Kapitel 6
»Pressen!«
»Ich kann nicht.«
Die Frau vor Frazer war so erschöpft, dass sie nicht einmal mehr schluchzen konnte. Ihre Knie zitterten und die Haare, die bei ihrer Ankunft perfekt frisiert gewesen waren, hingen zerzaust um ihr verschwitztes Gesicht.
»Einmal noch und dann ist es fast geschafft.« Frazer legte unterstützend eine Hand auf das Knie der Frau. »Versprochen.«
Dieser Moment, genau dieser Moment war der Grund, warum sie ihren Job so liebte. Es gab nur noch die erschöpfte Patientin und Frazer. Augen öffneten sich und schauten sie erschöpft an. Frazer erwiderte den Blick und lächelte. Das Gesicht der Frau war tiefrot. Sie nahm alle Kraft zusammen und presste noch einmal. Und schon war ein neues Baby auf der Welt, nass, blau und reglos. Jetzt kam der schönste Teil. Tränen strömten der Frau übers Gesicht, als sie in ihre Kissen zurücksank und Frazer ihr das nun schreiende Baby auf den Bauch legte. Sanft strich der Partner der Frau mit zitternden Fingern über die hauchdünnen feinen Haare auf dem Kopf des Neugeborenen. Frazer legte eine weiche und vorgewärmte Decke über das Baby.
Sie räumte auf, die paar Stiche blieben bis auf ein kurzes, schmerzverzerrtes Gesicht der frischgebackenen Mutter unbemerkt, bei dem Frazer mitfühlend zusammenzuckte. Fünfzehn Minuten später verließ sie das Zimmer, die Hände sauber geschrubbt und die Familie glücklich zusammen auf dem Bett liegend.
Sie hatte die Familie von Anfang an begleitet, war auch in die pränatale Vorsorge und den Geburtsplan eingeweiht gewesen – der, wie Frazer sie vorgewarnt hatte, komplett aus dem Ruder gelaufen war, als die Frau in den Wehen lag und das erste Mal um Schmerzmittel gebettelt hatte. Frazer musste im Stillen darüber lachen. In der Theorie waren Geburtspläne eine tolle Sache, aber Geburten liefen eben nur selten nach Plan. Auf halbem Weg hatte die Mutter die Eisstückchen, die ihr Partner ihr liebevoll gereicht hatte, auf den Boden geworfen und gezischt: »Das ist alles deine Schuld!«
Ein gutes Zeichen dafür, dass die Geburt kurz bevorstand.
Der Rest des Tages verlief ähnlich, drei Geburten, von denen eine sehr zum Entsetzen der Mutter mit einem Kaiserschnitt endete. Frazer hatte zur Beruhigung ihre Hand genommen. »Ich war eine Kaiserschnittgeburt, und sehen Sie sich nur an, wie großartig ich geworden bin.«
Trotz der Anstrengung musste die Frau lachen. Lohn genug für Frazer.
Erschöpft stolperte sie später am Tag in ihr Büro, um etwas Papierkram abzuarbeiten. Sie musste Dienstpläne erstellen und sich die Etats ansehen. Sie schaute aus dem Fenster und sah nur den Parkplatz. Sie ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken.
Sie brauchte Urlaub.
Das plötzliche Klopfen an der Tür ließ sie schuldbewusst zusammenzucken. Sie schnappte sich schnell einen Stift, um ihn über irgendeines der Papiere auf dem Tisch zu halten und so zu tun, als wäre sie fleißig.
»Herein!«
Tia stolzierte in ihr Büro. »Hey Frazer.«
»Hi. Schicke Haare.«
Tia spielte mit den Spitzen und wickelte sich die frisch gefärbten roten Strähnen um die Finger. »Danke. Mein Mann hasst sie.«
»Super. Lass sie so.«
Sie lächelten sich verschmitzt an.
»Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass die Bereitschaftshebamme für heute Nacht krank geworden ist«, sagte Tia.
Frazer zog einen Schmollmund.
Tias Schulterzucken wirkte beinahe mitfühlend. »Ich weiß. Rate mal, wer die Vertretung ist?«
»Ja, ich weiß. Ich. Super – kann es nicht erwarten.« Ihr kam ein Gedanke und sie hob den Kopf. »Oh, verflixt«, sagte sie voller Ironie. »Jetzt muss ich das Abendessen mit meiner Familie absagen.«
»Siehst du – alles hat seine guten Seiten.« Tia ging hinaus, streckte dann aber noch einmal den Kopf ins Büro. »Oh, und Frazer, du schreibst auf deine Tischplatte.«
Frazer ließ den Stift fallen. »Das wäre dann alles, Tia.«
Tia lachte und verschwand.
»Warte!«
Ihr Kopf tauchte erneut auf. »Ich verrenke mir noch den Nacken.« Als Frazer verlegen schaute, wurde Tias Gesichtsausdruck weicher. »Was?«
»Ist Alec in seinem Büro?«
»Ja. An deiner Stelle würde ich mich aber beeilen.«
Und dieses Mal verschwand sie wirklich.
Super. Noch ein Bereitschaftsdienst. Wer brauchte schon ein Leben?
Nach einem finsteren Blick auf ihren Maileingang entschied sich Frazer zu gehen und in den sauren Apfel zu beißen. Als sie ihr Büro verließ, sah sie Cora, die an den Türrahmen des Schwesternzimmers gelehnt stand und sich unterhielt. Frazer zog innerlich eine Grimasse und verschwand am anderen Ende des Flurs.
Sie würde Coras Freundin sein. Bald.
Vor Alecs Tür angekommen atmete sie tief ein und klopfte mit den Knöcheln auf das Holz.
Als sie eintrat wurde ihr schlagartig klar, wie schlecht Alec darin war, seine Stimmung zu verbergen. Seine Begrüßung bestand lediglich aus einem angespannten Blick. Es war offensichtlich, dass er nicht mit ihr reden wollte. Das Büro war schlicht und grau und genauso langweilig wie ihr eigenes.
»Hey Alec!« Wenn sie nur bei ihrer Mutter auch so fröhlich klingen könnte, wäre ihr Leben so viel einfacher.
Misstrauen zeichnete sich um seine Augen ab. »Hallo. Setz dich.«
Das tat sie. Sie starrten einander einen Augenblick lang schweigend an.
»Also, wie kann ich dir helfen?«
Frazer lächelte ihn an und schob ein wenig das Kinn vor. Sie wollte freundlich und professionell sein, ihm aber auch zeigen, dass sie es ernst meinte. »Gibt es schon etwas Neues zum Projektantrag? Hast du meine E-Mails dazu bekommen?«
Er nickte. »Ich habe sie bekommen.«
Ernsthaft? Das war alles, was er sagte, nachdem er sie gezwungen hatte, all diese Änderungen einzureichen? Das war einer der Gründe, weshalb Frazer am liebsten eine eigene Klinik mit dem Programm gründen wollte. Dann müsste sie nicht diese Spielchen spielen. Aber die Vorstellung, kein Sicherheitsnetz oder die Ressourcen des Krankenhauses im Rücken zu haben, war ein sehr angsteinflößender Gedanke. Wenn sie nur Alec mit an Bord holen könnte.
