Kapitel 4
Es war warm in der Bar und es war viel los, aber der Raum wirkte einladend mit den abgenutzten Ledersitzen, die dankenswerterweise die Lautstärke der Unterhaltungen dämpften. Ein Vorgeschmack der Möglichkeiten lag auf Frazers Zunge, als sie vorausging, ihr Date dicht hinter ihr. Ihr Date. Nicht, dass sie darüber besonders begeistert war, aber ihre dämlichen Freunde hatten ihre keine Wahl gelassen. Schlimmer noch, als Frazer Lauren um ein Date gebeten hatte, hatte sie nur an diesem Abend Zeit gehabt und nicht am Freitag, dem Termin, den Frazer vorgeschlagen hatte.
Der Barkeeper erwiderte ihr kurzes Nicken zur Begrüßung mit einem Zwinkern, als er Lauren neben ihr entdeckte. Wortlos stellte er zwei Gläser Weißwein vor sie.
Anscheinend hatte er ein gutes Gedächtnis.
Mit erhobenem Glas hielt Frazer Laurens Blick fest, als diese ihre Geste erwiderte, doch das Klirren ihrer Gläser verlor sich in der Geräuschkulisse des Raums.
»Ich bin so froh, dass wir endlich mal zusammen ausgehen.«
»Ich auch, Lauren.« Die Lüge kam ihr mit Leichtigkeit über die Lippen.
Ihre Freunde sollten verflucht sein.
»Ich dachte schon, du würdest mich nie fragen.«
Statt zu antworten zuckte Frazer nur mit den Schultern und grinste sie an.
Das war nun also aus ihrem Versprechen geworden, niemals wieder mit jemandem von der Arbeit auszugehen. Nach dem letzten Mal hatte sie sich wochenlang immer wieder in einer Abstellkammer verstecken müssen, um ihrer Ex aus dem Weg zu gehen. Danach hatte sie sich geschworen, das Krankenhaus nicht mehr als ihren persönlichen Dating-Pool zu missbrauchen. Und jetzt könnte sie sich selbst in den Hintern beißen, weil sie nicht nur ihren eigenen Vorsatz ignoriert hatte, sondern eigentlich einfach nur nach Hause gehen und
Netflix
gucken wollte – allein.
Doch dann schob sich das Bild eines Dating-Profils in ihre Gedanken. Jemma und Andy würden wahrscheinlich das gruseligste Foto nehmen, das sie finden konnten. Vielleicht das, auf dem Frazer komplett in Jeansstoff gekleidet war. Eine Katastrophe. Lesbe, die zu sehr an ihrem Aquarium hängt und nur etwas Liebe braucht
oder eine andere abscheuliche Bildunterschrift darunter. Frazer schluckte schwer.
Laurens Blick folgte begeistert jeder ihrer Bewegungen.
Frazer presste die Lippen zusammen und versuchte, interessiert zu wirken. Arme Lauren. Wenn sie wüsste, dass sie nur hier war, weil ihr Name Frazer als erster in den Kopf gekommen war.
Da Frazer nur hier war, weil ihr gedroht worden war, war das mehr eine Beugung und kein Bruch der Regeln.
Es half alles nicht.
Frazer wäre trotzdem lieber woanders.
Sie schoben sich an anderen Barbesuchern vorbei und fanden eine freie Sitzecke. Dieser Teil eines Dates war immer unangenehm – Flirten war einfach, aber dann herauszufinden, wohin das alles führen konnte … schwierig. Sie füllten die Stille mit bedeutungslosem Geplauder. Frazer gelang es, der Frau, die sie monatelang umkreist hatte, sporadisch zustimmend zuzunicken, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.
Früher war sie mal richtig gut in diesem Spiel gewesen. Jetzt wollte sie lieber die letzten Unebenheiten in dem überarbeiteten Antrag glätten. Mit Cora brainstormen.
Mit Cora, die helfen wollte.
Lauren lachte und strich mit ihren Fingern über Frazers Handrücken. Es war eine leichte Berührung, entspannt aber bedeutungsvoll. Das hier könnte sehr, sehr leicht werden.
Frazer richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Frau, die ihr gegenübersaß, und zwang sich, alles andere zu vergessen.
~ ~ ~
Cora saß auf den Stufen vor dem Haus ihrer besten Freundin und versuchte, sich ans Atmen zu erinnern. Ihr Herz hämmerte wild in
ihrem Brustkorb und ihre Hände waren schweißnass. Sie hasste Streit. Sie hasste es, wenn sich die Bedeutung der Worte umkehrte und sie nur noch hässlich und schroff klangen. In der Vergangenheit hatte sie sich von solchen Konfrontationen einschüchtern lassen, aber Alec provozierte sie in letzter Zeit immer häufiger, und mittlerweile ließ sie sich dazu hinreißen, fast so gut auszuteilten, wie sie einsteckte. Meistens bereute sie ihre Worte jedoch sofort. Dinge, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie ihr durch den Kopf gingen, sprudelten aus ihrem Mund und fielen schwer wie Steine auf den Küchenboden, wo Alec sie in aller Ruhe sichten und ihr am nächsten Tag zurück an den Kopf werfen konnte.
Das machte er immer so.
Sie schlang ihre Arme um die Knie. Warum musste Lisa ausgerechnet heute nicht zu Hause sein? Cora musste sich ermahnen, nicht egoistisch zu sein – vielleicht hatte es einen Notfall mit Lisas Mutter gegeben. Cora hatte sowieso keine Ahnung, wie Lisa ihre Mutter und ihre jüngeren Geschwister im Einzelnen unterstützte.
