Kapitel 5
Verzweifelt klammerte sich Frazer an ihren Kaffee und nahm dankbar einen großen Schluck. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie mit verschwommenen Erinnerungen an den vorangegangenen Abend auf ihrer Couch aufwachte, aber so oft es auch vorkam … es war nie ein Zuckerschlecken. Und mit dem Alter wurde es immer schmerzhafter. Trotz ihrer dunklen Sonnenbrille brannte das grelle Sonnenlicht in ihren Augen. Sie schlich durch einen der abgelegenen Flure in ihr Büro und brach auf dem Stuhl zusammen.
Warum tranken Menschen Alkohol?
Mit geschlossenen Augen ließ sie ihren Kopf zurück gegen die Lehne sinken und das Pochen hinter ihrer Stirn ebbte ein wenig ab. Vielleicht konnte sie für die nächsten drei Stunden einfach in ihrem Büro bleiben. Auch wenn draußen auf den Stationen einiges an Verwaltungsarbeit zu erledigen war. Hoffentlich war kein Vollmond. Aus irgendeinem Grund kamen da besonders viele Babys zur Welt und Frazer wollte nicht einspringen müssen. Einen kurzen Moment lang war sie versucht, im Internet zu recherchieren, was es mit dem Vollmond auf sich hatte, aber die Vorstellung von einem unglaublich hellen Bildschirm war nicht verlockend.
Gott, warum war sie nur auf die Idee mit dem Tequila gekommen? Die Antwort auf »Tequila?«, sollte immer »Nein!« lauten.
Obwohl sie ziemlich sicher war, dass sie diejenige war, die die Frage gestellt hatte.
Es klopfte an ihrer Bürotür und sie riss sich die Sonnenbrille vom Kopf. Als würde sie ohne besser aussehen. Sie war mit einer Mascara verschmierten Wange aufgewacht und das exzessive Schrubben heute Morgen war ihrem Teint nicht gerade zuträglich. Als die Tür aufgestoßen wurde, richtete sie sich auf und versuchte, nicht wie eine betrunkene Sechzehnjährige auszusehen, die gerade von ihren Eltern erwischt wurde, wie sie über einen Stuhl stolpert und »Pst!« zu ihm sagt.
Was Frazer natürlich nie passiert war. Es war ein Couchtisch gewesen, vielen Dank.
Tia streckte den Kopf ins Büro. »Frazer – Meeting in zehn Minuten.«
»Ja, sicher. Ich werde da sein:«
Tia musterte Frazer und ihre Augen funkelten schadenfroh. »Wie fühlst du dich?«
»Äh – fantastisch. Toll. Ich freue mich darauf, Akten zu aktualisieren, Dienstpläne zu machen und Berichte zu schreiben.«
Tia lachte. »Alec wird überaus begeistert sein, das zu hören. Soll ich ihm sagen, dass er während der Besprechung laute Rockmusik spielen soll?«
»O ja bitte – und wenn du schon dabei bist, warum lädst du nicht auch noch ein paar Zweijährige auf Zuckerhoch mit Trommeln ein zu kommen?«
Tias Kopf verschwand wieder und ihr Lachen wurde leiser, als sie den Flur hinunterging.
Es würde ein richtig langer Tag werden.
Mit ungeschickten Fingern setzte Frazer die Sonnenbrille wieder auf. Sie sah sich in ihrem aufgeräumten Büro um und ihr Blick fiel unter ihren Schreibtisch. Dort schien es kühl und dunkel zu sein. Vielleicht könnte sie dort noch etwas schlafen – nur ein kleines bisschen.
Ihr Kopf sank wieder nach hinten gegen die Rückenlehne. Selbst diese leichte Bewegung verursachte ihr schon Übelkeit. Es konnte nicht schaden, eine Minute lang die Augen zu schließen. Die Dunkelheit war beruhigend. Die Stille herrlich.
Lautstark meldeten sich gleichzeitig ihr Pager und ihr Handy. Sie seufzte und warf einen Blick darauf. Beide Nachrichten kamen von Tia, und erinnerten sie daran, nicht einzuschlafen und sich zu beeilen.
Frazer fluchte. Diese Frau hatte ihre Augen überall.
Voller Bedauern setzte Frazer ihre Sonnenbrille wieder ab und zog sich ein frisches OP-Hemd an, als könnte es ihr die Aura von Glaubwürdigkeit zurückgeben, die sie gestern Abend vorübergehend versoffen hatte. Sie straffte die Schultern. Kein Kater würde sie besiegen. Sie marschierte entschlossen zur Tür, riss sie auf und trat trotzig hinaus. Vielleicht etwas zu trotzig. Ihr Kaffeebecher und ihr Körper stießen mit jemandem zusammen, der gerade unschuldig vorbeigehen wollte. Der Plastikdeckel löste sich und Kaffee schwappte überall hin. Größtenteils über –
Mist. Es war Cora.
Sie starrten einander ein. Kaffee tropfte auf den Boden und Coras Augen waren genauso gerötet wie ihre eigenen.
Ihre Lippen zuckten. Coras ebenfalls.
Sie brachen in Gelächter aus.
»Es tut mir so leid.«
»Nein – ernsthaft, Frazer, ich bin nicht mal richtig wach. Es war meine Schuld, mir tut es leid.«
»Ich bin rausgestürmt und habe dich mit Kaffee überschüttet.«
Frazer verzog das Gesicht, als sie an Cora hinabsah. Irgendwie war ihr eigenes Oberteil völlig verschont geblieben – wie war das passiert?
»Ich hab wohl einen dieser Tage erwischt.« Cora legte den Kopf schräg und musterte sie von oben bis unten. »Fühlst du dich so beschissen wie ich?«
»Wenn du dich so fühlst wie damals, als du das erste Mal zu viel Tequila intus hattest, dann ja.«
»Ich fühle mich noch schlimmer als damals mit neunzehn. Früher war ich in weitaus besserer körperlicher Verfassung.«
Es piepte in ihrer Tasche. Frazer schloss einen Moment die Augen und atmete tief ein. Als sie sie öffnete, sah sie Coras wissenden Blick.
»Meeting?«, fragte Cora.
