Kapitel 9
Frazer tat es nicht leid?
Was zur Hölle sollte das heißen? Die vergangenen zwei Tage war Frazer ihr ausgewichen. Also tat es ihr sehr wohl leid. Zu Recht. Cora tat es auch leid; es war alles ein kolossaler Fehler gewesen.
Als sie die Nachricht zum zehnten Mal an diesem Morgen las, fiel Cora endlich die Uhrzeit auf. 03:14.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Frazer hatte ihr betrunken eine Textnachricht geschrieben. Cora atmete langsam aus und schob das Handy zurück in ihre Tasche. Frazer hatte es sicher nicht so gemeint; es sei denn, sie hatte es doch.
Eine Krankenschwester steckte den Kopf in ihr Büro. »Hey Cora, hast du mal eine Minute?«
Sie schloss die Patientenakte vor sich und wandte sich ihrem Besuch zu. Sie würde alles tun, um sich von ihrem Schlamassel abzulenken. »Sicher, was gibt’s Jess?«
Jess war eine von den vielen neuen Krankenschwestern, die gerade erst ihren Abschluss gemacht hatten. Aber da Cora häufiger auf ihrer Station unterwegs war, machte sie sich die Mühe, die Namen der Schwestern schnell zu lernen. Auf der Station lagen viele ältere Menschen, die ins Pflegeheim überwiesen werden mussten und Hilfe mit den offiziellen Dokumenten oder Papieren brauchten. Cora unterstützte sie dabei so gut es ging, von Unterschriften und Beglaubigungen von Testamenten bis hin zu den wirklich unangenehmen und wichtigen Dingen. Sie war zu oft diejenige, die eine Hand hielt, während sie der Person sagen musste, dass sie nicht wieder in ihr eigenes Zuhause zurückkonnte.
»Mr Sodhis Familie ist hier. Sie wollen wissen, was es für Optionen gibt.«
Cora hatte erst gestern empfohlen, Mr Sodhi in ein Pflegeheim zu überweisen. Er konnte sich auf keinen Fall noch länger alleine versorgen. Seine Frau war vor zehn Jahren verstorben und er hatte seit seinem letzten Krankenhausaufenthalt fünfzehn Kilo abgenommen. Nach einer stundenlangen Diskussion hatte er zugegeben, dass er seiner Familie keine Bürde sein wollte und sich deshalb hauptsächlich von Dosentomaten ernährt und seine Prellungen von den ständigen Stürzen versteckt hatte
Wieder einmal war Cora entsetzt vom Leben gewesen.
Sie folgte Jess nach draußen. Am Ende des Flurs standen drei Männer mittleren Alters und beobachteten Jess angespannt. Nachdem sie sich einander vorgestellt hatten, gingen sie mit den drei Söhnen von Mr Sodhi in einen Raum, der genau für Momente wie diese geschaffen worden war, schmucklos und ziemlich deprimierend eingerichtet. Von dem entmutigenden Gemälde einer Küstenlandschaft an der Wand gab es im Krankenhaus noch etwa zehn weitere Kopien.
»Also.« Cora lächelte sie an, sanft und nicht zu fröhlich. Ein Lächeln, das die Menschen beruhigte, Cora in der Situation, die alles andere als fröhlich war, aber nicht schnippisch oder zu heiter wirken ließ. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Zwei der Männer sahen den dritten Sohn an, der sich als Raj vorgestellt hatte. »Wir haben gehört, dass es unserem Vater schlechter geht als wir wussten?«
Cora nickte. »Ja, er hat viel Gewicht verloren und fällt ständig hin. Ich fürchte, dass es an der Zeit ist, ihn in ein Pflegeheim zu überweisen. Dort bekommt er die Pflege, die er …«
»Auf gar keinen Fall.«
Cora verstummte überrascht. »Wie bitte?«
»Unser Vater wird nicht von Fremden gepflegt.« Dunkelbraune, ernste Augen starrten sie unter zusammengezogenen Augenbrauen an. »Auf gar keinen Fall.«
»Nun, es gibt auch andere Optionen.« Cora sah zwischen den Männern hin und her.
Der am jüngsten aussehende Bruder ergriff das Wort. »Natürlich gibt es die. Er wird bei mir und meiner Frau leben.«
Cora lächelte diesmal aufrichtig.