Gut, zugegeben, Cora war egoistisch. Aber sie brauchte jetzt wirklich dringend ein Glas Wein mit ihrer besten Freundin. Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, würde sie sich schon längst auf Lisas Couch zurücklehnen, den Wein wie Balsam über ihre Zunge rinnen lassen und sich besser oder zumindest nicht mehr so schrecklich fühlen. Lisa, Meisterin darin, Coras komplizierten Gedanken zu folgen, würde ihr kunstvoll entlocken, was passiert war, und mitfühlend nicken, während sie ihr nachschenkte. Und dann wäre Cora irgendwann ruhig genug, um wieder nach Hause zu gehen.
Aber heute sollte es nicht sein. Lisa war nicht da. Ausgerechnet in der Nacht, in der Cora mit verheulten Augen dramatisch aus dem Haus gestürmt war. Der Nacht, in der Alec ein Glas nach ihr geworfen hatte, das gefährlich nah an der Wand über ihrem Kopf zersprungen war. Die Luft zwischen ihnen hätte man schneiden können, so voller harter Emotionen war sie gewesen – seine Wut traf auf die Flammen ihrer eigenen, die sie nicht mehr länger unterdrücken konnte. Es hatte gut funktioniert, die Verachtung zu verbergen, die sich über die letzten Jahre in ihr aufgestaut hatte, aber bislang noch nicht an die Oberfläche gedrungen war.
Er hatte sie mit weit aufgerissenen blauen Augen angestarrt, die im
Neonlicht seltsam gefunkelt hatten. Sie hatte auf dem Absatz kehrt gemacht und war geflohen.
Natürlich zu Lisa.
Und natürlich war Lisa heute nicht zu Hause.
Vor Lisas Haustür hatte Cora eine Entscheidung getroffen: Sie würde nicht wieder nach Hause gehen. Auf keinen Fall würde sie wieder in dieses Bett steigen mit einer gefühlt meterweiten Distanz zu dem Mann, der sich einst an sie geklammert hatte. Zurück zu diesem unheilvollen Schweigen, das wie der Gestank von etwas Fauligem im ganzen Haus in der Luft hing.
Zurück an einen Ort, an dem sie sich wie auf Eierschalen bewegte und sich wünschte, irgendwo anders zu sein, obwohl sie sich eigentlich dort selbstbewusst und sicher fühlen sollte.
Wenn Lisa nicht da war, um mit ihr ein Glas Wein zu trinken, würde Cora es einfach allein tun. Kein Problem.
Cora konnte allein sein.
Auch wenn es etwas war, was sie noch nie gemacht hatte.
~ ~ ~
Lauren war unwahrscheinlich hübsch. Sie hatte einen umwerfenden Körper.
Leider war sie auch unglaublich langweilig.
Während sie an ihrem Drink nippte, versuchte Frazer, ihren Blick nicht immer wieder durch die Bar schweifen zu lassen. Normalerweise vermied sie es, zu so einem Anlass in eine Bar zu gehen, die auch ihre Kolleginnen besuchten, aber Lauren hatte sie vorgeschlagen und Frazer hatte nicht widersprochen. Was sie sich eingebrockt hatte, musste sie auch auslöffeln. Und zwar bis zum letzten Löffel.
Wenn man abends mit Kollegen gesehen wurde, konnte das schnell die Gerüchteküche anfeuern. Ein Blick durch den Raum sagte Frazer, dass sie morgen brodeln würde. Der Tratsch darüber, wer mit wem nach Hause gegangen und seinen Partner betrogen hatte, grassierte ungezügelt im Krankenhaus, und sie war sicher, dass sie gerade eine der OP-Schwestern von ihrer Station mit einem der Geburtshelfer hatte verschwinden sehen. Pikant.
Mit einem zustimmenden Nicken in Laurens Richtung zwang sich Frazer, sich wieder dem Gespräch mit Lauren zuzuwenden. Sie
beteiligte sich nicht am Tratsch. Aber sie konnte sich einfach nicht auf die Frau vor ihr konzentrieren. Es war so lange her, dass sie mit Arbeitskollegen etwas trinken gegangen war. Man konnte so leicht vergessen, dass in Bars, gelöst durch den Alkohol, Dinge gesagt wurden, die besser privat geblieben wären. Und die Menschen bastelten viel zu leicht Geschichten daraus, die so sensationell klangen, dass andere gar nicht anders konnten, als sie weiterzuerzählen.
Kein Wunder, dass Frazer dem allen für gewöhnlich aus dem Weg ging.
Als Lauren über einen vergangenen Urlaub sprach, Kaum zu glauben, aber die Strände waren sogar schöner als hier
, entdeckte Frazer Tia in Begleitung einer anderen Sekretärin, die Frazer aus einem privaten Krankenhaus kannte.
Offenbar bemerkte auch Lauren, dass Frazer ihr nicht mehr zuhörte, denn sie folgte Frazers Blick und lachte leise. »Sind das Sam und Tia?«
Sam! Das war ihr Name. Mit einem Nicken nippte Frazer amüsiert an ihrem Bourbon.
»Hassen sich ihre Ehemänner nicht?« Laurens Aufmerksamkeit war wieder ganz bei Frazer, während sie auf die Antwort wartete, die jeder kannte.
»Das tun sie – und sie hassen es auch, wenn ihre Frauen zusammen ausgehen. Aber offensichtlich ist es ihren Frauen egal.«
»Sams Mann hat Alec vor ein paar Jahren bei irgendeinem Deal über den Tisch gezogen, nicht wahr?«
Die beiden Sekretärinnen hielten ihre Martinis in den Händen und lachten laut. Sie steckten die Köpfe zusammen, als planten sie eine Verschwörung. Tias Augen leuchteten und Frazer fragte sich, von welchem Gerüchteleckerbissen sie gerade erfahren hatte.
»Genau«, sagte Frazer.
Lauren starrte noch einen Moment zu den beiden hinüber.