»Meeting.« Frazer nickte. »Ich habe darüber nachgedacht, ob ich meine Sonnenbrille auflassen sollte. Zu unprofessionell?«
»Wenn du es darfst, dann darf ich es auch.«
»Glaubst du, der Boss erlaubt es?«
Ein Ausdruck, der zu schnell wieder verschwunden war, um ihn zu deuten, huschte über Coras Gesicht. »Wahrscheinlich nicht. Ich muss los und mein Oberteil wechseln …«
»Tut mir wirklich leid.«
»Hör auf, ist schon gut. Ich liebe den Geruch von Kaffee, also wird das einfach mein Parfum für heute sein.«
»Trotzdem, entschuldige. Wir sehen uns drin?«
»Ich verpasse es vermutlich – ich bin ohnehin schon spät dran. Meine Klamotten sind im Auto.«
»Die Vorteile, wenn man mit dem Boss schläft.« Frazer zwinkerte ihr zu und fühlte sich noch im selben Moment schlecht.
»Ja, sowas in der Art.« Coras Gesichtsausdruck war unergründlich. »Bis dann, Frazer.«
Frazer verzog ein letztes Mal bedauernd das Gesicht wegen Coras kaffeegetränktem Oberteil und ging den Flur hinunter. Als sie um die Ecke bog, überkam sie plötzlich eine verschwommene Erinnerung an eine der Unterhaltungen von letzter Nacht.
Cora hatte erwähnt, dass sie ihren Mann verlassen wollte. Und dann machte Frazer ausgerechnet Witze darüber, dass sie besondere Privilegien hatte, weil sie mit ihm verheiratet war.
Ein Kater sollte ein Freifahrtschein sein, sich vor der Welt zu verstecken. Denn die Alternative war, dass sie mit einem Fuß permanent im Fettnäpfchen stand.
Und – o Gott – bei der Besprechung würde es um Statistiken gehen.
Der Tag war jetzt schon die Hölle.
Wenigstens war Coras Oberteil durch den Kaffee ein wenig durchsichtig geworden.
~ ~ ~
»Wie stehe ich denn da, wenn selbst meine eigene Frau nicht zu einem Meeting kommt, das ich einberufe?«
»Alec, ich weiß und es tut mir leid. Ich musste mein Oberteil wechseln und kurz duschen. Als ich fertig war, war mir klar, dass ich das Meeting verpasse.«
Alecs stahlblaue Augen funkelten wütend, als er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte. »Es ist nicht mein Problem, wenn du deine persönliche Routine nicht wie jeder andere Mitarbeiter auf die Reihe bekommst. Wenn du dich die ganze Nacht über betrinken willst, musst du trotzdem morgens wie alle anderen in der Lage sein, zur Arbeit zu erscheinen.«
Coras Schädel dröhnte. Sie schloss für einen Moment die Augen, ehe sie sie wieder öffnete und ihn direkt ansah. Sein Blick wich ihrem nicht eine Sekunde aus. Auf dieser Seite des Tisches fühlte sie sich seltsamerweise wie ein Teenager, der vor einem besonders gemeinen Schuldirektor stand.
»Jemand ist auf dem Flur mit mir zusammengestoßen und ich wurde mit Kaffee überschüttet. Ich musste mich umziehen.«
»Oder du hast dich verkatert und tollpatschig selbst mit Kaffee bekleckert.«
Selbst an einem guten Tag war es schwer, ein solches Gespräch zu überstehen. Heute war kein guter Tag. »Ich weiß nicht, was du von mir hören willst. Bei der Anzahl von Besprechungen wird jeder irgendwann mal eine verpassen.«
Alecs ganzer Körper spannte sich an und Cora wusste sofort, dass sie das nicht hätte sagen sollen.
Aber sie hatte heute nicht die Energie, um sorgfältig die Worte auszuwählen, die ihn beruhigen würden. Als sie heute Morgen aufgewacht war, war Alec bereits weg gewesen. Seine Decke hatte er fein säuberlich zusammengefaltet auf das Fußende der Couch gelegt, der Geruch seines Aftershaves hing wie eine schlechte Erinnerung in der Luft.
Anscheinend hatte ihre Abwesenheit beim Meeting zur Folge, dass er sich nicht wie sonst nach einem Streit wie dem von letzter Nacht vor ihr zurückzog.
»Es ist unwichtig, Cora. Tu es einfach nicht wieder.«
Mit brennenden Wangen nickte sie. »Ist das alles?«
Er musterte sie. Einst hatte sie seinen Blick als beruhigend, leidenschaftlich und einnehmend empfunden. Jetzt war er zwar immer noch einnehmend, aber vom Rest war nichts mehr übrig. Abschätzig – war es das, was er fühlte, wenn er sie ansah?
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, wir sollten unser Gespräch von letzter Nacht fortsetzen.«
Cora richtete ihren Blick auf den Boden. Ihr Magen drehte sich um. Auf keinen Fall wollte sie diese Unterhaltung fortsetzen. Es war ein Gespräch, das er immer und immer wieder aufs Tableau brachte, und jedes Mal wurde Cora panisch und verlor ihre Fähigkeit, vernünftige Sätze zu formen. Er wurde ohnehin schnell wütend, sodass sie versuchte gegenzusteuern, da er sie sonst mit seiner Wut ansteckte. Dann würde er einfach gehen und ihr so all ihre Macht nehmen, das zu sagen, was sie sagen wollte.
Cora musste in ihrem eigenen Haus ständig einen Eiertanz vollführen. Manchmal versuchte sie, alle heiklen Formulierungen und Themen auf Zehenspitzen zu umgehen, manchmal auf High Heels. Große Schritte oder kleine Schrittchen – nichts half. Sie konnte ihn nie zufriedenstellen.
»Wenn wir Kinder haben – «
Und los geht’s. »Falls wir Kinder haben«, sagte sie.
Sein finsterer Blick reichte aus, dass Cora sich wünschte, sie hätte nichts gesagt. »Wenn wir Kinder haben, Cora, musst du deinen Job kündigen.«
Sie starrte ihn an. Diese Worte schockierten sie immer wieder, egal, wie oft sie sie zu hören bekam.
Er ballte seine Hand zur Faust und seine Knöchel traten weiß hervor. »Es ist ja nicht so, als könnte ich meinen kündigen.«
An der Uni hatten sie zusammen im Bett Plato gelesen, sich gegenseitig ihre Lieblingsstellen zitiert und die Worte anschließend mit den Zungen auf ihre Körper gemalt.
Sie sah ihn an und blinzelte. Er schaute starr zurück.
Cora machte auf ihrem Absatz kehrt und verließ sein Büro. Sie wusste, dass sie später darüber reden mussten. Sie wusste, dass sie über das reden mussten, was sie letzte Nacht zu ihm gesagt hatte, bevor er das Glas nach ihr geworfen hatte.
Manchmal, wenn sie in seiner Nähe war, hatte sie das Gefühl, als würde alle Luft aus dem Raum gesogen, und nur er konnte sie wieder zurückzubringen.