»Okay. Toll.« Frazer lächelte. Einfach mitspielen. »Dann hast du sicher gesehen, dass ich nochmal viel daran gedreht habe, um es finanziell weniger belastend zu machen. Es sollen mehr Freiwillige einbezogen werden und auch das Budget der Abteilung Soziale Arbeit.«
Alec lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und nickte. »Das habe ich gesehen, ja.«
Mein Gott. Chefs nervten. »Schön. Und was hältst du davon?«
Einen Moment lang glaubte sie, er würde nicht antworten, da es bedeutete, dass er mehr als drei Worte aneinanderreihen musste. Er bewies ihr das Gegenteil, wenn auch nur knapp. »Der Antrag liegt beim Ausschuss.«
»Und das bedeutet …« Wenn sie es nicht besser wüsste, könnte sie schwören, dass es ihm Spaß machte, sie hinzuhalten.
»Ich sollte nächste Woche eine Antwort bekommen. Da ich da auf einer Konferenz bin, werde ich dir die Antwort beim darauffolgenden Montags-Meeting mitteilen.«
Verdammte Montage. Zumindest bot dieses dann eine Chance auf eine gute Nachricht.
»Irgendeine Tendenz?« Sie hätte ihm fast zugezwinkert, aber aus irgendeinem Grund wirkte er auf sie nicht wie der Typ, der das lustig finden würde. Sie begnügte sich mit einem, wie sie hoffte, einnehmenden Lächeln.
Das hätte sie auch lassen können, denn er schüttelte nur den Kopf, ohne die Miene zu verziehen. »Nein.«
»Okay. Danke für deine Zeit.« Frazer stand auf und ging zur Tür.
»Frazer?«
Sie hielt inne und wandte sich nochmal zu ihm um. Alecs Blick haftete schon auf seinem Computerbildschirm.
»Ja?«
Er schwieg einen Moment lang. Er würdigte sie immer noch keines Blickes. »Falls es eine Rolle spielt«, sagte er, »ich hoffe, dass sie es genehmigen. Die Änderungen waren gut.«
Frazer ging mit beschwingten Schritten zur Tür hinaus.
~ ~ ~
Wenn jemand zustimmte, mit einem auszugehen, sollte die Person zumindest den Anstand haben, der Einladung auch nachzukommen.
Stattdessen erhaschte Cora seit Tagen nur einen Blick auf Frazers Hinterkopf in den Fluren.
Sie bekam ein paar E-Mails mit der Nachricht, dass keine Neuigkeiten zu dem Projekt zu erwarten seien, bis Alec von seiner Konferenz zurückkam. In einer der Mails hatte es einen Hinweis darauf gegeben, dass Alec theoretisch dafür war.
Cora und Alec hatten nicht über das Projekt gesprochen. Es lag zu nahe an einem wunden Punkt: die Schwangerschaft, die sie zusammengebracht hatte. Auf Cora wirkte es so, dass er ihre Beteiligung an dem Projekt vollkommen ignorierte, damit er diese Tatsache weiter verdrängen konnte.
Aber die blöde Frazer mied sie, oder zumindest hatte es den Anschein, dass sie ihr aus dem Weg ging. Man hatte fast den Eindruck, dass das Krankenhaus riesig war, wenn man bedachte, dass Cora Frazer nie finden konnte. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, warum sie so entschlossen war, Frazer auf einen Drink einzuladen. Lisa war eine fantastische Freundin, aber sie hatte im Moment sehr viel mit ihrer Mutter zu tun, und außer ihr hatte Cora niemanden, mit dem sie reden konnte. Der Abend mit Frazer, die sie früher für laut und unausstehlich gehalten hatte, war eigentlich ganz lustig gewesen. Vielleicht sehnte sie sich nur danach, endlich mal wieder richtig zu lachen, und wollte Frazer deshalb öfter sehen.
Außerdem hatte sie nach ihrem zufälligen Zusammentreffen ihre Meinung über Frazers vermeintliche Arroganz geändert. Sie war eher selbstbewusst als arrogant. Frazer hatte diesen gewissen Übermut in ihrem Gang, und der konnte schnell falsch interpretiert werden.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Alec. Cora versuchte, ihre Ehe mit ihm zu retten. Aber alles brach um sie herum zusammen, egal wie verzweifelt sie die Stücke aufsammelte und mit ihren Händen wieder zusammendrückte. Am Ende blieb immer weniger als das, womit sie angefangen hatte.
Langsam fing sie an zu glauben, dass das, was sie früher verbunden hatte, verschwunden war.
Allerdings klammerte sich Alec immer fester daran, je mehr sie sich zurückzog. Nichts, was sie tat, stellte ihn zufrieden. Manchmal musste Alec nur atmen, und sie wollte aufstehen und das Zimmer verlassen. Früher waren sie ein eingespieltes Team gewesen und jetzt waren sie aus dem Takt geraten. Cora fragte sich, ob sie sich diese Synchronität damals nur eingebildet hatte. Heute konnte sie in Alecs Gegenwart nicht zur Ruhe finden. Sie fühlte sich in ihrem eigenen Zuhause unwohl und war sich unsicher, wohin sie gehörte.
Wenn sie schliefen, war der gefühlte Graben zwischen ihnen so tief, dass Cora das Gefühl hatte, all ihre Probleme hineinwerfen zu können, und trotzdem wäre noch Platz für mehr. Sie fühlte nicht mehr den Drang, sich an ihn zu schmiegen, und auch er suchte in der Nacht nicht mehr ihre Nähe, wie er es früher im Halbschlaf oft getan hatte. Vor Jahren hatte sie fast jede Nacht in seinen Armen geschlafen. Selbst ihrer beider Unsicherheiten hatten keinen Platz zwischen ihnen gefunden. Sein Geruch hatte sie in den Schlaf gewiegt und sich in ihre Haut gebrannt, damit sie ihn am nächsten Tag mit sich tragen konnte.
Jetzt lag sie am Rand des Betts und ließ ein Bein heraushängen, als würde sie jeden Moment davonrennen wollen.
Was sie brauchte war jemand, der sie ablenkte. Jemand, der nichts von ihrer Vergangenheit oder all ihren Problemen wusste.
Ewas Ablenkung. Neue Freundinnen. All das war gut.
Aber warum ging ihr Frazer aus dem Weg? Vielleicht wollte sie keine neue Freundin. Wahrscheinlich hatte sie ein tolles, erfüllendes Sozialleben und brauchte keine vierunddreißigjährige verheiratete Frau, die sie runterzog. Oder ihr halb nackter Anblick im Pausenraum hatte sie entsetzt und dafür gesorgt, dass sie die Flucht ergriff. Es war ja sogar so, dass Cora selbst gerne den Anblick ihres Spiegelbildes vermied. Aber Frazer hatte in ihrem Job sicher schon Schlimmeres gesehen.