»Ich frage mich, ob sie lesbisch sind …«
Lauren klang neugierig und Frazer verschluckte sich beinahe, sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Tia war einer der wenigen Menschen im Krankenhaus, die Frazer wirklich mochte. »Ich bezweifle es. Ich habe Tia und ihren Mann auf der Silvesterfeier vorletztes Jahr in der Küche in flagranti erwischt – sie schienen definitiv ihren Spaß zu
haben.«
»Das muss nichts heißen …«
»Schlägt dein Gaydar aus?« Frazer hob eine Augenbraue.
»Okay, okay.« Lauren sank auf ihrem Sitz zusammen. »Nein. Ich finde es nur so schade. Es sollte mehr von uns geben.« Sie beobachtete die beiden Frauen einen Moment. »Eine Schande.«
Die Glocke über der Tür verkündete einen Neuzugang, auch wenn der Ton im Lärm der Bar fast unterging. Lauren drehte den Kopf in Richtung Eingang und ein Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus. »Genauso wie bei ihr.«
Frazer drehte sich mit ihrem Drink in der Hand um, um zu sehen, wessen Heterosexualität Lauren ein Dorn im Auge war. In der Tür stand Cora und sah so aus, als wüsste sie nicht, ob sie reinkommen sollte oder nicht. Frazer nahm schnell einen Schluck aus ihrem Glas, um ihre Reaktion zu überspielen. So viel dazu, nicht an ihr geplantes Programm zu denken – und damit auch nicht an Cora.
Cora biss sich auf die Unterlippe, schob sich mit der Hand eine Haarsträhne hinter die Ohren und betrat die Bar. Sie ging mit gesenktem Blick an der Empfangssekretärin ihres Mannes vorbei und setzte sich ans andere Ende der Theke. Ihre Wangen waren gerötet. Sie hielt ihren Blick auch gesenkt, als sie etwas zu trinken bestellte. Heute Vormittag hatten ihre Augen noch geglänzt, ihre Hand auf Frazers Arm, als ein offenes Lachen aus ihr herausgebrochen war, während sie über ein Projekt sprach, auf das sie sich freute.
»Ich habe sie hier noch nie gesehen.«
Frazer atmete tief ein und verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, woanders zu sein. »Wollen wir gehen?« Sie wusste zwar nicht, was sie wollte, aber sie wusste, dass sie nicht mehr in dieser Bar sein konnte.
Laurens Augen leuchteten auf. »Na klar.«
Frazer bereute ihre Frage bereits, als sie den Rest ihres Drinks hinunterstürzte und aus der Sitzecke rutschte, um Lauren zu folgen. Sie schoben sich hintereinander durch die Menge. Irgendwie war die Bar jetzt sogar noch voller und die Leute standen dicht gedrängt in Grüppchen zusammen. Der Geruch von Bier und Schnaps in der Luft war beinahe überwältigend und Stimmengewirr und Gelächter übertönten die Musik. Normalerweise würde Frazer sich in dieser
Umgebung wohlfühlen, aber heute fühlte es sich aus irgendeinem Grunde erdrückend und zu warm an.
Die Luft draußen war kühl und frisch und man konnte bereits den nahenden Herbst spüren. Die Tür schwang hinter ihnen zu und schloss den Krach ein. Mit den Händen in den Taschen drehte sich Lauren lächelnd zu ihr um.
»Zu dir oder zu mir?«
Obwohl sie sich am liebsten verabschiedet hätte, antwortete Frazer: »Zu dir?«
Die Freude auf Laurens Gesicht war offensichtlich und sie drehte sich um und ging los. Wortlos lief Frazer neben ihr her.
~ ~ ~
Allein in einer Bar zu sitzen war irgendwie deprimierend. Cora beobachtete, wie Alecs Sekretärin lautstark mit ihrer Freundin sprach. Cora wusste, dass der Ehemann dieser Frau und Tias Mann sowie ihr eigener sich hassten. Alec hatte ihr die Geschichte vor Jahren mal erzählt, aber sie konnte sich nicht mehr recht daran erinnern. Klatsch und Tratsch hatten sie nie sonderlich interessiert.
Vielleicht hätten sie es tun sollen.
Vielleicht hätte sie an der Universität besser auf die Gerüchte achten sollen, das Getuschel über Alecs Wutausbrüche gegenüber seiner Ex-Freundin.
Aber er hatte ihr einfach den Kopf verdreht. Er war charmant und witzig. Er hatte die Wahl unter den Studentinnen am Campus, aber er hatte sie angelächelt. Und dann war der Schwangerschaftstest viel zu früh positiv gewesen und es ging nicht mehr darum, dass sie sich von seiner Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlte. Nur wenige Monate, nachdem sie angefangen hatten, miteinander auszugehen, stand sie mit diesem Test in der Hand in ihrem Badezimmer und war davon überzeugt, dass ihr Leben vorbei war. In den Augen ihrer Mutter wäre es das gewesen. Das brave Mädchen und der brave Junge erwarteten ein Baby? Unverheiratet? Wie konnte so etwas passieren?
Indem sie heißen Sex hatten, Mutter
.
Cora nippte an ihrem Wein und sah sich in der Bar um. Sie war seit vier Stunden hier. Menschen zu beobachten gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Wenn man sich ruhig verhielt, vergaßen die
Leute, dass man überhaupt da war. Grüppchen kamen und gingen, manche Leute kannte sie von der Arbeit und andere hatte sie noch nie im Leben gesehen. Menschen, von denen sie wusste, dass sie verheiratet waren, verließen die Bar mit Leuten, die nicht ihre Partner waren. In einer Ecke war ein Streit ausgebrochen und sie zuckte unwillkürlich zusammen.