Cora wünschte sich gerade nichts mehr, als mit ihrer besten Freundin Wein zu trinken. Selbst mit dem Kater, den sie immer noch hatte.
Es war Freitag. Alec hatte bis abends Termine und würde erst spät nach Hause kommen. Heute Abend könnte sie tun, was sie wollte. Vor ihrem Büro zog sie ihr Handy aus der Tasche und verlagerte ihr Gewicht unschlüssig von einem Fuß auf den anderen.
Ein Teil von ihr wollte Frazer fragen, ob sie Lust hatte, mit ihr den Abend zu verbringen. Gestern Vormittag wollte sie nichts weniger, als zu dieser Projektbesprechung in Frazers Büro marschieren. Und jetzt wollte sie freiwillig mit ihr etwas trinken gehen?
Die Frau musste sie für verrückt halten.
Der Abend gestern hatte geradezu Spaß gemacht. Er war auf jeden Fall eine Ablenkung gewesen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sich Cora wieder wie sie selbst gefühlt. Es war, als wären Teile von ihr tot und begraben gewesen, und letzte Nacht waren diese Teile wieder hervorgekrochen und hatten Verhaltensmuster mit Füßen getreten, von denen Cora nicht einmal bemerkt hatte, dass sie sich eingeschlichen hatten.
Allerdings war Cora etwas zu freundlich gewesen. Umarmungen zwischen neuen Freundinnen sollten nicht so lange andauern. Man klammerte sich normalerweise nicht so aneinander. Wahrscheinlich hatte Frazer jetzt ohnehin Angst vor ihr und wollte sicher nichts mehr mit ihr trinken gehen. Obwohl sie im Flur freundlich gewesen war, hatte Cora nicht den Eindruck gehabt, dass Frazer länger stehenbleiben und sich unterhalten wollte.
Wahrscheinlich war es sicherer, zu ihrer besten Freundin zu gehen und sich mit Essen vollzustopfen, während sie sich schlechte Soaps im Fernsehen ansahen.
~ ~ ~
»Und wo warst du letzte Nacht?«
Die Stimme sorgte dafür, dass Frazer ihren Kopf auf die Tischplatte sinken ließ. Sie hatte nur Sushi gewollt. Schweigsames, köstliches, unkompliziertes Sushi. Nach ihrem Tag in der Hölle hatte sie sich nach California Rolls gesehnt. Die Arbeit war verrückt gewesen und eine Steißgeburt, bei der Frazer als Beraterin hinzugezogen worden war, hatte dafür gesorgt, dass ihre Mittagspause ausgefallen war. In ihrer Verfassung hatte sie der zuständigen Hebamme sowieso nur ein paar Tipps geben können. Trotzdem hatte es viel Geschrei, Gebrüll und schließlich Tränen, zum Glück Freudentränen, gegeben – ja, sie wollte einfach nur ein ruhiges, unkompliziertes Abendessen. Sushi.
»Ich kann dich immer noch sehen, Frazer.«
Frazer ließ ihren Kopf trotzdem auf dem Tisch liegen und griff entschlossen nach ihren Stäbchen. Sie betete, dass die Stimme verschwinden möge.
Sie hörte, wie der Stuhl neben ihrem herangezogen wurde und sich jemand neben sie setzte.
Es gab Tage, an denen liebte Frazer ihre Schwester.
Und an anderen Tagen wünschte sie sich wirklich, ihre Schwester würde in ein anderes Land ziehen – vorzugsweise ans andere Ende der Welt.
Ein Finger stach ihr nicht allzu sanft in die Schulter und bohrte sich fest hinein. »Ich weiß, dass du da drin bist, Frazer.«
Frazer setzte sich auf und strahlte sie an. »Jemma. Hi!«
Grüne Augen funkelten sie an. »Sehr witzig.«
»Keine Ahnung wovon du redest. Sushi?«
Mit einem finsteren Blick schnappte sich ihre Schwester einen Teller mit Sashimi vom Laufband. Sie riss Frazer die Stäbchen aus der Hand und schob sich ein Stück in den Mund. »Mmh, schmeguut.«
»Ich nehme an, das bedeutet, es schmeckt gut?«
Jemma nickte. »Ich liebe dieses Restaurant. Ich bin oft hier. Ich glaube, große Schwester, dass du hergekommen bist und heimlich gehofft hast, mich zu treffen.«
Nächstes Mal musste Frazer daran denken, sich besser nur etwas zum Mitnehmen zu holen. »Oh, ich bin sicher, so war es, Jem.«
»Warum bist du heute so zickig?«
Ein weiteres Stück Sushi verschwand in Jemmas Mund und Frazer gab es auf, auf ihre Stäbchen zu warten. Sie bat um ein weiteres Paar. »Nicht zickig, nur …«
»Verkatert?«
Kurzes Schweigen.
»Nein.«
Jemma grinste. »Hoffentlich haben deine Ausdünstungen heute keine Babys betrunken gemacht.«
Für diesen Kommentar stach Frazer ihrer Schwester mit den neuen Stäbchen ins Bein, bevor sie sie auseinanderbrach. »Nur eines, und ich glaube, dass die Kleine dankbar war. Sie hatte eine lange Reise – die Nabelschnur hing fest und sie war in Steißlage.« Frazer hatte sich dem Baby natürlich nicht genähert, aber das wusste Jemma ja nicht.
Mehr war nicht nötig. Ihre Schwester wurde ein wenig blass um die Nase und ein Stück Sashimi blieb auf dem Weg in ihren Mund in der Luft hängen. »Nein«, befahl sie. »Kein Wort über die Arbeit.«
Und Frazer hatte noch nicht einmal den Zervixschleim-Pfropfen erwähnt. »Du hast angefangen.«
»Und jetzt beende ich es. Themenwechsel bitte.«
»Schön.« Frazer stellte die erste Frage, die ihr in den Sinn kam. »Wie läuft’s an der Uni?«
»Schlechte Wahl. Warum habe ich mich nochmal dazu entschieden, einen Doktor zu machen?«
»Frag mich nicht. Ich war nie die Schlaue.«
Ihre Schwester sah plötzlich wieder wie das Kleinkind aus, an das sich Frazer von vor zwanzig Jahren erinnerte. »Es ist so schwer , Frazer. Erwachsen zu sein ist scheiße.«
»Ja, das ist es.«
»Wieso macht Tony das nur so gut?«
Frazer hatte keine Ahnung, wo ihr Bruder die Gene herbekommen hatte, die es ihm erlaubten, seine eigene Immobilienfirma zu leiten und mit seinen zwei Komma fünf Kindern in einem reichen Vorort zu leben. Manchmal war Frazer davon überzeugt, dass ihre Eltern all ihre genialen Erziehungsstrategien bei ihrem ältesten Sohn angewandt und bei ihren jüngeren Töchtern hatten schleifen lassen.