Da war dieser seltsame Moment gewesen, in dem Frazer innegehalten, an ihrer Unterlippe genagt und sich mit geröteten Wangen abgewandt hatte. Das war Cora ein wenig komisch vorgekommen.
Sie richtete den Kragen ihres blauen Polo-Shirts, das sie als Sozialarbeiterin auswies, und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Frazer stand am Kaffeewagen der Kantine und wartete auf ihre Bestellung, während sie träge durch die Nachrichten auf ihrem Handy scrollte.
»Hi.« Das Wort kam über Coras Lippen, bevor sie sich bewusst dazu entschieden hatte, sie anzusprechen. Sie versuchte zu ignorieren, dass sie sich wie ein schüchternes Mädchen fühlte, das sich auf dem Spielplatz einem der coolen Kinder näherte. Sie war eine Erwachsene. Eine Erwachsene, die Entscheidungen treffen und etwas Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen würde.
Frazers warmes Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen. Es war kein wütendes Lächeln, kein O-Gott-lass-mich-in-Ruhe-Lächeln. Es war – einfach ehrlich. Ein Teil der Anspannung löste sich von Coras Schultern.
»Cora! Hey! Was für ein Zufall. Ich wollte dich fragen, wann wir endlich etwas trinken gehen wollen.«
»Wolltest du? Ich meine … schön. Cool.« Es gab Tage, an denen Cora ihre fehlende Sozialkompetenz hasste. Cool ? Wie alt war sie, vierzehn?
»Ja, tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe. Es war so viel los, das kannst du dir nicht vorstellen.« Frazers Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, sodass das Grübchen auf ihrer linken Wange sichtbar wurde. »Na ja, du arbeitest auch hier, also kannst du es wahrscheinlich doch.«
Der Barista rief Frazers Bestellung auf.
Als sie sich vorbeugte, um den Kaffee entgegenzunehmen, strichen Frazers Haare kurz über Coras Nacken und Schulter. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus und ein leichter Duft von Orange übermannte ihre Sinne. Ein Gefühl von Déjà-vu brach über sie herein und sie erinnerte sich vage an ihre Umarmung auf der Veranda.
Offensichtlich sehnte sie sich verzweifelt nach Zuneigung.
Frazer nahm einen großen Schluck aus ihrem Kaffeebecher und ihre Augen schlossen sich genüsslich.
»Du brauchtest wohl den Koffeinschub?«, fragte Cora amüsiert.
Das Grübchen erschien wieder. »Und wie. Ich musste in letzter Zeit so viele Bereitschaften übernehmen – ich schwöre, alle Schwangeren dieser Stadt bekommen ihr Baby um drei Uhr morgens, nur um mich zu ärgern.«
»Natürlich, gib einfach den Babys die Schuld.«
»Gute Idee. Sie können sich noch nicht wehren.« Frazer nahm noch einen Schluck von ihrem Kaffee und musterte Cora, sodass sie sich etwas unsicher fühlte. »Alles in Ordnung?«
Warum fragte Frazer sie das? »Ja, mir geht’s gut. Toll. Also – wann hast du Zeit?«
»Morgen Abend?«
Morgen früh würde Alec zu seiner einwöchigen Konferenz fahren. Das passte gut zu ihren Plänen für den Abend. »Klingt super. Wo wollen wir hin?«
»The Scraped Goat
Cora starrte sie an. »Was?«
»The Scraped Goat
»Ich habe dich schon verstanden, ich meinte nur, das ist der Name einer Bar?«
»Ja, und einer guten noch dazu. Bist du dabei?«
Cora nickte. »Ich bin dabei – solange keine leibhaftige Ziege anwesend ist.«
Frazers Lachen war intensiv und warm, wie ein weiches Karamellbonbon, das langsam auf der Zunge schmolz. »Keine Ziegen. Die Bar liegt am Fluss, in der Nähe des Glockenturms. Gutes Bier – magst du Lager?«
»Natürlich. Ich habe während der Uni-Zeit in Fremantle gelebt.«
Frazer nickte und hob ihren Becher, als würde sie ihr zuprosten. »Hervorragend. The Scraped Goat , morgen. Sagen wir um neunzehn Uhr?«
»Passt mir.«
»Super. Ich kann dir dann detaillierter erzählen, wie Alec mir Hoffnung für unser Programm gemacht hat.«
Unser Programm? Ein unerklärliches warmes Gefühl breitete sich in Cora aus.
Das Letzte, was sie tun wollte, war, über Alec zu sprechen. Aber sie nickte und hoffte, dass es enthusiastisch wirkte.
Als Frazer ging, um Babys auf die Welt zu holen oder andere anzuweisen, es zu tun, wollte sich Cora selbst auf die Schulter klopfen. Schritt eins, um ihr Leben zu ändern – neue Freundinnen finden –, funktionierte gut. Jetzt war es an der Zeit, die nächsten Schritte ins Auge zu fassen.
Schritte, die sie schon so lange ignoriert hatte, dass sie ein Profi in puncto Verdrängung geworden war.
~ ~ ~
»Wo warst du?«
Der anklagende Blick, der diese Worte begleitete, hätte ein Kind dazu gebracht, sich in die Hose zu machen. Frazer verdrehte nur die Augen.
»Hi Jemma.« Als sie die Haustür öffnete, hielt sich Frazer vor Augen, dass sie ihre Schwester liebte, selbst als Jemma majestätisch an ihr vorbeischritt und ihr nicht allzu sanft den Ellbogen in die Seite stieß.
»Komm mir nicht mit Hi . Du warst wochenlang wie vom Erdboden verschluckt. Ich glaube, Mum war kurz davor, dich als vermisst zu melden.«
Als Frazer die Tür schloss, hatte es sich Jemma schon auf der Couch bequem gemacht und die Schuhe ausgezogen.
»Bitte, fühl dich wie zu Hause.«
»Oh, das tue ich. Hast du Bier?«
Frazer ergab sich ihrem Schicksal, holte zwei Flaschen Bier und schob die Beine ihrer Schwester zur Seite, um sich neben sie zu setzen. Manchmal war eine Schwester eher eine Bürde als ein Geschenk. Als ihre Eltern ihr damals erzählt hatten, dass sie noch ein Schwesterchen bekommt, hatte Frazer ihre Eltern so lange nur stumm angesehen, bis diese sich Sorgen gemacht haben. Dann hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und war wortlos gegangen. Frazer erinnerte sich nur noch an ein sehr intensives Gefühl von Missmut.