Frazer hatte die Bar verlassen, kurz nachdem sich Cora an den Tresen gesetzt hatte. Als Cora sie gesehen hatte, war so etwas wie Sehnsucht in ihr aufgeblitzt. Ein Beweis dafür, wie einsam sie sich fühlte – Frazer war der einzige Mensch, den Cora hier wirklich kannte
. Alle anderen waren bestenfalls flüchtige Bekannte oder Fremde, Menschen, die sie nie richtig kennengelernt hatte. Frazer im Grunde natürlich auch nicht, aber zumindest hatten sie mehr als nur ein paar Worte miteinander gewechselt. Definitiv mehr als nur ein paar nach ihrem Gespräch über das geplante Programm.
Cora nahm noch einen großen Schluck von ihrem Wein.
Wenn sie sich danach sehnte, mit Frazer
zu sprechen, musste sie wirklich einsam sein.
Wenn Frazer geblieben wäre, hätten sie zusammen etwas trinken und über das Projekt reden können, das endlich konkrete Formen annahm. Ihre gemeinsame Ausarbeitung des Antrags könnte tatsächlich ausreichen, um alles eher früher als später ins Rollen zu bringen.
Lisa hatte immer noch nicht geantwortet, und Alec nicht versucht, sie anzurufen. Sie wusste nicht, ob sie sich über letzteres freuen sollte oder nicht. Alec schmollte oft nach einem Streit, um dann schließlich mit einem Hundeblick und einer Entschuldigung anzukommen, Worten, die nur allzu schnell zu Asche zerfielen. Im vergangenen Jahr hatten die Worte sich immer schneller wieder in Wut verwandelt.
Das Glas, das er nach ihr geworfen hatte, hatte ihrer Urgroßmutter gehört. Sie hatte es aus Thailand mitgebracht. Eines der wenigen Dinge, die sie hatte mitbringen können.
Vielleicht konnte Cora es wieder zusammenkleben.
Wahrscheinlich würde das genauso gut funktionieren, wie ihre Ehe zu flicken.
Bei dem Gedanken musste sie lachen.
Coras Mutter wäre am Boden zerstört gewesen. Ihr Vater wütend.
Alles, was aus dem Heimatland seiner Großeltern stammte, war für ihn heilig gewesen.
Natürlich würde es keiner der beiden jemals erfahren.
Ihr drittes Glas Wein an diesem Abend wurde zwischen ihren Händen langsam warm. Wie lange konnte sie hier sitzen bleiben, bis sie nach Hause gehen musste? Hoffentlich schlief Alec heute Nacht auf der Couch.
Normalerweise tat er das nach Abenden wie diesen.
Die Bar roch nach schalem Bier – wenn Bedauern einen Geruch hätte, würde er genau so riechen.
Ein Schaudern durchfuhr sie bei dem Gedanken an das angespannte Schweigen im Haus. An die Kälte, die bis unter ihre Haut kriechen würde. Es gab Nächte, in denen sie mit stockendem Atem und dem Gefühl aufwachte, etwas würde ihre Brust einschnüren. Dann starrte sie mit klopfendem Herz an die Decke, während die extreme Körperwärme des Mannes neben ihr sich über sie legte. Es fühlte sich an, als hätte man ihr einen Gurt um den Brustkorb gelegt, der sich immer weiter zuzog.
Ein schweres Seufzen brach aus ihr heraus und das Blut schoss ihr in die Wangen. Niemand konnte sie hören. Es spielte keine Rolle, ob sie hier war oder nicht.
Melancholie gehörte normalerweise nicht zu den Dingen, die sie sich erlaubte, aber heute Nacht schwelgte sie offen in ihrem Selbstmitleid.
Die Tür ging auf. Cora fand die Glocke ziemlich nervig, obwohl niemand sonst in der Bar sie überhaupt zu bemerken schien. Erschrocken fuhr sie zusammen, als sie den Neuankömmling erkannte. Frazer. Warum war sie ausgerechnet hierher zurückgekehrt? Cora entschied, dass es sie nichts anging, und schaute wieder auf ihr Getränk. Kondenswasser hatte sich am Glas gebildet und der Wein war für ihren Geschmack viel zu trocken. Es war ein wenig traurig, allein dabei zuzusehen, wie er warm wurde – normalerweise tat man das in Gesellschaft. Fast verzweifelt sah sie hoch, fing Frazers Blick auf und winkte ihr zu.
Wenn man sie noch länger allein mit ihren Gedanken ließ, würde sie verrückt werden.
Als sich Frazer auf den Stuhl neben ihr setzte, warf Cora ihr einen dankbaren Blick zu. »Danke.«
»Wofür?«
»Dass du meinem offensichtlich verzweifelten Wunsch nachgekommen bist.« Frazer brauchte den Barkeeper nur kurz ansehen und schon stand ein Glas Bourbon vor ihr. Cora hob eine Augenbraue. »Kommst du oft hierher?«
Frazers warmes, intensives Lachen wärmte Coras Brust. »Früher mal.«
Sie schwiegen. Ihre vorherigen Unterhaltungen hatten sich auf die Arbeit und ein paar Worte betrunkenen Small Talks auf einer Weihnachtsfeier beschränkt. Und selbst die Arbeitsgespräche hatten erst letzte Woche wirklich angefangen. Cora war klar, dass sie absolut nichts über Frazer wusste, außer, dass sie gut in ihrem Job war; aber selbst das wurde durch ihre Arroganz getrübt.
Trotzdem verspürte sie ausnahmsweise nicht das Bedürfnis, die Stille zu füllen. Sie war nicht erdrückend. Es war kein wütendes Schweigen. Sie hatte nichts zu befürchten, sobald ihr Gegenüber den Mund öffnete.