»Keine Ahnung«, sagte Frazer. »Er war fünf Jahre allein mit unseren Eltern. Vielleicht haben sie aufgegeben, als ihnen klar wurde, dass er nicht perfekt sein würde, und haben stattdessen mich bekommen.«
»Ja, und dann, mehr als zehn Jahre später, haben sie mich bekommen, weil du auch eine Versagerin warst.«
Verdammt. Das war nach hinten losgegangen.
»Du warst ein Unfall.« Das war das Beste, was Frazer in ihrer Verfassung einfiel.
»Red dir das nur weiter ein. Wie geht’s den neuen Fischen?«
Irgendwie fühlte sie sich in Gesellschaft ihrer nervigen Schwester besser. Frazer lehnte sich auf ihrem harten Plastikstuhl so weit wie möglich zurück. »Dory und Nemo hassen sich.«
»Nein! Das ist wie … wie Blasphemie.«
»Studierst du nicht Philosophie? Du solltest wissen, dass es keine Blasphemie ist.«
»Ich sagte wie , du pedantisches Etwas.«
»Oh!« Mit mehr Enthusiasmus, als sie für möglich gehalten hatte, beugte sich Frazer nach vorn. Die letzten Reste ihres Katers verschwanden sekündlich. »Wie geht’s deinem Literaturdozenten?«
Röte breitete sich auf Jemmas Gesicht aus und sie sah sich hektisch um. »Pscht!«
»Kleine Schwester, du schläfst mit deinem Dozenten. Ich werde sicher nicht nichts dazu sagen.«
»Und wo warst du letzte Nacht, da du ja nicht auf Onkel Jays Geburtstag warst? Betrunken? Hast du mit der armen Empfangsdame geschlafen? Warte, ich habe vergessen, dass du eine rettungslose Single bist – hast du gestrickt?« Jemma musterte Frazers Gesicht und ihre Augen leuchteten auf. »Oder warst du wirklich endlich auf einem Date
Frazer schaute schnell wieder auf das Sushi, doch es war zu spät. Jemma hatte ihren Blick gesehen und lachte.
»Ich wusste es – mit wem hast du geschlafen?«
Das Seltsame war, dass sie an Cora und nicht an Lauren gedacht hatte.
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»Es tut mir leid.«
Cora rollte zum mittlerweile vierten Mal mit den Augen. »Hör schon auf.«
»Es tut mir wirklich leid.«
Der Sitzsack verschluckte Cora fast. So sollten alle ihr Leben verbringen. Vor allem, wenn man den ganzen Tag damit zugebracht hatte, seinem Ehemann Schrägstrich Chef aus dem Weg zu gehen, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, und obendrein noch verkatert war.
Die Tatsache, dass Cora ein großes Weinglas in der Hand hielt, machte alles ein wenig besser.
»Lisa, es ist kein Problem. Es war nicht so wichtig und du musst dich für nichts entschuldigen. Geht’s deiner Mum besser?«
Lisa saß auf der Couch, strich sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn und sah eher wie eine gefasste Erwachsene aus als Cora, die in ihrem Sitzsack praktisch versunken war.
»Nein, noch nicht. Dad versucht, ein Visum zu bekommen, aber es wurde wieder abgelehnt und sie fragt ständig nach ihm.«
»Wieso wird es immer noch abgelehnt?«
Lisa ließ sich mit dem Rücken gegen die Couch fallen. »Keine Ahnung. Ich habe die Gutachten von den Ärzten eingereicht. Hoffentlich genehmigen sie ihm jetzt ein Visum aus familiären Gründen. Manchmal wünschte ich, meine Eltern hätten es geschafft zu heiraten, bevor sie Vietnam verlassen haben. Dann wären wir alle als Flüchtlinge anerkannt und hätten nicht dieses Problem.«
Cora war sehr vertraut mit Lisas andauerndem Kampf gegen die australischen Einwanderungsgesetzte, die Lisas Vater in Vietnam hielten, während der Rest der Familie bereits hier war. Ihre Mum war als Flüchtling nach Australien gekommen, als Lisa noch ein Kleinkind gewesen war, aber aus irgendeinem Grund wurde ihrem Vater dieser Status nicht zuerkannt. »Kann er nicht wenigstens noch einmal zu Besuch kommen?«, fragte Cora. Als das Geld endlich gereicht hatte, durfte ihr Vater ein paarmal zu Besuch kommen.
»Er wartet ab, ob es mit dem Visum aus familiären Gründen etwas wird. Erstmal können wir nur für eine Reise genügend Geld aufbringen.«
»Es tut mir leid.«
Lisa lächelte schwach. »Muss es nicht. Es ist, wie es ist. Vielleicht verschwindet Mums Alzheimer und Dad bekommt ein Visum. Dann kann das Leben weitergehen und ich kann wieder einfach nur ihr Kind sein.« Sie sagte es so, als wäre es jemals einfach gewesen.
»Das – oder wir erfinden die Teleportation und beamen ihn einfach her.«
»Ehrlich gesagt wäre das wahrscheinlicher.«
Sie sahen sich vielsagend an.
»Genug von mir«, sagte Lisa, »mein düsteres Leben zieht mich runter. Was ist denn letzte Nacht los gewesen?«
Cora seufzte schwer und ließ sich tiefer in den Sitzsack sinken. Letzte Nacht hatte sie sich nur mit ihrer besten Freundin betrinken wollen und jetzt wollte sie alles vergessen. Warum war das nicht möglich? So, wie sie und ihr Ehemann es normalerweise immer machten, tun, als wäre nichts gewesen. Cora und Alec – das Dream-Team in Sachen Verdrängung.
Warum hatte er auch ausgerechnet dieses Glas nach ihr werfen müssen?
»Cora? Hallo?«
Vielleicht konnte Cora einfach die Augen schließen und für immer in der Weichheit des Sitzsackes bleiben. Hineinsinken, als wäre er eine Wolke, Wiederholungen von Friends sehen und Eis essen. Eis mit Weingeschmack.
»Cora, du bist kein verdammter Vogel Strauß. Ich verschwinde nicht, nur weil du die Augen zumachst.«
»Wir haben wieder gestritten.« Da. Sie hatte es gesagt. Ihre Augen waren zwar immer noch geschlossen, aber das war schon mal ein Anfang.
Lisa schwieg. Kein gutes Zeichen.