»Also, wie heißt sie?« Jemma wackelte mit den Augenbrauen und nahm einen Schluck aus ihrer Flasche
»Da ist niemand, Jemma.«
»Glaub ich dir nicht.«
»Okay.«
Gedanklich zählte Frazer bis fünf. Länger würde ihre Schwester das Schweigen nicht aushalten.
»Frazer! Warum bist du dann untergetaucht?«
Genau wie Frazer es vorhergesagt hatte.
Als Jemma jünger gewesen war, hatte sie es immer nur bis drei geschafft. Es war wirklich beeindruckend, dass ihre Schwester mit fünfundzwanzig jetzt ganze zwei Sekunden länger durchhielt. »Du weißt, dass Mum nur einen Tag ohne Kontakt aushält.«
»Ach, es scheint auch länger zu klappen, wenn ich eine Freundin habe, die sie nicht kennenlernen möchte.«
Dieses Mal antwortete Jemma mit Schweigen.
Seufzend ließ Frazer den Kopf auf die Rückenlehne der Couch sinken und biss sich auf die Lippe. »Entschuldige. Das war unangebracht.«
Jemma legte ihre Beine in Frazers Schoß. »Nicht wirklich. Du weißt, Mum ist einfach … traditionell. Aber sie liebt dich trotzdem. Und Dad auch.«
Sie saßen einen Augenblick schweigend nebeneinander und tranken ihr Bier. Das Ticken der Uhr hinter ihnen wirkte ungewöhnlich laut. Frazer wurde von der Kohlensäure in ihrem Bier ein wenig übel. Innerlich verpasste sie sich einen Tritt in den Hintern. Das war eine Sache, bei der sie einfach den Mund halten sollte. Ihre Mum bemühte sich, und ihr Dad versuchte dafür zu sorgen, dass sich ihre Mum mehr bemühte. Es war nicht Jemmas Schuld, dass ihre aus Südindien und Australien stammenden Eltern gewisse traditionelle Erwartungen und Vorstellungen hatten, die ihnen von ihren eigenen Eltern und Großeltern aufgezwungen worden waren.
Schließlich brach Jemma das unangenehme Schweigen. »Wie auch immer, hör auf, mit deinen vorgeschobenen Problemen von meiner eigentlichen Frage abzulenken.« Sie stupste Frazer mit ihrem Fuß an. »Wo warst du?«
»Nirgendwo, ich schwöre es. Ich war nur, na ja, beschäftigt . Ich habe wieder mit dem Schwimmen angefangen.«
»Wirklich? Also treibst du nicht mehr mit den Geriatrie-Patienten im Wasser herum, sondern schwimmst tatsächlich? So richtig mit Vorwärtsbewegung?«
Obwohl sie Jemma die Hälfte der Zeit über erwürgen wollte, war ihre Schwester zumindest witzig. Das musste sie zugeben. »Ja, genau.«
»Wow. Ich bin beeindruckt. Dann ist die eigentliche Frage: Was hat dich dazu gebracht? Ich habe letzte Woche zufällig Andy getroffen – du erinnerst dich an sie, oder? Seit der Uni deine beste Freundin? Ihr beide wart jahrelang wie siamesische Zwillinge? Ungefähr so groß?« Jemma hob die Hand so hoch, wie sie es von der Couch aus konnte. »Großartige Dreadlocks, und sie macht diese abgefahrenen Gemälde und traditionelle Kunst mit ihrem Cousin – du weißt schon, ihr Cousin Daniel, der mit deinem anderen Freund Rob zusammen ist? Die Andy?« Jemma ignorierte den bösen Blick, den Frazer ihr zuwarf. »Sie meinte, dass sie dich seit etwa drei Wochen nicht gesehen hat. Das heißt also, dass du nicht einmal ausgegangen bist.«
»Ich war beschäftigt.« Frazer nahm einen Schluck Bier und versuchte, den intensiven Blick ihrer Schwester zu ignorieren.
Mit einer abrupten Bewegung riss Jemma die Beine nach oben und stützte sich auf ihre Ellbogen auf, sodass sich Frazer um ein Haar einen Zahn an der Bierflasche ausgeschlagen hätte. »O mein Gott. Hat man dir das Herz gebrochen?«
»Was? Nein.«
»Aber sowas von. Hat jemand dein eiskaltes Herz gebrochen, große Schwester?«
Frazer piekte Jemma ins Bein und wünschte sich, sie hätte nie die Tür geöffnet. »Ernsthaft, ich hatte einfach viel zu tun.«
»Mhm. Nun, die gesellige Schwester, die ich kenne, trifft ihre Freunde mindestens ein paarmal die Woche. O mein Gott.« Jemma setzte sich vollständig auf und ihre Fersen drückten schmerzhaft auf Frazers Oberschenkel. »Bist du wieder in den Dating-Pool gehüpft und es ist schlimm ausgegangen?«
»Jemma, ich schwöre, du bist nicht zu alt dafür, als dass ich dir nicht den Hintern versohlen könnte.«
Jemma warf ihr einen bösen Blick zu und sah dabei wieder aus wie fünf. »Ich schwöre bei Gott, wenn du das jemals wieder machst, werde ich das Tagebuch, das du bei Mum gelassen hast, auf Facebook hochladen.«
Grinsend schüttelte Frazer den Kopf. »Nein, wirst du nicht. Ich habe es letztes Jahr verbrannt.«
»Oh, bitte, ich fälsche einfach eins. Ich kenne es sowieso auswendig.« Jemma räusperte sich, als wollte sie eine weltverändernde Rede halten. »Heute habe ich einen Film mit Drew Barrymore gesehen – ich glaube, dass mir der Typ hätte gefallen sollen, aber ich konnte nur an Drew denken  …«
Ein Kissen im Gesicht schnitt Jemma das Wort ab. Sie legte es sich auf ihren Bauch und sah mit der Bierflasche, die sie sicher in der anderen Hand hielt, sehr selbstzufrieden aus.
»So war das überhaupt nicht.« Selbst in ihren eigenen Ohren klang Frazers Stimme zu hoch.
»Doch, war es, Schwesterherz.«
»Es war Jodie Foster und nicht Drew Barrymore.«
»Das ist dasselbe.«
»Es ist nicht dasselbe.«
Jemma legte sich wieder hin und stellte sich die Flasche auf den Bauch. »Wie auch immer. Irgendetwas ist mit dir los.«
»Ist es nicht.«
»Doch, ist es, Schwesterherz.«
Das war mehr als nervtötend und Jemma stand kurz davor, aus dem Haus geworfen zu werden.
»Wie geht’s deinem Dozenten?«, fragte Frazer.
Frazer duckte sich, bevor das Kissen sie ins Gesicht traf.
~ ~ ~
Die Worte waren aus ihr herausgesprudelt wie Cola aus einer Flasche, die man zu lange geschüttelt hatte. Für Cora war der Morgen quälend langsam vergangen. Ihr Plan war es, Alec die Meinung zu sagen, wenn er nicht diskutieren konnte – nur wenige Minuten, bevor er das Haus verlassen musste, um sein Flugzeug zu erwischen.