»Glaubst du, dass der neue Bereitschaftsarzt gut ist?«
Überrascht sah Cora auf. Sie blinzelte heftig. Frazer musste den Bereitschaftsgeburtshelfer meinen. »Dave?«
»Ja.«
»Wie sage ich das jetzt am besten?« Coras Augenbrauen zogen sich zusammen und sie nahm einen Schluck von ihrem Wein. »Nein.«
Frazer ließ sich offensichtlich erleichtert gegen die Bar sinken. »Gott sei Dank. Ich dachte, ich wäre die einzige, die das so sehen würde. Ich hatte wirklich Angst, als ich an ihn übergeben habe. Der Ausdruck in seinen Augen war so leer.«
»Nachdem Alec das Bewerbungsgespräch mit ihm hatte, hat er ihn in den höchsten Tönen gelobt. Und dann habe ich ihn kennengelernt und denke ganz ehrlich, dass er der seltsamste Typ ist, den ich je getroffen habe. Es ist, als wäre er da
, aber nicht da
. Verstehst du?«
»Die Lichter sind an, aber …«
»Niemand ist zu Hause.«
Sie lachten.
Wie schön. Sie unterhielten sich tatsächlich. Interessant.
»Ganz genau.«
Sie schwiegen wieder. Auch diesmal war die Stille angenehm und
nicht einmal annähernd unbehaglich. Auch die Wärme der Bar empfand Cora jetzt als gemütlich und der Alkohol hatte einen angenehmen Rausch hinterlassen. Vielleicht war ihre Abneigung für Frazer nicht so groß, wie sie gedacht hatte. Sie dachte an letzte Woche zurück – vielleicht war sie gar nicht arrogant, sondern eher mit einer gesunden Portion Selbstbewusstsein ausgestattet.
»Frazer, wieso zur Hölle kommst du um dreiundzwanzig Uhr wieder zurück in eine Bar, aus der ich dich vor Stunden habe gehen sehen?«
Frazers Schulterzucken war betont lässig; genau wie die Art, wie sie langsam an ihrem Bourbon nippte. »Ich war nicht in der Stimmung, nach Hause zu gehen. Kennst du das Gefühl?«
Cora legte den Kopf schief und sah sie etwas eindringlicher an, als sie geplant hatte. »Ja, das kann ich nachvollziehen. Aber normalerweise bin ich gern zu Hause. Allerdings ist Alec heute Abend ausgegangen.« Cora hatte sich nie gut dabei gefühlt zu lügen. Das brachte einen nur in Schwierigkeiten. Aber in den letzten Jahren hatte sie viele Lügen erzählt. Mittlerweile kamen sie ihr mit einer solchen Leichtigkeit über die Lippen, dass sie nicht einmal mehr bitter schmeckten.
Nein, Mum, es geht mir gut.
Alles in Ordnung.
Ich weiß, dass du mich liebst.
Alec ist nur nicht mitgekommen, weil er arbeiten muss …
»Habt ihr einen weißen Zaun im Vorgarten?«, fragte Frazer. Ihre Mundwinkel zogen sich nur leicht nach oben.
»Ähm, ja?« Cora blinzelte sie an. Worauf wollte sie hinaus?
»Einen Hund?«
»Wir hatten mal eine Katze.« Das Grinsen auf Frazers Lippen wuchs und war anscheinend ansteckend. Cora stellte fest, dass sie es erwiderte. »Was?«
»Du lebst den Traum der 1950er.«
Cora lachte und nippte schnell an ihrem Wein, den Blick stur auf ihr Glas gerichtet. »Sicher.«
Erneut schwiegen sie.
Coras Wangen wurden warm, als sie Frazers Blick auf sich spürte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Frazer.
»Mir geht’s gut.« Coras Blick klebte noch immer auf ihrem Glas.
»Okay.«
Frazer wandte den Blick ab. Cora war froh, dass Frazer nicht weiter nachbohrte. In ihrer merkwürdigen Stimmung heute Abend hätte sie vielleicht aus Versehen die Wahrheit auf dem Tresen ausgebreitet, anstatt weiter Lügen aufzutischen. Und das war etwas, was man nicht so einfach wegwischen konnte, wie die Tropfen des Kondenswassers, die sich um ihr Glas gesammelt hatten.
»Geht’s dir so gut, dass du noch etwas Härteres trinken willst?« Frazer klang ein wenig belustigt.
Anstatt abzulehnen sagte Cora nur knapp: »Ja.«
»Hervorragend. Ich auch.« Sie wandte sich an den Barkeeper. »Zwei Tequila?«
Als Cora sie entsetzt ansah, zuckte Frazer mit den Schultern. »Was? Es ist vor Mitternacht und wir sind beide erwachsen.«
Cora hatte schon seit der Uni keinen Tequila mehr getrunken.
Ach, warum eigentlich nicht?
~ ~ ~
»Das Tolle an Kartoffeln ist, dass du so
viel mit ihnen machen kannst, Frazer.«
Frazer war langsam davon überzeugt, dass sie aus Versehen die Frau ihres Chefs abgefüllt hatte. Die Frau, die ihr Herzensprojekt retten sollte. Das war nicht der Plan gewesen. Als sich Frazer auf ihrem Stuhl zu Cora drehte, um eine Frage zu stellen, drehte sich plötzlich der ganze Raum und ihr kam der Gedanke, dass sie sich selbst vielleicht auch ein bisschen abgefüllt hatte. Sie zuckte mit den Schultern und verlor fast gänzlich das Gleichgewicht. Ja, sie war zweifelsohne betrunken. Und das war okay. Der morgige Tag bestand aus Papierkram und nicht aus Geburten.
Frazer fand, sie hatte heute das Recht, betrunken zu sein. Sie war gerade aus Panik vor dem Haus eines potenziell ungezwungenen und einfachen Dates geflüchtet und stundenlang herumgelaufen, bevor sie wieder in derselben Bar gelandet war, in der ihr Abend angefangen hatte.