Die Stille zwang Cora weiterzusprechen. »Es war keine große Sache.«
»Warum bist du dann geflüchtet?«
Ihre Freundin kannte sie zu gut. Aber es gab Dinge , die über einen simplen Streit hinausgingen, Dinge, die Cora selbst ihr nicht erzählt hatte. Einen Moment lang, während Lisa sie mit ihren aufrichtigen dunklen Augen ansah, dachte Cora darüber nach, ihr alles zu beichten; ihr von all den anderen Streiten zu erzählen, nach denen sie sich nicht bei Lisa ausgeheult hatte. Von Alecs Wut und der Art, wie Alec mit ihr sprach, und wie es Cora in letzter Zeit immer wieder dazu verlangte zurückzuschießen. Sie wollte Lisa sagen, dass Alec es hasste, wenn sie irgendetwas in ihrem Leben hatte, das sich nicht um ihn drehte, und wie er ihr das Gefühl gab, alles wäre ihre Schuld. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal eine schöne Zeit zusammen verbracht hatten. Sie hatte gestern endlich ausgesprochen, dass sie Schluss machen wollte. Er hatte es ignoriert und sie ließ ihn gewähren, weil sie sich nicht sicher war, ob sie das auch wirklich wollte.
Die Nervosität und das Schamgefühl in ihrem Bauch hielten sie davon ab, ein Geständnis abzulegen. Lisa war so … gefasst. Ihr zu erzählen, was für ein Fiasko ihre Ehe war, ihr gegenüber einzugestehen, dass sie an etwas scheiterte, dass so einfach sein könnte – das war zu beschämend. All die schmutzigen Details fühlten sich zu privat an und waren von etwas durchtränkt, das ihr den Willen raubte, darüber zu sprechen.
»Wir haben uns mal wieder angeschrien. Ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, worum es ging.«
Das konnte sie wirklich nicht. Sie konnte sich nicht an den Auslöser erinnern. Nicht daran, wie sie wieder an den gegenüberliegenden Enden des Raums gelandet waren und sich absurde Vorwürfe an den Kopf geworfen hatten, die schwer auf dem jeweils anderen lasteten.
Und anstatt sich zurückzuziehen oder klein beizugeben, hatte sie ihm in die Augen gesehen und geradeheraus gesagt, dass sie die Scheidung wollte. Und selbst jetzt wusste sie nicht, ob sie es ernst gemeint hatte.
Das Glas war direkt über ihrem Kopf zersplittert, bevor sie es überhaupt hatte kommen sehen.
Nein. Schon die Erinnerung trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Das konnte sie Lisa auf keinen Fall erzählen. Nicht ihrer besten Freundin, die sie seit der Highschool als das extrovertierte und witzige Mädchen kannte und das zugesehen hatte, wie sie sich langsam … in jemand anderes verwandelt hatte.
Lisas Blick sorgte dafür, dass sie sich abwandte und sich noch etwas Wein einschenkte. Sie musste sich ein Stück aus dem Sitzsack erheben, um die Flasche zu erreichen, und fühlte sich dabei ein wenig wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken gelandet war. Der Gedanke brachte sie zum Lachen.
Lisa beobachtete sie entzückt. »Was ist denn so witzig?«
»Mein Hintern steckt im Sitzsack fest.«
»Du gibst auch eine sehr elegante Figur ab.«
»Oh, so fühlt es sich auch an. Das setzt der Schande des Katers heute noch die Krone auf.«
»Habe ich einen Grund zur Eifersucht? Mit welcher fantastischen neuen Freundin bist du denn ausgegangen, Miss Anti-Sozial?«
Cora wollte widersprechen. »Ich bin nicht …«
»Oh, bitte.« Grinsend nippte Lisa an ihrem Wein. »Wie viele Facebook -Freunde hast du?«
»Irrelevant. Ich bin nicht bei Facebook
Lisa hob abwehrend die Hand und verzog das Gesicht, als sie dabei beinahe etwas Wein verschüttete. »Meine Rede.«
»Nein. Facebook hat nichts zu sagen.«
»Wie viele Kontakte sind in deinem Handy?«
»Ungefähr …« Cora hörte auf, die einzelnen Einträge an ihren Fingern abzuzählen, als Lisa laut auflachte. Manchmal machte ihre Freundin sie wahnsinnig.
»Was?«
»Wenn du sie an zehn Fingern abzählen kannst, bestätigst du mich nur wieder. Also, spuck’s aus: Mit wem bist du ausgegangen?«
Cora gab ihren Widerspruch auf ließ sich wieder tief in den Sitzsack sinken. Es war allgemein bekannt, dass sie nicht gerade der Mittelpunkt einer Party war. Warum sich die Mühe machen, dagegen anzureden? »Mit niemandem. Ich bin wie ein Looser allein in eine Bar gegangen.«
»Wow.« Lisa hob die Augenbrauen. »Ich bin beeindruckt.«
»Warum?«
»Allein?«
»Ja.«
»Ganz allein? In eine Bar?«
»Ja.«
»Mit niemandem? Nur du, dein Wein und eine Bar voller Betrunkener? So allein?«
Coras Kiefer verspannte sich. »Ja, Lisa, allein. Aber wenn du es genau wissen willst, ich habe dort jemanden von der Arbeit getroffen und wir haben zusammen zu viel Tequila getrunken. An viel mehr kann ich mich danach nicht erinnern. Außer, dass ich eine feste Umarmung bekommen habe, die ich wirklich gebraucht habe.«
»Du hast jemanden von der Arbeit umarmt?« Wenn Lisa die Augenbrauen noch weiter nach oben zog, würden sie ihre Stirn verlassen.
»Ich glaube schon. Meine Erinnerungen sind wie gesagt etwas vage. Ich war betrunken und traurig. Sie hatte Mitleid mit mir.«
Lisas Augenbrauen sanken wieder an ihren ursprünglichen Platz. »Oh. Sie. Ich dachte schon, das wäre der Beginn einer heißen Affäre.«
Cora musste lachen. »Eine Affäre? Ich?«
»Na ja, man kann nie wissen. Eine leidenschaftliche Umarmung, während sich sein Bart an deinem Hals reibt … oder deiner Wange.«
»Vielleicht solltest du auf ein Date gehen.«
Lisa lachte und leugnete es nicht, während Cora dachte, dass sich eine glatte Wange an ihrer eigenen besser anfühlen würde. Sie blinzelte und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Lisa.
Der Gedanke war neu.
Ein Déjà-vu-Gefühl überkam sie und sie hatte keine Ahnung warum.
~ ~ ~
Zwei Wochen lang hatte Frazer nicht mit Lauren geflirtet.