Wenn es etwas gab, was Alec noch weniger ertragen konnte, als mit seiner Frau zu sprechen, war es, sich zu verspäten.
Danach hingen ihre Worte wie Nebel in der Luft. Es war unmöglich, sie wieder zurückzunehmen und zurück in ihre Kehle zu stopfen. Alec starrte sie mit blassem Gesicht an. Der Drang, einen Rückzieher zu machen, um diesen Ausdruck aus seinem Gesicht zu verbannen, bäumte sich groß und hässlich in ihr auf.
»Du willst was?« Seine Stimme klang zum Zerreißen angespannt.
»Ich will die Scheidung.«
Er blinzelte heftig. Seine Faust schloss sich fest um den Griff seines Koffers. Der Anzug, den er trug, lag so perfekt an seinem Körper an, dass sie tief in ihrem Bauch ein Ziehen verspürte. In diesem Moment sah er aus wie am Abend seines Uni-Abschlusses. Als sie ihm seine Krawatte gerichtet und er sie dafür geküsst hatte. Hatte sie sich damals schon so gefühlt? Dieses Gefühl gehabt, in eine Kiste gequetscht zu werden und langsam zu ersticken?
»Das meinst du nicht ernst, Cora.«
Aber sie tat es. Sie meinte jedes Wort ernst.
Ihr Herz schlug so heftig, dass sie Schwierigkeiten hatte, ihre eigenen Gedanken zu hören. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Neben ihr auf dem Kaminsims standen ihre Hochzeitsfotos aufgereiht, eine Marschformation ins Nirgendwo.
»Doch.«
»Das kannst du mir nicht antun.« Die Muskeln in seinem Kiefer spannten sich an.
Aber sie musste. Bevor es noch schlimmer wurde.
Sie hatte nicht kommen sehen, wohin ihr Weg sie geführt hatte, aber sie hatten ihre Ehe zu lange mit Füßen getreten. Sie hatten es versucht. Aber über die Jahre war sie Alec blind gefolgt und hatte nicht bemerkt, dass sein Weg verlangte, dass sie Dinge zurückließ, um mit ihm Schritt halten zu können. Wann hatte sie angefangen, nur noch das zu tun was er wollte und wann er es wollte, nur um ihn zu besänftigen? Wann hatte er aufgehört, ihr aufzuhelfen, wenn sie stolperte, und ihr stattdessen nur einen frustrierten, finsteren Blick zugeworfen, bis er sie schließlich überhaupt nicht mehr beachtete? Wann hatte er aufgehört, sie zu fragen, wie ihr Tag war? Und hatte er es je wirklich wissen wollen?
Wann hatte sie sich verändert, um sich ihm anzupassen?
Sie sah ihm in die Augen und atmete tief ein. »Ich kann.«
Seine Gesichtszüge wurden hart und er sah nicht mehr wie der junge Universitätsabsolvent aus. »Das wirst du nicht.«
Cora schluckte schwer. Der Drang, ihre Worte zurückzunehmen, schnürte ihr die Luft ab.
Vielleicht konnten sie ihre Ehe doch noch retten.
Ein Piepen. Er sah auf seine Uhr. »Ich muss los. Wir reden, wenn ich wieder da bin.«
Er drehte sich um und verließ das Haus, als wäre das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Die Tür schlug mit einem Knall zu und sie zuckte zusammen.
Die Uhr an der Wand hinter ihr tickte laut.
Das Pochen ihres Herzens raubte ihr den Atem und ihr wurde ein wenig schwindelig. Sie schlang ihre Arme um ihren Körper.
Cora hatte keine Ahnung, ob sie geschafft hatte, was sie wollte, oder nicht.
~ ~ ~
Cora war Frazers neue Freundin, und das war in Ordnung.
Mehr noch, es war toll.
Denn diese Frau brauchte ganz offensichtlich eine Freundin.
»Die Ehe, Frazer, ist eine bescheuerte Erfindung.«
Eindeutig.
Wenigstens konnte Cora heiraten. Frazer öffnete den Mund, um es auszusprechen, klappte ihn aber wieder zu. Es war keine hilfreiche Bemerkung und als Antwort ohnehin unnötig – Cora dachte sich nichts dabei. Hier ging es nicht um sie. Eine gute Freundin zu sein bedeutete, zuhören zu können.
»Wirklich bescheuert.«
Außerdem hatte Frazer den Eindruck, dass sie die Frau ihres Chefs abgefüllt hatte.
Schon wieder. Dabei hatten sie mit leichten Drinks angefangen. Frazer hatte festgestellt, dass, mit Cora befreundet zu sein gar nicht so kompliziert war, wie sie gedacht hatte. Es war allerdings offensichtlich, dass etwas mit Cora nicht stimmte. Sie nagte an ihrer Unterlippe und ihr Blick wanderte rastlos umher. Nach einem Pint Lager, das Cora beinahe in einem Schluck hinuntergestürzt hatte, war sie ein wenig ruhiger geworden Langsam hatte sich die Unterhaltung aufgebaut, und nach zwei weiteren Bier floss sie beinahe dahin.
Als sie in der Bar angekommen waren, waren die Tische draußen besetzt gewesen. Da sie nicht am Wasser sitzen konnten und sich dem kalten Wetter nicht ohne den Genuss einer tollen Aussicht aussetzen wollten, hatten sie sich drinnen in einer Sitzecke niedergelassen. Die Bar war sehr gut gewählt, mit dunkelrotem, poliertem Holz, gemütlich und warm. Irgendwann waren Coras Wangen ein wenig rot geworden vor Wärme oder vom Alkohol. Eine schwache Röte, die ihre Wangenknochen betonte.
Ja, Cora war attraktiv, aber sie war auch witzig, und wenn sie nicht gerade merkwürdig gestimmt war, konnte man gut mit ihr reden. Frazer war nicht auf der Suche nach einer neuen Freundin gewesen – ihr Bedarf war durch ihre wenigen Freundinnen und Freunde gedeckt und sie fand große Menschenmengen anstrengend. Wenn sie ausging, dann am liebsten in einer kleinen Gruppe, in der sich alle kannten, gern miteinander tranken und Party machten, aber auch ebenso gern einfach nur herumsaßen und sich gegenseitig ein Ohr abquatschten.
Aber vielleicht war eine neue Freundin eine gute Idee. Jemand von der Arbeit, mit der sie sich bei einem Drink entspannen und über die Klinik lästern konnte. Andy und Rob arbeiteten beide in der freien Wirtschaft, und als sie einen Abend lang über Australiens offenbar kränkelnde Ökonomie gesprochen hatten, hatte Frazer angefangen, von einem Vaginalriss zu erzählen, der so schlimm war, dass er operiert werden musste. Sie hatten den Wink verstanden, und fortan nicht mehr über die Arbeit gesprochen.