Der mittlere Sohn beugte sich etwas vor. »Unser Vater ist stur. Wir wussten nicht, wie schlimm es ist – aber er wird bei seiner Familie immer ein Zuhause haben. Wir kümmern uns um ihn.«
Manchmal liebte Cora ihren Job. »Wunderbar. Dann lassen Sie uns die Formalitäten erledigen, damit sie etwas Unterstützung bekommen.«
Als sie den Raum zwanzig Minuten später verließ, fühlte sich Cora anders, als es nach dieser Art von Treffen häufig der Fall war.
Das Vibrieren ihres Handys in ihrer Tasche lenkte sie ab. Die eine Sekunde, die sie brauchte, um es herauszuziehen, reichte, um das wundervolle Gefühl vollständig verschwinden zu lassen. Sie musste in zehn Minuten bei der Paartherapie sein.
Alec hatte in den Tagen nach seiner Rückkehr viel gearbeitet, um alles aufzuholen, was er verpasst hatte. Wenn sich spät abends die Matratze neben ihr senkte, konnte sie erleichtert so tun, als würde sie schon schlafen. Sobald sie an seiner schweren Atmung hörte, dass er eingeschlafen war, blinzelte sie die dunklen Wände an, während sich ein Gefühlschaos in ihrem Inneren breitmachte.
Die Therapeutin hatte ihre Praxis nicht weit vom Krankenhaus entfernt. Sie konnten zu Fuß hingehen. Cora kannte die Frau glücklicherweise nicht und würde ihr außerhalb ihrer Sitzungen wahrscheinlich auch nicht über den Weg laufen. Alec hatte auf die räumliche Nähe zum Krankenhaus bestanden, weil er keine Zeit hatte, während des Tages eine weitere Strecke zurückzulegen. Cora hatte ein wenig im Internet recherchiert. Angeblich war die Therapeutin eine der Besten.
Sie hatte jedenfalls drei Bücher geschrieben. Und zu viele Artikel, um sie zu zählen. Wenn jemand Cora helfen konnte, ihre Ehe zu retten, war es diese Frau.
Vielleicht würde sie Cora einfach nur ansehen und sofort wissen, was sie getan hatte. Dr. Massey hatte wahrscheinlich schon hunderte Fremdgeher gesehen.
Ihr wurde plötzlich wieder übel und sie schaffte es gerade noch rechtzeitig zu den Toiletten. Glücklicherweise war der Raum leer. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, waren Gerüchte über eine Schwangerschaft.
Zehn Minuten später ging Cora die Straße hinunter und beobachtete, wie die dunklen Wolken aufbrachen und ein paar wenige Sonnenstrahlen hindurchließen. Es sah gespenstisch aus. Als sie bei der Praxis der Therapeutin ankam, war sie dankbar, dem seltsamen Wetter draußen entkommen zu sein. Im Wartezimmer versuchte Cora ihren rebellierenden Magen im Zaum zu halten. Wenigstens hatte sie, dank einer geklauten Zahnbürste aus dem Schwesternzimmer, noch ihre Zähne putzen können. Die Praxis war nichtssagend. Es gab nicht mal Motivationsposter an der Wand. Es wirkte alles ein wenig … einfallslos. Die Wände waren in Krankenhausweiß gehalten. Punkt fünfzehn Uhr öffnete sich die Tür und Coras Herz, das endlich angefangen hatte, sich zu beruhigen, schlug ihr wieder bis zum Hals. Sie versuchte, es zu ignorieren.
Ihre Therapeutin – Cora wusste nicht, warum sie innerlich bei diesem Wort zusammenzuckte – lächelte. Es war das gleiche Lächeln, dass Cora manchmal ihren Patienten schenkte. O Gott, Cora war die Patientin. Die Patientin von jemandem mit einer perfekten weißen Zahnreihe und makellos frisierten Haaren. Obwohl Dr. Massey zwei Personen erwartet haben musste, schließlich war das hier eine Paartherapie, wich ihr Blick nicht von Cora ab.
»Alec verspätet sich also etwas?«
In diesem Moment fiel Cora ein, dass diese Frau Alec bereits kannte. Oder zumindest schon einmal mit ihm gesprochen hatte. Wahrscheinlich eher letzteres, da Alec nie zu jemandem gehen würde, den er privat kannte. Das wäre von Dr. Massey auch gravierend unethisch.