Nicht, dass sie es davor getan hätte.
Was Frazer also wirklich meinte, war, dass sie Lauren seit zwei Wochen komplett gemieden hatte wie ein Teenager nach einem peinlichen Date.
Zwei Wochen lang hatte sie sich hinter Türen und in Ecken versteckt und sich von den Gemeinschaftsräumen ferngehalten. Nach einem sehr kurzen Zusammentreffen vor dem Krankenhaus, bei dem Frazer sie nur entschuldigend angesehen und etwas von viel zu tun in den nächsten Monaten gesagt hatte, zeigte die Vermeidungsstrategie endlich Wirkung. Sie versuchte einfach, Laurens enttäuschten Gesichtsausdruck zu vergessen.
Frazer war auch den wöchentlichen Feierabenddrinks mit ihren Freunden ferngeblieben. Andy, Rob und Daniel hatten wahrscheinlich schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben.
Aber das war nicht das eigentliche Problem.
Das eigentliche Problem war, dass sie ausgehen wollte . Sie wollte in eine Bar gehen – die Unterhaltungen der Leute im Hintergrund, den Alkohol, die Musik und die Atmosphäre genießen.
Aber sie wollte mit Cora ausgehen. Ohne Druck, ohne Diskussionen über ihr nicht existentes Liebesleben. Es war ein seltsam schöner Abend gewesen. Etwas, das Frazer seit langer Zeit nicht gehabt hatte.
Frazer verspürte den Drang, Cora wieder zu treffen. Aber das ging nicht.
Ein wahres Dilemma. Und irgendwie auch ziemlich ironisch.
Deshalb versuchte Frazer, sich mit Sport abzulenken. Sie war schon immer gerne schwimmen gegangen. Für gewöhnlich trieb sie dabei eher auf dem Wasser und wurde beschämend oft von Senioren überrundet. In letzter Zeit war Frazer allerdings jeden Tag im Fitnessstudio gewesen und war ihre Runden geschwommen, bis sie glaubte, ihre Lungen würden platzen. An den meisten Tagen zwang sie sich, Rollwenden zu machen, bei denen sie sich unter Wasser drehte, um sich am Ende des Beckens abzustoßen und trotz des Brennens in ihrer Brust und den Krämpfen in ihren Beinen weiterzumachen.
Der Drang, Cora wiederzusehen, verschwand nicht.
Sie wollte zu dieser Nacht in der Bar zurückkehren. Mit Cora reden, diese andere Seite an ihr kennenlernen, von deren Existenz Frazer vorher nichts geahnt hatte.
Sie wollte sich nur mit ihr unterhalten.
Nicht etwa ihre Beine bewundern, die Frazer immer öfter auffielen. Oder im Gefühl dieser intensiven Umarmung schwelgen. Ihre Erinnerung an diese Nacht war zwar vage, aber Coras warmen Atem an ihrem Hals konnte und wollte sie nicht vergessen.
Aber Frazer durfte nicht daran denken.
Denn, na ja, Cora war mit ihrem Chef verheiratet und so weiter.
Derselbe Chef, auf dessen Antwort bezüglich ihres Projektantrags sie noch immer warteten.
Zwei schreckliche Montagmorgen-Meetings waren vergangen, und bis jetzt war nichts entschieden.
Während der letzten zwei Wochen hatte Frazer oft vorgehabt, Cora zum Kaffee oder auf ein paar Drinks einzuladen, um den aktuellen Stand zu besprechen, aber es hatte nie geklappt. Vor zwei Wochen musste Vollmond oder so etwas gewesen sein, denn plötzlich lagen alle Schwangeren in den Wehen, bei denen Frazer dabei sein musste, und Cora wurde ständig in anderen Teilen des Krankenhauses gebraucht. Frazer hatte vorher nie darüber nachgedacht, aber Sozialarbeiterinnen waren schwer beschäftigt.
Nicht, dass es eine Rolle spielte. Es war Zeitverschwendung, sich zu dieser Frau hingezogen zu fühlen, und sie hatte keinen Grund, in ihrer Nähe zu sein; also würde Frazer ihr einfach aus dem Weg gehen.
Vor diesem Abend war Frazer ihr kaum irgendwo begegnet. Jetzt traf sie Cora an den seltsamsten Orten.
Nicht, dass es eine Rolle spielte.
Es war ein paarmal in der Kantine passiert, wo sie sich nur kurz Hallo hatten sagen können, ehe eine von ihnen vom Pager weggerufen wurde. Einmal war Frazer um eine Ecke gebogen und hatte Cora und Alec gesehen. Cora hatte auf den Boden gestarrt und ihre Wangen hatten sich leicht rot gefärbt, während Alec sie anzischte. Dann hatte Cora mit blitzenden Augen zu ihm aufgesehen und direkt zurückgezischt. Da Frazer keinen unangenehmen Beziehungsstreit beobachten wollte, hatte sie sich davongeschlichen und gehofft, dass Cora sie nicht bemerkt hatte.
Die vage Erinnerung an Coras Worte, dass sie Eheprobleme hatten, lag schwer in ihrem Magen und war mit dem Geschmack von Tequila verknüpft. Soweit sie mitbekam, hatten alle verheirateten Paare gute und schlechte Zeiten. Ihre eigenen Eltern hatten Zeiten durchlebt, in denen Frazer geglaubt hatte, sie würden sich trennen. Vor allem, nachdem ihre Mutter zehn Jahre nach ihrem letzten Kind auf wundersame Weise noch einmal schwanger geworden war.
Wer wusste schon, was im Leben von verheirateten Paaren vor sich ging?
Frazer nicht, so viel war sicher.
Als sie Cora das letzte Mal zufällig begegnet war, hatte sie fast einen Herzinfarkt bekommen. Dabei hatte sie nur ihr Mittagessen aus dem Pausenraum holen wollen.
Aber nein.
Als Frazer die Tür öffnete und den Raum betrat, erstarrte sie. Cora stand mitten im Raum. Oberkörperfrei.
Es folgte ein Moment der Stille.
Cora sah sie entgeistert an.
Frazer biss sich auf die Unterlippe.
Dann wirbelte sie herum, während sich Cora schnell das Shirt wieder über den Kopf zog, und schloss die Tür, damit niemand, der am Raum vorbeiging, hineinsehen konnte. Frazer verdrehte genervt die Augen. Super Idee. Sperr dich mit der halbnackten Frau deines Chefs ein . Sie sollte jetzt wirklich etwas sagen.
»Mist … es tut mir sehr leid.« Ihr Herz raste.