Wenn sich Cora über ihre Ehe auslassen wollte, konnte sie das ruhig tun. Bei der Arbeit würde Frazer einfach so tun, als würden sie nicht über Alec sprechen. Sie würde sich vorstellen, dass Alec irgendein Typ wäre du nicht ihr Boss. Als hätte er nichts mit dem Mann zu tun, über den Cora sprach.
»Es ist eine bescheuerte Idee«, sagte Frazer.
Coras Augen leuchteten kurz auf, bevor sie sie zu misstrauischen Schlitzen verengte. »Du machst dich über mich lustig.«
Vielleicht ein wenig. Aber Pärchen taten das die ganze Zeit. Sie hassten ihre Ehe, dann liebten sie sie wieder. Alle Ehen hatten Höhen und Tiefen. »Nur über den Teil, bei dem du wie ein Teenager geklungen hast.«
Die Tür ging auf und aus irgendeinem Grund sah Frazer auf. Wahrscheinlich klappte ihr Mund auf. Einen Augenblick lang blieb die Zeit stehen.
»Frazer?«
Sie konnte Coras Blick auf sich spüren und hörte den fragenden Unterton in ihrer Stimme. Aber Frazer starrte noch immer auf die Gruppe, die gerade hereingekommen war, und wünschte sich, der Erdboden würde sie verschlucken. Ihr Mund war plötzlich seltsam trocken und sie leckte sich über die Lippen.
»Frazer!«
Frazer riss ihren Blick von der Gruppe los und versuchte, Cora anzulächeln. Sie war sich fast sicher, dass sie aussah, als hätte sie Verstopfung.
»Was ist los?« Cora sah sich mit gerunzelter Stirn um. Aber sie schien nichts Außergewöhnliches zu bemerken.
»Können wir gehen?«, fragte Frazer.
Sie wartete nicht auf eine Antwort. Der Grund für den plötzlichen Aufbruch kam vom anderen Ende des Raums auf sie zu. Cora sah Frazer an, als hätte sie keine Ahnung, was los war, und das war wahrscheinlich auch der Fall. Frazer griff sich Coras Hand und zog sie vom Sitz und zerrte sie durch die Menge Richtung Ausgang.
»Frazer, wir haben nicht mal ausgetrunken.«
»Die Drinks waren sowieso überteuert.«
Sie waren fast an der Tür.
»Ist das nicht ein Grund mehr, sie auch tatsächlich zu trinken?«
Sie hatten es fast nach draußen geschafft. Hoffentlich konnten sie hinausgehen, bevor –
»Frazer, hi.«
Sie stand genau der einen Person gegenüber, der sie entkommen wollte. Frazer schloss einen Moment lang die Augen. Natürlich konnte sie nicht einfach flüchten. Warum war Naomi überhaupt hier? Sie hatte sich versetzen lassen, nachdem sie Frazers Leben zerschlagen und ihr Vertrauen in die Menschheit zerstört hatte.
Vielleicht wurde Frazer bei Naomi ein wenig zur Dramaqueen. Vielleicht.
Sie öffnete die Augen. Zwang sich zu einem Lächeln. Es war schwerer, als es sein sollte. Sie war schon lange kein Wrack mehr, aber ihre Ex zu sehen brachte ungewollte Gefühle von allgemeiner Widerwärtigkeit mit sich.
»Hi Naomi.«
Einen Augenblick lang sahen sie einander an. Frazer blinzelte.
»Wie geht’s dir?«, fragte Naomi.
Frazer hätte am liebsten geseufzt. Musste das wirklich sein? »Sehr gut. Und dir?«
»Auch gut.« Wie schön für sie. »Ich habe gehört, dass du dein kleines Projekt in Gang gesetzt hast. Das ist fantastisch.«
Frazer hatte das Gefühl, unebenes Gelände zu betreten. War dieses klein herablassend gemeint oder hatte sie es ganz unschuldig gesagt? Naomi schien nie herablassend gewesen zu sein. Aber es hatte eine Zeit gegeben, in der Frazer auch nicht geglaubt hatte, dass sie sie einfach verlassen würde. Außerdem war es ein gutes Zeichen, wenn Leute von ihrem Programm hörten. Frazers Begeisterung wurde von ihrer Panik überschattet, die dafür gesorgt hatte, dass sie immer noch Coras Hand hielt.
Frazer versuchte freundlich zu nicken. »Ja, hoffentlich.«
Sie konnte förmlich spüren , wie Cora hinter ihr die Unterhaltung verfolgte.
»Das ist großartig. Schön für dich.«
»Danke.« War es zu unhöflich, einfach zu gehen? »Ich habe gehört, du bist, ähm …« Frazer hatte nichts gehört. Und wollte es auch nicht. »Bist du immer noch im Krankenhaus draußen in diesem Vorort Richtung Osten?«
Naomi nickte. »Ja, bin ich. Mit Bee.«
Wie schön. Sie waren immer noch zusammen. »Das ist toll.«
Sie standen eine Minute da und ein unangenehmes Schweigen, das sich mit jeder Sekunde schwerer anfühlte, legte sich über sie. Naomi trat von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht hatte sie endlich erkannt, dass es besser gewesen wäre so zu tun, als hätte sie Frazer nicht gesehen.
»Toll«, sagte Frazer. »Also, es war schön , dich zu sehen. Pass auf dich auf.«
Pass auf dich auf?
Mit diesen Worten verließ Frazer die Bar, wobei sie Cora immer noch hinter sich herzog. Sie war erleichtert, als sich die Tür hinter ihnen schloss. Frazer ließ Coras Hand schließlich los, als ihr klar wurde, dass sie dies noch nicht getan hatte. Ihre Wangen brannten vor Scham. Sie war so panisch gewesen, dass sie sich an die Hand ihrer Freundin geklammert hatte. Wie erwachsen.
Die Luft war kühl und das Dämmerlicht milchig blau. Alles roch frisch und sauber, während späte Jogger am Fluss entlangliefen. Frazers Finger fühlten sich in der Brise etwas klamm an.