Cora redete immer noch. »Zuck nicht so mit den Schultern. Du musst zugeben, dass es stimmt! Als ich auf der Uni war, waren Kartoffeln der einzige Grund, warum ich nicht verhungert bin.«
Frazer musste lachen und aus ihrer Nase kam ein unglaublich
unattraktives Grunzen. »Ich habe mit den Schultern gezuckt, weil es mir egal ist, dass ich betrunken bin.«
Cora nickte und sagte Oh
, als wäre diese Erklärung völlig im Einklang mit ihrer Geschichte.
»Und ich stimme vollkommen zu. Kartoffeln sind großartig. Nur bei einem Punkt muss ich widersprechen.«
Cora starrte Frazer an, als würde sie ihr gleich die Geheimnisse des Universums verraten.
»Das beste arme-Studentin-Essen ist Reis mit Käse überbacken.«
Auf dem Weg zurück in die Bar hatte sie nur ein Gedanke begleitet – vielleicht wäre ihre langweilige Kollegin auch noch da.
Cora blinzelte. »Eine ganze Nation hat jahrelang von Kartoffeln gelebt. Glaubst du wirklich, dass Reis mit Käse Kartoffeln schlägt?«
»Auf jeden Fall. Es hat mehr Proteine.«
»Hat es nicht.«
»Aber sowas von! Es ist Käse
, Cora.«
Anscheinend war das ihr Argument. Frazer musste wirklich daran arbeiten. Morgen.
Sie starrten einander einen Moment lang an, dann zog Cora ihr Handy aus der Tasche.
»Was machst du?«, fragte Frazer.
»Ohne Google wären wir alle verloren«, sagte Cora.
Frazer beobachtete sie dabei, wie sie ihr Handy mit zusammengekniffenen Augen fixierte, bevor sie ein Auge zuhielt und es nur mit einem anschaute.
Cora war doch recht unterhaltsam.
»Kannst du dich nicht konzentrieren, wenn du beide Augen offen hast?«
»Halt die Klappe, Frazer. Oh! Hier steht es schwarz auf weiß. Wow, Google hat ein eigenes kleines Umrechner-Ding auf der Seite, um dir zu sagen, wie viele Proteine in einem Nahrungsmittel sind. Okay, hundert Gramm Käse – fünfundzwanzig Gramm Protein.« Sie fixierte Frazer mit einem Blick, der an ein Raubtier erinnerte, und ein seltsames Gefühl machte sich in Frazers Magengrube breit. »Kartoffeln werden sowas von gewinnen. Fünfundzwanzig Gramm? Wie viel ist das schon? So viel wiegt vielleicht eine Münze oder so. Das ist gar nichts. Okay, in hundert Gramm Kartoffeln …« Ihr triumphierender Gesichtsausdruck
verschwand schlagartig.
»Wie viel, Cora?«, fragte Frazer selbstgefällig.
Stille.
»Cora?« Frazer sang ihren Namen praktisch.
»Zwei Gramm.«
»Oh. Zwei … Wie viel ist das so? Das Gewicht einer Mücke?«
»Kartoffeln sind trotzdem besser.« Cora schob das Handy zurück in ihre Tasche und griff nach dem Weinglas.
»Gib zu, dass du verloren hast.«
Mit zusammengepressten Lippen schüttelte Cora den Kopf. »Nein.«
»Gib zu, dass ich recht hatte.«
»Niemals.«
Frazer war mehr als froh, dass sie Laurens Wohnung verlassen hatte und hierher zurückgekehrt war. Der Gedanke daran, nur mit ihren Fischen als Gesellschaft in ihrer stillen Wohnung zu sitzen, hatte sie einfach zu sehr deprimiert – selbst mit ihren jüngsten Neuzugängen Nemo und Dory, da sich die beiden hassten. Wahrscheinlich, weil es beide Clownfische waren; vielleicht hätte sie sie lieber Nemo und Marlin nennen sollen. Jetzt gerade störte sie das alles jedenfalls nicht. Die Aura der Melancholie, die Cora häufig umgab, war verschwunden. Sie wirkte entspannter und schien sich sogar zu amüsieren.
Das war schön.
Kaum zu glauben, aber wahr: Sie verstanden sich.
»Du bist dickköpfig, nicht wahr?«, fragte Frazer und piekte Cora in den Arm.
»Und du wetteiferst gern, oder?« Cora begegnete Frazers selbstgefälligem Blick mit einer hochgezogenen Augenbraue.
»Erwischt.«
»Na ja, ich bin nicht so
dickköpfig.«
»Natürlich nicht.«
Cora ignorierte den sarkastischen Unterton und warf einen Blick auf ihre leeren Gläser. »Noch eine Runde?«
»Solltest du nicht nach Hause zu deinem Ehemann?«
Cora rümpfte die Nase und sah genauso aus wie Frazers vierjährige Nichte, wenn man ihr sagte, dass sie ins Bett gehen sollte. »Solltest du
nicht nach Hause zu deinem, ähm, Mitbewohner?«
Als Frazer den Kopf schüttelte, schürzte Cora nachdenklich die
Lippen. »Partner?«
Noch ein Kopfschütteln. »Katze?«
Noch ein Kopfschütteln. »Fische!«
Frazer nickte. Cora stieß die Faust triumphierend in die Luft. »Ja! Solltest du nicht nach Hause zu deinen Fischen?«
»Meine Fische kommen ohne mich klar.«
»Genau wie mein Ehemann.«
»Okay.«
Zwei weitere Shots tauchten vor ihnen auf und sie stießen an, sodass der Schnaps über den Rand schwappte und über ihre Finger lief. Die Zitrone hatten sie schon vor ein paar Stunden hinter sich gelassen. Alles war angenehm vernebelt und Frazer hatte den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab. Mittlerweile war es ihr egal, wie sie den Tag morgen überstehen sollte.
Das war nie ein gutes Zeichen.
»Glaubst du, Alec wird mit dem Antrag, den wir eingereicht haben, jetzt zufrieden sein?« Frazer hatte nicht über die Arbeit reden wollen, aber sie musste die Frage einfach stellen.