»Ich fürchte schon.« Cora strich den Rock über ihren Beinen glatt. »Aber ich bin sicher, dass er jede Minute hier sein wird.«
»Kein Problem. Möchten Sie reinkommen?«
Nein.
»Sicher.« Cora lächelte ebenfalls, weil sie ein genauso freundlich professionelles Fake-Lächeln aufsetzten konnte, und stand auf.
Das einzige, was noch schlimmer sein könnte, als mit Alec und einer Therapeutin zusammenzusitzen, war, mit eben jener Therapeutin allein festzusitzen. Bevor Cora noch etwas sagen konnte, kam Alec herein. Er trug einen Anzug und wirkte ruhig und gefasst.
»Entschuldigen Sie die Verspätung.«
Dr. Massey lächelte wieder höchst professionell. Es schien ihr so leicht zu fallen. Offenbar viel leichter als Cora. Obwohl sie es auch jeden Tag tun musste. Als Sozialarbeiterin vermutlich sogar öfter. Allein der Gedanke ermüdete Cora.
»Kein Problem, Alec. Folgen Sie mir.«
Alec ging voraus, als sie hinter der Therapeutin einen Raum betraten, in dem wahrscheinlich schon mehr Ehen zerbrochen waren als in der Bar die Straße runter.
~ ~ ~
Wenn sie nicht zumindest versuchen würden, ihre Ehe zu retten, würde sich Cora immer fragen, ob der Seitensprung schuld an ihrem Scheitern gewesen war. Deshalb saßen Alec und Cora jetzt zusammen auf einer Couch und wurden von einer Frau gemustert, die sie zwar nicht kannte, die ihnen aber anscheinend dabei helfen konnte, alles wieder ins Lot zu bringen.
Dieses erdrückende Gefühl, dass Cora schon seit Tagen umgab, wurde immer schlimmer.
Das Licht flackerte seltsam. Draußen zog anscheinend ein Gewitter auf.
Dr. Massey betrachtete sie mit einem beunruhigend neutralen Gesichtsausdruck.
Sie stellte zuerst sich vor und dann waren Alec und Cora an der Reihe. Nachdem sie sich eine ziemlich lange Zeit mit der Verschwiegenheitsklausel beschäftigt hatten – das war rechtlich wohl notwendig – wurden sie gefragt, was sie sich von der Therapie erhofften.
Die Kluft zwischen Alec und Cora auf der Couch ähnelte der, die Cora aus ihrem Ehebett kannte. Diese hier konnte aber nicht so leicht mit Alltagsdingen überspielt werden. Dafür war dieser Raum gedacht. Um herauszufinden, ob Worte eine Brücke zwischen ihnen bilden konnten, um diese Kluft zu überwinden.
Vielleicht waren all ihre Worte zu leicht, voller Falschheit, Wut und Verbitterung. Dann würde die Brücke einstürzen, wenn sie auch nur einen Fuß daraufsetzten.
Warum hatte sie das Gefühl, dass sie immer diejenige sein musste, die die Kluft überquerte? Warum hatte sie nie das Gefühl, dass er den Weg zu ihr zurücklegte? Oder dass sie sich in der Mitte trafen?
Weil du fremdgegangen bist. Du hast mit jemand anderem geschlafen .
Die Stimme klang erschreckend nach ihrer Mutter.
»Also. Warum sind sie hier?«
Cora sah zu Alec. Der Dr. Massey anstarrte.
Er räusperte sich, wie er es in einem Meeting tun würde. »Wir müssen wieder auf Kurs kommen.«
Es war eine gute Antwort, solide – besser als das, was Cora eingefallen wäre.
Sie sah wieder zu Dr. Massey, die nickte. »Okay. Gut. Was ist falsch an Ihrem Kurs?«
Gute Frage. Es wäre wohl einfacher zu sagen, was an ihrem Kurs richtig war. Cora sah wieder zu Alec. Sie wollte wirklich wissen, was er über all das dachte. Sie wollte hören, ob er seine Meinung geändert hatte oder ob er wirklich glaubte, was er ihr im Streit in seiner passiv-aggressiven Art und Weise immer wieder zugezischt und getextet hatte.