Sie hatte einen dunkelroten BH gesehen. Coras Teint wurde von dieser Farbe offenbar wunderbar akzentuiert. Nicht, dass Frazer in der einen Sekunde so genau hingeschaut hätte. Auch waren ihr Coras geschwungene Hüften und die Kurven ihres Oberkörpers nicht aufgefallen.
Nein. Nichts davon hatte sie bemerkt.
»Frazer, ist schon in Ordnung. Du kannst dich wieder umdrehen.«
Langsam wandte sich Frazer um und hoffte, dass die Hitze in ihren Wangen nur ein Gefühl war und sie nicht wirklich feuerrot waren.
Cora schenkte ihr ein schüchternes Lächeln. »Außerdem glaube ich, dass du täglich mehr als das zu Gesicht bekommst.«
»Stimmt.« Endlich gelang es Frazer, ungezwungen zu lächeln. Zumindest hoffte sie, dass es ungezwungen wirkte. Jetzt mit einem schwarzen T-Shirt bekleidet, nahm Cora ihre Tasche und Frazer versuchte, sich nicht mehr vorzustellen, wie sie das nur mit einem roten BH tat. Sie hatte Cora vorher noch nie so angesehen. Gott, wie peinlich. Offensichtlich sollte Frazer wieder mehr mit ihren Freunden ausgehen. Oder schwimmen gehen. Irgendetwas. »Ähm … wie geht’s dir?«
Sie war aus einem bestimmten Grund in diesen Raum gekommen, dessen war sich Frazer sicher. Aber jetzt konnte sie nur noch daran denken, wie sie ihn am schnellsten wieder verlassen konnte. Sie machte einen Schritt rückwärts, fluchtbereit, und ihre Hand tastete blind nach der Türklinke.
»Mir geht’s gut.« Cora zog ein Paar Strümpfe aus der Tasche, setzte sich auf die Couch im Pausenraum und zog sie an. »Jetzt besser, weil ich nicht mehr voller Kinderkotze bin.«
Das ließ Frazer innehalten. »War das nicht eigentlich der Vorteil an deiner Arbeit? Dass man nicht in Kontakt mit Körperflüssigkeiten kommt?«
»Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort.« Coras Gesichtsausdruck war unbezahlbar. »Und ich will es nur ungern wiederholen.«
»Du solltest es einmal mit Plazenta versuchen.«
Cora schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf, so heftig, dass ihr die Haare ums Gesicht flogen. »Nein, vielen Dank. Ich passe.«
Selbst das Gespräch über Erbrochenes und Mutterkuchen konnten das Bild von Cora in ihrem roten BH nicht aus Frazers Kopf vertreiben. »Na ja, ich bin jedenfalls froh, dass du wieder sauber bist. Ich werde einfach … gehen.«
Bevor sie zur Tür hinaus war, hielt ein einzelnes Wort sie auf. »Frazer!«
Sie schloss einen Moment die Augen. Als sie sich zu Cora umdrehte, hatte sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle. »Ja?«
Warum wirkte Cora auf der Couch so klein? War sie nervös?«
»Wollen wir irgendwann mal wieder was trinken gehen?«
Der flehende Unterton in ihrer Stimme verhinderte, dass Frazer Nein sagte. »Oh, okay. Sicher.«
»Schön. Bald, ja? Ich könnte jemanden zum Reden brauchen.«
»Sicher, bald«, sagte Frazer, während sie bereits den Raum verließ.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich dagegen. Offensichtlich brauchte Cora Freunde. Wenn sie schon Frazer vorschlug, mit ihr auszugehen, konnte man mit Sicherheit davon ausgehen. Frazer konnte sich auch nicht daran erinnern, Cora je mit Freunden gesehen zu haben. Nur mit Alec.
Immer mit Alec.
Die zwei Wochen, in denen er es versäumt hatte, etwas wegen ihres Projekts zu unternehmen, waren im Nachhinein ein Segen.
Zumindest konnte Frazer unter diesen Umständen Cora einfach aus dem Weg gehen.
Erneut drängte sich das Bild des roten BHs auf Coras brauner Haut in Frazers Gedanken und sie rieb sich die Augen. Auf gar keinen Fall würde sie die anzüglich grinsende Lesbe sein, die wegen einer ihrer Freundinnen anfing zu sabbern. Was machte es schon, wenn sie Cora heiß fand? Das war keine große Sache. Sie konnten trotzdem befreundet sein.
Aber jetzt, nachdem sie zugesagt hatte, konnte sie ihr nicht viel länger ausweichen.
Doch zuerst brauchte sie etwas Zeit, um diese seltsame Anziehung aus ihrem Kopf zu verbannen. Ihre Finger schwebten über ihrem Handydisplay, um Andy und Rob zu fragen, ob sie abends Zeit hätten. Aber dann biss sie die Zähne zusammen und ließ das Handy wieder in ihre Tasche fallen.
Stattdessen würde sie schwimmen gehen.
~ ~ ~
Im Restaurant ging es zum Glück laut und geschäftig zu. Die Kerzen auf den Tischen sorgten für eine gemütliche, schummrige Beleuchtung und das Klappern von Besteck auf Porzellan sorgte für die passende Hintergrundmusik.
Bevor sie das Haus verlassen hatten, hatte Cora Alec ein neues Restaurant vorgeschlagen – ein italienisches Lokal auf der anderen Seite der Stadt in Fremantle. Sie hatte diese Gegend einst geliebt, da sie so voller Charme war. Es gab viele alte Gebäude, kleine Häuschen am Meer und Trauerweiden, die die Straßen säumten. An einem Freitag wie heute waren die Märkte geöffnet und voller unnützer Dinge, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie sie brauchte, bis sie sie gesehen hatte. Alecs abfälliger Kommentar hatte seine Meinung zu dem Vorschlag deutlich gemacht, so waren sie stattdessen wie üblich in das Restaurant gegangen, das nur zehn Minuten von ihrem Haus entfernt lag. Alec vermied es, in den südlichen Teil der Stadt zu gehen, jenseits des Flusses, der Perth teilte.
»Ich bin nächste Woche auf einer Konferenz.«
»Hm?« Cora nippte an ihrem Wein. Als sie das Glas abstellte, störte sie der Ring, den es dabei auf der weißen Tischdecke hinterließ. »Wo?«
»Brisbane. Ich werde eine Woche weg sein.« Er sah sie kaum an, als er in sein Steak schnitt, das so roh war, dass es aussah, als würde es gleich mit einem empörten Muh! vom Teller springen.
»Ab wann?« Wie deprimierend. Außer dieser Frage fiel ihr nichts ein, was sie ihm zu sagen hatte.