Cora verzog den Mund. »Ich weiß es wirklich nicht. Er sollte es sein. Aber ich weiß es nicht.«
Schweigen. Erneut.
»Willst du ein Geheimnis wissen?«
Frazer wollte verzweifelt »Nein!« sagen. Sie wollte kein Geheimnis hören. Geheimnisse waren schlecht und brachten Menschen in Schwierigkeiten. Sie war noch nie ein Fan von Geheimnissen gewesen.
»Ähm …«
»Ich habe meinem Mann heute Abend gesagt, dass ich ihn verlassen will.«
In ihrem derzeitigen Zustand konnte Frazer nicht vermeiden, dass ihr nach diesem Geständnis die Kinnlade herunterfiel. Oder dass sie die Augen weit aufriss. Sie starrte Cora an, die ganz in ihr Glas vertieft war.
Sicher, sie hatte sie vorgestern in Coras Büro streiten gehört. Aber Himmel, Frazer war auch schon mit ihren Fischen in Streit geraten. Jeder stritt sich manchmal. »Oh.«
»Er war nicht begeistert.«
»Oh.«
»Ich werde ihn wahrscheinlich nicht verlassen.«
»Oh.« Frazer wollte sich selbst in den Hintern treten. Sie sollte schleunigst etwas Richtiges antworten. »Okay.«
Etwas Richtiges, verdammt. Was sagte man jemandem in so einer Situation? Vor allem jemandem, den man nicht wirklich gut kannte? Vor allem jemandem, der mit dem eigenen Boss verheiratet war und den man irgendwie heiß fand? Heiß und mit Stock im Arsch und überhaupt nicht Frazers Typ. Hatte sie schon erwähnt, dass dieser Jemand die Frau ihres Chefs war?
»Ich werde es nicht. Ihn verlassen, meine ich.«
Ratschläge waren nicht immer das Beste, was man geben konnte. Wenn man dazu noch bedachte, dass Frazer nichts über die Situation oder die Menschen, die sich darin befanden, wusste, wäre es dumm, es überhaupt zu versuchen. Man konnte etwas sagen, das sich wie ein guter Ratschlag anhörte, aber wenn die Person ihn ignorierte, würde dieser Ratschlag auf einen zurückfallen und einem in den Hintern beißen. Die Ehe war ein kompliziertes Thema, bei dem es um zwei Menschen ging, die sich einander vollkommen hingaben und sogar so weit gingen, zum Beweis ein hochoffizielles Dokument zu unterschreiben.
Und sie hatte die Gerüchte über lautstarke Streitigkeiten gehört. Darüber, dass Cora ihren Job leidenschaftlich und ein wenig aggressiv begonnen hatte – das einzige Mal, dass die Leute so etwas über sie gesagt hatten – und sich dann über die Jahre immer mehr und mehr zurückgezogen hatte.
Nein. Frazer hatte keine Ahnung von irgendetwas und sollte deshalb definitiv den Mund halten.
»Bist du glücklich?«
Oder ihren eigenen guten Rat komplett ignorieren und eine tiefgründige, komplizierte und philosophische Frage stellen.
Cora drehte sich auf ihrem Stuhl zu ihr um und sah sie an. Ihr Ellbogen lag schwer auf dem Tresen. »Was ist das?«
Der Ausdruck in ihren Augen ließ Frazer nervös auf ihrem Sitz hin und her rutschten. Er war ehrlich und fast herausfordernd. »Was?« Obwohl Frazer ganz genau wusste, was sie meinte.
»Glücklich. Was ist das überhaupt?«
Einen Augenblick lang sahen sie einander an. »Gute Frage.«
Mit einem Nicken wandte sich Cora wieder ihrem Drink zu und
Frazer griff nach ihrem Bourbon. Das war nicht die Unterhaltung, die sie erwartet hatte. Sie und ihre dämliche große Klappe.
»Wirst du ihn verlassen?«, fragte sie schließlich. Denn da sie ihren eigenen Ratschlag beim ersten Mal schon ignoriert hatte, konnte Frazer auch damit fortfahren, sehr private Fragen zu stellen.
»Eines Tages.«
»Okay.«
»Mehr Tequila?«
»Okay.«
Das Brennen des Tequilas in ihrer Kehle und das Geräusch betrunkenen Lachens war alles, an das sich Frazer von der letzten Stunde erinnern konnte. Viel Gelächter über Dinge, die wahrscheinlich nicht lustig waren. Anders als bei der Arbeit hatte Cora einen Sarkasmus, der beinahe entzückend und erfreulich schräg war.
Oder vielleicht sprach da der Tequila aus ihr.
~ ~ ~
Die Nachtluft war kühl und Cora konnte sich nicht daran erinnern, die Bar verlassen zu haben. Trotzdem stand sie plötzlich draußen und lehnte sich schwer gegen Frazer, die nach einem Taxi Ausschau hielt. Zum Glück war Frazer einen Kopf größer als sie, so schmiegte sich ihr Kopf perfekt an ihre Schulter und sie musste nicht viel tun, um sich aufrecht zu halten. Die Arbeit würde morgen beschissen genug werden.
Sie stöhnte bei dem Gedanken. Das menschliche Kissen unter ihrem Kopf wippte ein wenig und ein leises Lachen drang an ihre Ohren.
»Warum lachst du mich aus?«, murmelte Cora.