»Wir scheinen keine Unterhaltung mehr führen zu können, ohne wütend aufeinander zu werden. Wenn es uns doch mal gelingt, in einem Gespräch nicht zu schreien, geht Cora immer einfach mittendrin, anstatt die Unterhaltung zu beenden.«
Cora fühlte, dass sie rot wurde. Sie sah kurz zu Boden, atmete einmal tief durch und hob dann wieder ihren Blick. Dr. Massey musterte sie stumm. Cora ärgerte Alecs Kommentar so sehr. Er war doch oft derjenige, der einfach ging, wenn Cora mit ihren Worten zu nah an der Wahrheit war.
»Okay.« Dr. Massey sah zwischen ihnen hin und her. »Fangen wir anders an: Wo haben Sie sich kennengelernt?«
»An der Universität«, antwortete Alec.
»Schön. Und Cora, wie alt waren Sie da?«
»Achtzehn.« Cora versuchte selbstbewusst zu klingen.
»Was ist Ihnen an Alec als Erstes aufgefallen?«
Alec sah zu ihr.
»Seine Haare.«
Dr. Massey lachte leise und wandte sich an Alec. »Und Ihnen, Alec?«
»Ihre Augen.«
»Und was hat Sie beide zusammengeführt?«
Diese Reise in die Vergangenheit versprach anstrengend zu werden.
Sie sprachen über Dinge, die für Cora schmerzhaft waren. Dr. Massey erklärte, dass sie sie zunächst kennenlernen wollte und sie größtenteils nur mit ihr sprechen würden. Danach würde sie in den nächsten Sitzungen dann Gespräche zwischen ihnen beiden anregen. Also erzählten sie ihr vom Beginn ihrer Beziehung und warum sie geheiratet hatten. In Cora blieb ein Gefühl der Leere zurück. Die Antwort, weil ich schwanger war , fühlte sich bedeutungslos und unreif an. Wie konnte das ein Grund zum Heiraten sein? Oder mehr noch, um verheiratet zu bleiben?
»War das der einzige Grund?«, fragte Dr. Massey mit unbewegter Miene.
»Wir hätten es irgendwann sowieso getan«, sagte Alec.
Cora nickte zustimmend und fragte sich dann, ob sie das tatsächlich auch glaubte.
»Wann haben Sie das erste Mal über eine Trennung nachgedacht?«
Die Fragen wurden schwieriger, direkter. Die Antworten schlugen Funken zwischen ihnen und setzten die wacklige Brücke in Brand, die sie mit den Erinnerungen an glückliche Zeiten gerade erst aufgebaut hatten. Alec nahm Coras Antworten auseinander, bis sie gar nichts mehr sagte. Genauso, wie er es bei ihren Streiten zu Hause auch machte. Nichts zu sagen war einfacher und weniger ermüdend, wenn ihr hinterher sowieso jedes Wort im Mund umgedreht wurde.
Doch dann, als er ihr mal wieder ins Wort fiel, hob Dr. Massey ruhig eine Hand und brachte ihn damit zum Schweigen. »Cora hat gerade gesprochen:«
So einfach.
»Warum gehen Sie in solchen Situationen weg, Cora?«
Cora spürte die Last von Alecs Blick auf sich. Sie sah lieber in Dr. Masseys entspanntes, offenes Gesicht. »Ich weiß es nicht.«
»Doch, das tun Sie«, widersprach sie.
Cora atmete tief ein. Sollte sie ehrlich sein oder das sagen, was Alec hören wollte?
»Ich, ähm …« Sie weigerte sich, Alec anzusehen. »Ich habe das Gefühl, dass es sowieso meine Schuld sein wird, egal, in welche Richtung sich die Unterhaltung entwickelt. Wenn ich vorher gehe, bleibt das Ergebnis gleich, aber ohne all die Diskussionen. Wenn ich …«
»Weggehen löst also alles?«, unterbrach Alec sie wieder.
Cora konnte ihn immer noch nicht ansehen. »Er unterbricht mich oft, bevor ich überhaupt …«
»Das stimmt nicht.«
Cora hielt ihren Blick weiter auf Dr. Massey gerichtet und fragte sich, ob Alec die Ironie ihrer momentanen Situation bewusst war.
Er redete weiter, also anscheinend nicht.
