten.«
Frazer schlug die Beine übereinander und verschränkte die Finger über dem Knie. Offensichtlich war sie heute im Kreissaal gewesen. Sie trug immer noch die babyblaue OP-Kleidung. Manchmal war Cora ein bisschen neidisch – sie würde sich liebend gern so bequem kleiden. Das Teil sah aus wie ein Schlafanzug. Stattdessen musste sie sich mit Polo-Shirts oder Business Outfits zufriedengeben.
Frazers Berichte und Anträge, in die Frazer offensichtlich Monate investiert hatte, lagen in Coras Postfach, sodass jeder Mitarbeiter sie sehen konnte. Sie hatte sie gelesen. Die Arbeit, die Frazer leisten wollte, war notwendig, und das Programm sogar spannend. Aber was erwartete sie von Cora? »Deine Idee ist gut, Frazer.«
»Ich weiß.« Schon wieder diese Arroganz. »Aber ich glaube, dass es zu kurzsichtig war, das Projekt auf mein Team zu beschränken.« Für den Bruchteil einer Sekunde hielt Frazer inne und wandte den Blick ab, ehe sie Cora wieder ansah. »Ich will unsere Kräfte bündeln.«
Cora starrte sie an. »Frazer …« Sie schwieg einen Moment, um ihre Gedanken zu ordnen. »Ich bin schon an vielen Programmen beteiligt und es kommen in der nächsten Zeit noch einige dazu. Ich kämpfe ständig um mehr Zeit, mehr Geld und um Dinge, die älteren Patienten helfen, die in unterbesetzte Pflegeeinrichtungen abgeschoben werden.« Eine Sekunde lang konnte Cora Mrs Steins papierartige Haut unter ihren Fingerspitzen fühlen und sie ballte ihre Hände im Schoß zur Faust. »Und du willst dieser stetig wachsenden Liste noch ein Projekt hinzufügen?«
»Hör zu, ich weiß, dass deine Abteilung schwer beschäftigt ist. Ich weiß, dass dein Fokus auf der Geriatrie liegt. Ich weiß es. Aber du bist die Leiterin der Abteilung für Soziale Arbeit. Du hast Mitarbeitende, die auch in meine Fälle verwickelt sind. Wäre es nicht toll, wenn wir den Menschen helfen könnten, bevor deine Abteilung einschreiten muss? Einen Mentor zur Verfügung stellen, der jederzeit als Unterstützung für die Eltern ansprechbar ist? So könnten wir vorbeugen, bevor wir später heilen müssen!«
Frazer hatte sich in Rage geredet und ihre grünen Augen leuchteten, während sie über etwas sprach, dem ihre Leidenschaft galt. Eine sanfte Röte überzog ihre Wangen. Der Kontrast ihrer dunklen Haut zu dieser Röte ließ sie beinahe sanft erscheinen. »Langfristig würden wir Geldmittel, Mitarbeitende und Ressourcen frei machen«, sagte sie. »Mit einer frühen Intervention würden wir diese Eltern nicht länger dämonisieren, sondern ihnen helfen und ihnen die Unterstützung geben, die sie brauchen – weiterführende Betreuung für Eltern und Babys, Unterstützung, lange nachdem das Baby geboren ist, und sogar lange nachdem das Baby zur Adoption freigegeben oder abgetrieben wurde.«
Die Väter sollten auch miteinbezogen werden? Beide Elternteile zu betreuen verlangte nach mehr Zeit, mehr Mitteln und mehr Hilfestellungen. Frazer nahm sich vielleicht zu viel vor. Kein Wunder, dass Alec versuchte, das Programm einzustampfen, bevor es überhaupt anfangen konnte.
Aber es war ein Programm, dass das Potential hatte, einen Unterschied zu machen. Eines, das eine Chance verdiente.
»Du willst, dass wir bei dieser Sache zusammenarbeiten und die Mittel aus unseren Abteilungen zusammenfassen?«, fragte Cora schließlich.
Langsam breitete sich das Lächeln über Frazers Gesicht aus. »Ganz genau.«
»Und vielleicht auch meine Verbindung zu Alec nutzen?«
Als Frazers Lächeln breiter wurde, nickte Cora. Wie sie es sich gedacht hatte. Frazer war davon überzeugt, dass Cora von Alec eine Sonderbehandlung erhielt. Wenn sie wüsste, dass Cora um Ressourcen genauso kämpfen musste wie alle anderen auch.
Aber wenn sie beide hinter dem Programm standen, würde Alec es vielleicht nicht länger ignorieren können.
»Cora, wenn wir dieses Programm in den nächsten Monaten auf die Beine stellen, gibt es Eltern, deren Leben ich ändern kann. Wir können die Vermittler zwischen ihnen und den anderen Einrichtungen, der Gesundheitsversorgung, den Adoptionsagenturen und den Abtreibungskliniken sein. Wir können ihnen Therapie und Unterstützung anbieten. Alles kostenlos. Sie können dann endlich gut informiert ihre Entscheidungen treffen und, was noch wichtiger ist, auch nach der Geburt des Babys noch unterstützt werden, bevor die Probleme entstehen. Keine Betreuung, die sich nur auf das Baby, sondern auf sie konzentriert. Der Schlüssel dazu ist das Mentoren- Programm.« Der Ausdruck auf Frazers Gesicht war nun vollkommen ernst. Sie sah Cora eindringlich an. »Wenn wir ein paar Leute aus deinem und meinem Team an Bord holen, könnten wir wirklich etwas verändern. Ich brauche nur die Fördermittel und muss Alec davon überzeugen, dass dieses Programm es wert ist.«
Cora fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen. Ihr Pager vibrierte an ihrem Gürtel, aber sie ignorierte ihn. »Okay. Ich bin dabei.«