»Du hast gestöhnt wie eine sterbende Kuh.«
»Tja, das wirst du auch, wenn ich dir sage, woran meine Gedanken … ich meine, woran ich gedacht habe.«
»Und das wäre?«
»Wir müssen in fünf Stunden zur Arbeit.« Das nachfolgende Stöhnen brachte Cora zum Lachen. Ihre Augen waren noch immer geschlossen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Siehst du? Dieser Gedanke macht auch dich zu einer sterbenden Kuh.« Ein Gähnen verschluckte den nächsten Satz fast. »Deshalb wird dieses Stöhnen von nun an als Sterbender-Kuh-Klang
in die Geschichte eingehen.«
»Komm schon, du.«
Die Wärme im Taxi nahm sie nur vage wahr. Innerhalb von Sekunden war Cora halb eingeschlafen und lehnte sich ans Fenster. Zu viel Alkohol war nicht gerade die beste Art, mit seinen Gefühlen umzugehen. Aber auch nicht unbedingt die schlechteste, und im Moment funktionierte es wundervoll. Als sie sich jedoch ihrem Haus näherten, spürte Cora, wie der Großteil ihres Glücksgefühls verblasste. Im Haus würde es still und erdrückend sein und sie würde sich wieder nur wegwünschen. Sie wollte lieber an einem einfachen, unkomplizierten Ort sein, und in diesem Moment war Frazer einfach und unkompliziert. Frazer und ihre unglaublich bequeme Schulter, an die sich Cora nun aus Versehen wieder gelehnt hatte.
Sie stolperte etwas unbeholfen aus dem Taxi und klammerte sich an die offene Tür, um mit einer Hand in ihrer Tasche nach etwas Geld zu wühlen. Es überraschte sie nicht, als Frazer neben ihr auftauchte.
»Ich bring dich noch zur Tür.«
»Das brauchst du nicht.« Cora richtete sich auf, drehte sich um und blieb prompt mit dem Fuß am Bordstein hängen. Sie fing sich sofort wieder, musste aber feststellen, dass Frazer die ganze Szene mit hochgezogener Augenbraue beobachtet hatte. Seufzend gab Cora nach. »Schön. Geh mit mir mit, wenn du unbedingt willst.«
Frazer folgte ihr so dicht auf den Fersen wie ihr eigener Schatten und Cora gelang es nicht ganz, ihr Seufzen zu unterdrücken, als sie ihre eigenen Verandastufen hochpolterte. Die Grillen, die um sie herum laut gezirpt hatten, verstummten. Sie hatte leise sein wollen, um Alec nicht zu wecken, aber sie hoffte mit einem Hauch von Rachsucht, dass sie ihn geweckt hatte. Wenn sie morgen mit einem Kater zur Arbeit musste, konnte er wenigstens unter Schlafmangel leiden. Erfolgreich oben angelangt, drehte sie sich vor der Tür um und stemmte wie eine Superheldin die Hände in die Hüften.
»Siehst du? Alles gut.«
»Du bist viermal gestolpert.«
»Aber bin ich hingefallen, Frazer?«
Zähne blitzten weiß in der Dunkelheit auf, als Frazer leise lachte. »Stimmt.« Sie hob als Friedensangebot beide Hände und schwankte leicht. »Du bist siegreich.«
»Das bin ich immer.«
Erneut drang das leise Lachen an ihre Ohren. Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. Cora drehte sich wieder zur Tür und schob einen der Schlüssel von ihrem Schlüsselbund mit dem zweiten Versuch ins Schloss und öffnete die Tür ein Stück. Sie winkte ungeschickt mit der anderen Hand. »Wir sehen uns bei der Arbeit, ja?«
»Bis morgen.«
Als Cora Frazers Rücken sah, rief sie doch nochmal nach ihr, denn sie war noch nicht bereit, ihr abscheulich stilles Haus zu betreten. »Frazer.«
»Ja?« Frazers helle, fragende Augen richteten sich auf sie.
Cora musste schlucken. Sie fühlte sich plötzlich wie ein Kind, das einen neuen Freund gefunden hatte. »Ich wollte nur, ähm, danke sagen. Ich habe die Gesellschaft heute Abend gebraucht.« Cora verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Sie wollte wirklich nicht hineingehen.
»Jederzeit.«
Cora nickte nur, noch immer nicht gewillt, sich zu bewegen.
Plötzlich legten sich warme Finger um ihr Handgelenk und zogen sie nach vorn. Frazer schlang ihre Arme um sie und Cora versteifte sich nur eine Sekunde, ehe sie sich in die Umarmung fallen ließ. Sie war warm und weich und es fühlte sich so gut an, sich an jemanden zu lehnen. Es war so lange her, dass Alec sie mit echter Zuneigung umarmt hatte. Cora vergrub das Gesicht an Frazers Hals. Es war ihr vollkommen egal, dass Frazer sie wahrscheinlich nur kurz zum Abschied hatte drücken wollen. Sie war aufgewühlt und alles fühlte sich so unmittelbar, so echt an.
Frazers Wange schmiegte sich an Coras, und sie fühlte ein Brennen in der Kehle. Nüchtern hätte sie sich sicher dafür geschämt. Frazers Wange war so weich. Hände streichelten über ihren Rücken. Wenn Cora die Wahl hätte, würde sie die ganze Nacht so stehen bleiben.
Durch den Nebel in ihrem Kopf wurde Cora klar, dass sie stattdessen loslassen sollte. Sie sollte ins Haus gehen. Langsam zog sie sich zurück. Ihre Wange strich erneut sanft über Frazers, als sie sich aus ihren Armen löste.
Frazers Haut war wirklich verdammt weich.
Sie verharrten einen Moment lang Wange an Wange und ihre Mundwinkel berührten sich hauchzart. Warmer Atem strich über ihre
Haut. Fingerspitzen glitten einmal zärtlich über ihren Hals, bevor die Warme plötzlich verschwand und überall nur noch kalte Luft zu spüren war. Cora öffnete langsam die Augen und blinzelte träge. Frazer sah sie mit einem unergründlichen Blick an.
»Pass auf dich auf. Wir sehen uns morgen, Cora.«
Als Cora nickte, drehte sich Frazer um und wurde von der Nacht verschluckt.
Cora ging ins Haus, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen.
Das war neu.