Dr. Massey bremste ihn jedoch erneut und erinnerte ihn daran, dass alle in diesem Raum zuhören mussten, was der andere zu sagen hatte.
»Ich habe das Gefühl, dass Alec über mich hinwegredet.«
»Was denken Sie darüber, Alec?«
Alec dachte offenbar eine Menge darüber.
Coras Gesicht fühlte sich so heiß an, dass sie sich fragte, ob ihre Wangen rot glühten. Er hörte einfach nicht auf zu reden. Cora wäre zu empfindlich, wenn sie nur mehr Widerstand leisten würde, würde er sie auch mehr respektieren. Wenn er zu dominant war, dann nur, weil sie zu unterwürfig war.
Dann wandte sich Dr. Massey wieder an sie und fragte: »Was glauben Sie, ist das Hauptproblem in Ihrer Beziehung?«
Ich habe mit jemand anderem geschlafen .
Cora hatte ihre Atmung noch nie bewusster wahrgenommen.
Alec starrte sie an. Dr. Massey starrte sie an.
»Ich weiß es nicht.«
»Denken Sie nach.«
Alec wollte etwas sagen, doch die Ärztin wandte sich ihm mit diesem professionellen Lächeln zu. »Alec, Sie waren schon dran, jetzt ist Cora an der Reihe.«
Für Cora schien alles gleichzeitig zu laut und zu leise zu sein.
»Ich glaube, dass wir die Fähigkeit verloren haben, miteinander zu kommunizieren.«
Dr. Massey nickte. Cora hatte keine Ahnung, ob das hieß, dass das die richtige Antwort war. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie jemals die Fähigkeit gehabt hatten, miteinander zu kommunizieren. Cora erinnerte sich hauptsächlich daran, dass sie Alec meistens fast ehrfürchtig zugehört hatte. Als sie angefangen hatte, mehr zu sagen, hatte sie ihre Antworten an seine angepasst. Sobald sie damit aufgehört hatte, hatte er um sich geschlagen, sie verächtlich behandelt und ihr das Gefühl gegeben, dumm zu sein.
Sie redeten. Dr. Massey redete.
Dann beendete sie Sitzung. »Diese Sitzungen sind nicht dazu da, um Ihre Beziehung zu reparieren . Sie sind dazu da, um Ihnen die Hilfsmittel zu einer erfolgreichen Kommunikation an die Hand zu geben und Ihnen einen neutralen Raum dafür zu bieten.« Sie sah von einem zum anderen. »Vor der nächsten Sitzung möchte ich, dass jeder von Ihnen etwas beachtet: Alec, wenn Cora Ihnen etwas zu sagen hat, lassen Sie sie bitte ausreden. Versuchen sie, zuzuhören, was sie sagt. Und Cora …«
Warum nur machte sie der Klang ihres Namens so nervös?
»Ich möchte, dass Sie bis zum nächsten Mal eine Liste an schönen Dingen mitbringen, die Alec für Sie tut. Dazu kann auch gehören, dass sie das Gefühl haben, dass er ihnen zugehört hat.«
Cora und Alec nickten.
Zum Abschluss erwähnte Dr. Massey noch die Broschüren, die im Wartezimmer auslagen und die sie gern mitnehmen konnten, und gab ihnen den nächsten Termin schon in zwei Tagen.
Eine Minute später fand sich Cora im Neonlicht des Flurs wieder und fühlte sich ein wenig betäubt.
»Das lief doch ganz gut«, kommentierte Alec.
Cora hatte das Gefühl, insgesamt ungefähr fünf Sätze gesagt zu haben. Trotzdem nickte sie. »Ja.«
Seine Worte das kannst du mir nicht antun liefen in Dauerschleife durch ihren Kopf.
»Wir sehen uns zu Hause.«
»Okay.«
Dann drehte er sich um und verschwand den Flur hinunter.
Jemand ging an ihr vorbei. »Entschuldigung.«
Die Person sah nicht mal auf.