»Um den fünften herum.«
Sie suchte nach etwas Konkretem, das tatsächlich eine Unterhaltung in Gang bringen könnte. »Worum geht es bei der Konferenz?«
Alec seufzte. »Management bei Makro- und Mikroverkäufen.«
Cora gab sich lieber der Stille hin, als dieses Thema weiter zu vertiefen. »Ah.«
Der Kellner räumte ihre Teller mit einstudierter Präzision ab und kam ein paar Minuten später für ihre Nachtischbestellung zurück. Alec warf einen Blick auf sein Handy, nippte an seinem Drink und sah überall hin, nur nicht zu Cora.
»Also …«, Cora wagte einen letzten Versuch. »Wo wirst du unterkommen?«
Sie zuckte, als er seine Hände auf die Tischplatte schlug. Zum ersten Mal seit zehn Minuten sah er sie direkt an. »Mein Gott, Cora, was soll dieses Verhör?«
Cora atmete überrascht ein. Dieses Mal hatte es nur eine halbe Stunde gedauert. Sie versuchte, das Brennen zu ignorieren, das in ihre Wangen kroch. »Es war nur eine Frage.«
»Vielleicht bin ich einfach nicht in der Stimmung, dir über jedes Detail meines Lebens Rechenschaft abzulegen.«
»Vielleicht wollte ich nur eine Unterhaltung mit dir führen?« Cora ergriff ihr Glas und ihre Finger zitterten leicht. »Aber anscheinend weißt du nicht mehr, wie das geht.«
Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen.
Alec räusperte sich. »Anscheinend wissen wir nicht mehr, wie das geht.«
Sie sahen einander einen Augenblick lang an. Dann unterbrach Cora den Blickkontakt. Das Gefühl, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte, kroch ihre Wirbelsäule herauf. Sie gewann nie. Der gesamte Ablauf spielte sich vor ihrem geistigen Auge ab: Alecs wachsende Wut, die Schuldgefühle, die Art, wie er jedes einzelne ihrer Worte herumdrehte und gegen sie verwendete. Sie widmete sich wieder ihrem Wein.
Das unangenehme Schweigen hielt an. Der Nachtisch verbesserte die Situation nicht. Die Anspannung prickelte auf Coras Armen und ihrem Rücken, als würden Nadeln in ihrer Haut stecken. Der Drang, sich zu kratzen, ließ sich nur schwer unterdrücken. Das gefühlte straffe Band um ihre Brust war wieder zurück. Ihre Atmung kam ihr seltsam und ungleichmäßig vor. Cora ließ ihren Blick durch den Raum wandern und sah entspannte, normale Paare an den anderen Tischen sitzen. Fühlte irgendeiner von ihnen so wie sie? Als würden sie auf der Stelle treten, als würde es an etwas fehlen, das es ihnen möglich machte, sich vorwärtszubewegen?
An ihrem ersten Date hatte Alec sie ins Ballett ausgeführt. Sie hatte das Stück noch nie zuvor gesehen und jetzt konnte sie sich nicht einmal mehr an den Namen erinnern. An diesem Abend damals hatte er sie berührt als wäre sie aus Glas, als würde sie unter seiner brodelnden Leidenschaft zerspringen – seine Finger hatten sich an ihre Wange gelegt und sein Daumen hatte einen Abdruck hinterlassen, der sich wie Liebe anfühlte. Sein Blick, intensiv und blau, hatte ihren nicht verlassen, als er dafür gesorgt hatte, dass sie sich komplett fallen ließ, als wäre sie ein offenes Buch für ihn.
»Wie war der Name des Balletts, zu dem du mich bei unserem ersten Date mitgenommen hast?«, fragte sie.
Alec sah nicht von seinem Kuchen auf, den er für sie beide bestellt hatte, bevor Cora sagen konnte, dass sie keinen wollte. Er war so süß, dass ihr davon übel wurde.
»Gott, ich erinnere mich nicht, Cora.« Als er endlich aufsah und ihren Gesichtsausdruck bemerkte, wurde etwas um seine Augen herum weicher. Es war kaum sichtbar, aber es reichte aus, um das Band um ihre Brust zu lockern. »Giselle , glaube ich.«
Später an diesem Abend lag Cora zum ersten Mal seit Monaten nackt unter der Decke. War es schon Monate her gewesen? Sie zog ihre Augenbrauen zusammen, während Alecs nackter Rücken nur einen Meter von ihr entfernt war. Ja, mindestens zwei. Vielleicht drei. Wie jedes verheiratete Paar hatten sie immer seltener Sex. Wann immer seine Hände wie heute Nacht unter der Decke nach ihr tasteten, war es schön, selbst wenn die Leidenschaft fehlte, die sie früher so verzehrt hatte. Trotzdem versuchte Cora es zu vermeiden. Auch diese Nacht hatte, wie so oft, der Ausdruck in seinen Augen dafür gesorgt, dass sie sich klein und dumm fühlte. Erinnerungen an all die Male, an denen er kalt gewesen war, sie weggeschickt oder herabgewürdigt hatte, kamen ihr dabei in den Sinn. Sie war erstarrt. Jedes Gefühl, das sie mit diesen Erinnerungen verknüpft hatte, legte sich über sie, schwer und erdrückend – das Gefühl in ihrem Bauch, wenn sie sich entschuldigte, um den Frieden zu wahren, ohne zu wissen, wofür sie sich eigentlich entschuldigte, aber trotzdem sicher, dass in Wahrheit er sich hätte entschuldigen müssen.
Oft stellte sie fest, dass sie den Kopf von ihm abwandte, selbst wenn seine Lippen ihre Wange berührten.
Über ihr tanzten die Schatten des Baums vor ihrem Schlafzimmerfenster an der Decke, und wenn sie sie lange genug anstarrte, konnte sie sich in den vergehenden und entstehenden Formen verlieren.
Vor zwei Wochen hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn verlassen wollte, und sie hatte geglaubt, dass sie es ernst meinte.
Das dachte sie noch immer.
Und doch, wenn die Worte durch ihre Kehle nach oben drangen und sich in ihrem Mund formten, erstarben sie jedes Mal auf ihrer Zunge.
Wann hatte sie ihren Mut verloren?
Ihre Eltern hatten einmal gesagt, dass in ihr ein Feuer loderte, das niemand je ersticken könnte. Ein Feuer, das ihre Neugier und ihre Entschlossenheit antrieb. Ihr Vater hatte immer gelacht und gesagt, dass er hoffte, sie würde sich niemals ändern.
Aber sie hatte sich verändert.
Sie hatte sich so langsam und schleichend verändert, dass sie selbst es gerade erst bemerkt hatte.