Sie grinste Cora an. Es tat nur ein bisschen weh. »Also – andere Bar?«
Cora schüttelte den Kopf und hob fragend die Augenbrauen. »Glaub bloß nicht, dass du damit einfach so davonkommst. Was zum Teufel war das
Mit hängenden Schultern schraubte Frazer ihr Grinsen auf das Normalmaß zurück. »Ich hatte schon befürchtet, dass du mir das nicht durchgehen lässt.«
»Alte Hebammen-Rivalin? Ein Highschool-Streit, den du nie überwunden hast?« Cora verzog den Mund, während sie über mögliche Gründe nachdachte. »Ah, ich weiß. Sie hat dich verflucht, als du ein Kind warst, und deshalb bist du so sarkastisch und kratzbürstig. Du verheimlichst die Tatsache, dass du eigentlich schon neunhundert Jahre alt bist.«
Frazer konnte schwören, dass sie Grillen zirpen hörte, während sie Cora anstarrte. »Was?«
Schulterzuckend sagte Cora: »Keine Ahnung. Ich bin wahnsinnig schlecht im Raten.«
Jetzt musste Frazer aufrichtig grinsen. Dieses Lächeln verschreckte zumindest keine kleinen Kinder. Und sie musste die Situation tatsächlich aufklären. »Das war die Ex.«
»Oh.« Ein Ausdruck, den Frazer nicht deuten konnte, huschte über Coras Gesicht. »Tja, ich lag ziemlich daneben.« Einen Moment schwiegen sie. »Sie war so wichtig, dass du einen bestimmten Artikel vor das Wort Ex gesetzt hast?«
Frazer musste lachen. »Wir haben doch alle jemanden von dieser Sorte, oder nicht?«
»Ich nicht.«
»Ernsthaft?« Frazer verzog das Gesicht. »Jetzt fühle ich mich minderwertig.«
Sie gingen los, den Fluss zu ihrer Rechten, und vergruben ihre Hände in den Taschen, um sie vor der Kälte zu schützen.
»Kein Grund, sich minderwertig zu fühlen. Ich glaube, der Großteil von euch Sterblichen hat den oder die Ex«, sagte Cora leise.
Der Wind blies über das Wasser, das nun im verblassenden Licht schwarz schimmerte. Die Straßenlaternen gingen an und das entfernte Geräusch des Verkehrs mischte sich unter das Plätschern des Flusses, der an seine Ufer schlug.
Frazer schob die Hände tiefer in die Taschen. Sie stieß Cora mit der Schulter an. »Sterbliche?«
»Na ja, es kann nicht jeder so perfekt sein wie ich.«
Der Sarkasmus in ihrer Stimme war köstlich.
»Ja, wir alle verneigen uns vor deiner Göttlichkeit.«
»Gut.« Cora nickte ernst.
Frazer atmete tief ein. »Es war nicht mal eine schreckliche Trennung, es hat mich einfach nur überrumpelt.«
Frazer hasste es, darüber zu sprechen. Jedes Mal, wenn sie es tat, selbst Jahre später, breitete sich dieses Ziehen in ihrem Bauch aus. Sie zog es vor, ihrer Ex-Freundin einfach nicht zu begegnen.
»Keine Vorwarnung?«
»Ich weiß, das denken viele Menschen, aber es gab wirklich keine. Zumindest ist mir keine aufgefallen. Ich dachte, wir wären großartig zusammen. Ich war definitiv glücklich.«
»Und dann?«
»Und dann hat sie mir gesagt, dass sie jemanden kennengelernt hat.« Frazers Stimme klang angespannt und sie räusperte sich. Sie hoffte, ihr Körper würde sie nicht verraten. »Sie hat mich nicht betrogen. Nur jemanden getroffen, der ihr klar gemacht hat, dass sie mehr will.«
Das Gefühl von Unzulänglichkeit war immer noch scharf und schneidend.
»Tja, sie ist eine Idiotin. Wer trägt solche Schuhe zu so einer Jeans? Ganz klar eine Idiotin.«
Frazer lachte leise. »Ganz klar.« Das Unbehagen in ihrem Bauch verschwand.
»Hast du hier schon mal Delfine gesehen?«
Frazer richtete ihren Blick aufs Wasser und blinzelte über den plötzlichen Themenwechsel, war aber zu dankbar, um ihn weiter zu hinterfragen. »Wieder einmal bin ich nur eine einfache Sterbliche und hatte noch nicht das Glück.«
Coras Zähne blitzten ihr weiß entgegen. »Das ist schade – ich habe letztens einen Baby-Delfin gesehen, als ich mit meiner Freundin Lisa hier war. Er schwamm nur ein paar Meter vom Ufer entfernt.«
»Du Glückliche.«
Sie verfielen in Schweigen und schlenderten langsam den Fluss entlang. Der Bierrausch war bereits verflogen. Frazers geballte Fäuste entspannten sich und ihre Nägel gruben sich nicht länger in ihre Handflächen. Ihre Ex war niemand, die sie wiedersehen wollte. Jemals. Aber im Moment schmerzte es weitaus weniger als sonst. Vielleicht hatte die Zeit endlich ihre Pflicht getan.
»Also«, drang Coras Stimme in ihre Gedanken ein, »wann ist dir klar geworden, dass du lesbisch bist?«
Frazer lachte.
~ ~ ~
Auch am dritten Abend seiner Abwesenheit hatte Alec Cora noch keine Nachricht geschickt. Im Gegenzug hatte sie es auch nicht getan. Das war seine Strategie. Sie auf die Folter zu spannen, bis sie einknickte – und zu ihm zurückkroch, damit er ihr die Schuld an allem geben konnte. Dieses Mal sollte er spüren, dass sie es ernst meinte.
Sie musste raus und sich ablenken.
»Cora, was ist mit dir los?«
Unter dem Tisch stieß Lisa sie sanft mit dem Fuß an.
»Entschuldige.« Cora hob den Blick und erschrak ein wenig, als sie das Mitgefühl in Lisas Augen erkannte. »Ich habe nachgedacht.«
»Das war offensichtlich.« Lisa kaute langsam und ließ Cora nicht aus den Augen. »Sprich mit mir.«
Cora winkte ab. »Bei dir ist schon genug los.« Vielleicht hätte sie dem Mittagessen nicht zustimmen sollen. Für ihre beste Freundin war sie ein offenes Buch.
Aus irgendeinem Grund fühlte es sich anders an, mit Frazer trinken zu gehen. Sie hatten keine gemeinsame Vergangenheit und es war leichter, nicht zu reden, wenn sie nicht wollte. Frazer hatte keine vorgefasste Meinung von ihr. Manchmal war es einfacher, mit jemand neuem die zu sein, die man sein wollte.
»Ganz genau. Deshalb musst du mich mit deinem Kram ablenken.«
Cora ließ ihren Blick durch den Diner wandern. Sie fragte sich, warum sie kein anderes Restaurant gewählt hatte. Früher waren sie und Alec in ihren Mittagspausen oft hierhergekommen. Das Diner war alt, der Linoleumboden hatte überall Risse. Wasserflecken zierten die Tische und der Geruch eines Ortes, an dem die Leute einmal geraucht hatten, lag immer noch in der Luft. Aber die Sandwiches waren die besten in Perth und man bekam als Krankenhausmitarbeiter sogar Rabatt.
»Cora.«
Sie zwang sich, Lisa in die Augen zu sehen. »Ja?«
»Raus mit der Sprache.«
»Ich habe Alec gesagt, dass ich die Scheidung will.«
»Schon wieder?«
Cora antwortete mit einem Nicken. »Schon wieder. Aber dieses Mal meine ich es ernst.«
»Hat er das verstanden?«
»Nein. Aber ich bleibe dabei. Er sagte, dass wir darüber reden, wenn er zurückkommt, als wäre meine Entscheidung verhandelbar.«
Einen Moment lang sagte Lisa nichts. Als sie schließlich antwortete, waren ihre Worte wohl überlegt. »Ich hoffe sehr, dass du es ernst meinst.«
Cora sah sie überrascht an. »Du … du hoffst es?«
Lisas Worte waren ein Geschenk, das sich warm auf Coras Brust legte und ihre Unsicherheit bändigte. »Du bist schon seit langer Zeit nicht mehr du selbst.«
Sie widmeten sich wieder ihren Sandwiches. Cora biss ein großes Stück ab und das Essen schmeckte auf einmal besser als vorher.
»Lass nicht zu, dass er sich in deinem Kopf einnistet, Cora.«
Cora sah ruckartig auf. »Was meinst du?«
Lisa strich mit den Fingerspitzen über ihr Handgelenk und seufzte. »Jedes Mal, wenn ihr streitet, bist du zunächst wütend, aber wenn ich dann das nächste Mal mit dir spreche, glaubst du plötzlich, es sei deine Schuld gewesen.«
»Das … das stimmt nicht.« Coras Fingerspitzen fühlten sich wie Eis an.
»Manchmal schon. Es sei denn, es ist etwas, von dem er weiß, dass er es nicht verdrehen kann. Dann sorgt er dafür, dass du Mitleid mit ihm hast.«
»Ich …« Cora wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Wie sie sich der Tatsache stellen sollte, dass die Wahrheit in Lisas Worten sich wie ein Splitter in Cora bohrte und sie nach Atem ringen ließ.
»Was wirst du tun?«, fragte Lisa und zog ihre Hand zurück.
Cora überspielte ihre fehlende Planung, indem sie einen großen Schluck Wasser trank. »Ich weiß es nicht. Ich … ich will nur einfach dranbleiben. Ich brauche Ablenkung.« Ihre Gedanken wanderten zu Frazer.
Lisas Augen blitzten auf. »Du brauchst einen Toyboy.«
Cora riss die Augen auf und ihr Gesicht wurde heiß. »Entschuldige, was hast du gerade gesagt?«
»Einen Toyboy. Jemand, der jung ist und dich ein wenig ablenkt. Ich meine natürlich nur zum Gucken. Deine Ehe ist schließlich noch nicht ganz abgehakt. Aber das wäre vielleicht ein Anreiz, damit du das Ziel im Auge behältst.«
Cora konnte sie nur anstarren.
»Das Ziel ist die Freiheit«, sagte Lisa, als wäre das der Teil, der Cora verwirrte.
»Das habe ich verstanden, danke Lisa.« Noch immer lag der verschmitzte Glanz in den Augen ihrer Freundin. »Was hast du mit meiner besten Freundin gemacht?«
»Ach komm schon. Du warst immer so brav . Hast immer gelernt, deinen Freund von der Uni geheiratet – hast du überhaupt keinen Nachholbedarf?«
»Was sollte ich nachholen, hm?« Cora beugte sich vor. »Was hast du denn gemacht, während ich wie eine Verrückte gelernt habe?«
»Verrate ich nicht.«
»Lisa.« Coras Stimme hatte definitiv etwas Flehendes. »Sag’s mir.«
»Nur ein paar Partys. Hab ein paar Fehler gemacht, die ich nicht bereue.«
»Das«, sagte Cora langsam, »sagt mir gar nichts.«
»Stimmt.« Das Grinsen auf Lisas Gesicht wurde breiter. »O Cora. Ich habe einfach – manchmal nicht nachgedacht. Ich habe Dinge getan und daraus gelernt. Hab wahrscheinlich mit zu vielen Kerlen geschlafen. Kokain probiert.«
Cora klappte der Mund auf. »Echt?«
An der Uni war Cora keine Nonne gewesen. Sie war ausgegangen und hatte Alkohol getrunken. Aber sie hatte ihre Grenzen nicht ausgetestet. Es war nichts, was sie gereizt hatte. Außerdem hatte Alec sie auf Partys begleitet und sie dazu gebracht, Verabredungen abzusagen, um bei ihm zu sein.
»Ja. Und es war eine dumme Idee. Aber, weißt du, ich wollte es mal ausprobieren.«
Da war noch mehr, das Lisa ihr nicht verriet. Sie konnte es in ihren Augen sehen. »Lisa, was noch?«
Aus irgendeinem Grund schlug Coras Herz wie wild.
»Ich habe mit meiner Mitbewohnerin geschlafen.«
Cora war nicht prüde – sie hatte während der Uni vielleicht nicht so viel Spaß gehabt wie Lisa, aber Sex war nichts, wofür sie sich schämte. Warum wurden ihre Wangen dann jetzt noch heißer? »Moment. Mitbewohnerin . Du hast mit einer Frau geschlafen?«
Das teuflische Grinsen war wieder da. »O ja, das habe ich.«
»War … war es gut?«
Warum interessierte sie das?
Lisas Schulterzucken stillte ihre Neugier überhaupt nicht. »Es war eine Erfahrung – es ist ein paarmal nach Partys passiert.«
»Und?«
»Cora, finde es selbst heraus!«
Der Drang zu erwähnen, dass ihre neue Freundin eine Lesbe war, wuchs. Cora schluckte ihn mit etwas Wasser hinunter. »Ich stehe auf Männer«, sagte sie stattdessen.
»Ja, das weiß ich. Ich auch. Dann such dir stattdessen einen Toyboy. Ich erzähle dir das alles, weil du dir mal ein bisschen Spaß gönnen musst. Besuch meinetwegen einen Yogakurs – es ist mir wirklich egal, aber tu einfach etwas für dich.«
Cora öffnete den Mund, um zu sagen, was sie tun wollte, schloss in aber unverrichteter Dinge wieder. Sie wusste es einfach nicht. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf, als ihr klar wurde, dass sie schon viel zu lange nicht mehr über Dinge nachgedacht hatte, die sie für sich selbst tun konnte. Sie fühlte sich innerlich leer. Was war mit der Liste an Dingen geschehen, die sie einmal machen wollte? Sie war lang und voller fantasievoller Ideen gewesen. Orte, die sie bereisen, und Dinge, die sie erleben wollte.
Lisas Blick lag beschwörend auf ihr, selbst als sie sah, dass Cora nach Worten rang.
Cora nickte schließlich. »Okay.«
Lisas Mundwinkel hoben sich. »Gut.«
»Vielleicht werde ich mit Haien schwimmen.«
Lisa lachte schallend. »Oder du probierst es mit Klippenspringen.«
»Kugelfisch essen.«
»Parkour.«
»Fallschirmspringen.« Cora fühlte sich jetzt leichter.
»Oder du triffst dich öfter mit deinen Freundinnen.« Lisa zwinkerte ihr zu und griff nach der Tomatensoße. »Was auch immer.«