Alles um sie herum fühlte sich surreal an. Als wären Teile von ihr gewaltsam herausgerissen und dann falsch wieder eingesetzt worden. Selbst das Atmen schien nicht mehr automatisch abzulaufen und sie hatte das Gefühl, dass sie es falsch machte. An der Wand links von ihr hingen diverse Broschüren zum Mitnehmen in einem Ständer. Glänzende Deckblätter auf billigem Papier. Sie zog ein paar heraus, ohne darüber nachzudenken, und wählte einfach die, bei denen es augenscheinlich um die Ehe und die Überwindung von Differenzen ging. Während sie den Flur hinunterging, blätterte sie ziellos durch die wenigen Broschüren. Die letzte lag schwer in ihren Händen und wog doch nichts. Sie blinzelte. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie diese gegriffen hatte.
EMOTIONALE MISSHANDLUNG: DIE ANZEICHEN
Cora schluckte schwer und stopfte die Broschüre so tief sie konnte in ihre Tasche.
~ ~ ~
Gegen vierzehn Uhr war Frazers Kater zwar etwas besser, aber der Wunsch, einfach nur zu schlafen, immer noch genau so groß.
Warum hatte ihr betrunkenes Hirn Cora um drei Uhr morgens eine Nachricht geschickt?
Den ganzen Tag über hatte Tia sie nur angegrinst, wenn sie sie gesehen hatte. Und als Frazer ihrem Spiegelbild im Badezimmer gegenübertrat, wusste sie warum: Sie war aschfahl und ihre Augen waren gruselig rot mit verschmiertem Mascara darunter. Offensichtlich verkatert.
Sie war sich sicher, dass sie diesen Kater später einmal in der Hölle treffen würde. Wo sie beide hingehörten.
Und dieses seltsame Lichtgewitter draußen musste aufhören. Normalerweise liebte Frazer Gewitter, aber diese seltsamen donnerlosen Blitze gefielen ihr ganz und gar nicht. Die Wolken hatten einen intensiven violetten Farbton angenommen und hingen tief über dem Hafen. Sie erinnerten sie an die Wolken, die sie letztes Jahr bei ihrem ersten und einzigen Skiurlaub in Japan gesehen hatte. Sie war auf der Anfängerpiste viel zu oft hingefallen und hatte irgendwann beschlossen, es sich für den Rest des Urlaubs in den diversen Skilounges und Restaurants bequem zu machen. Sie war ohnehin eher der Après-Ski-Typ. Und allein der Blick auf die riesigen schneebedeckten Berge unter den violetten Wolken war den Flug wert gewesen. Und diese unglaubliche Stille, die immer kurz vor einem heftigen Schneefall eintrat. In Perth hatte sie noch nie Wolken in dieser Farbe gesehen.
Jetzt hingen sie hier im spektakulär erleuchteten Himmel. Aber hier würden sie keinen Schnee, sondern nur ein heftiges Gewitter bekommen.
Was bedeutete, dass sie im Regen nach Hause fahren musste.
Was bedeutete, dass viele der Menschen, die mit ihr am Straßenverkehr teilnahmen, plötzlich vergessen hatten, wie man Auto fährt. Beliebt war es zum Beispiel auf den nassen Straßen, erst viel zu schnell zu fahren, um zum Ausgleich viel zu stark abzubremsen und so jede Person in unmittelbarer Nähe in Gefahr zu bringen.
Frazer wurde vom Piepsen ihres Pagers aus ihren Gedanken gerissen. Ein Elternpaar in spe war gerade angekommen, die Fruchtblase war auf dem Weg ins Krankenhaus geplatzt.
Immerhin würden sie später damit angeben können, dass ihr Baby während des wahrscheinlich größten Gewitters dieses Jahres zur Welt gekommen war.
Für andere Städte war das vielleicht nur ein etwas rauer Wind, aber hier in Perth nahmen sie, was sie kriegen konnten.
Frazer wippte auf den Fersen vor und zurück, die Hände in den Hosentaschen, während sie vor dem Fahrstuhl wartete. Sie würde sich und ihren schrecklichen Kater von allen Sünden reinwaschen, indem sie neuem Leben auf die Welt half.
Oder vielmehr indem sie einer angehenden Hebamme dabei half, neues Leben auf die Welt zu bringen. Frazer hatte gestern vielleicht unverantwortlich viel getrunken, aber nur, weil sie heute keine Patientin anfassen musste.
Wenn das Kind geboren war, würde sie wahrscheinlich zum zwanzigsten Mal heute ihre E-Mails checken, um herauszufinden, ob Alec ihr die Materialen zum Programm geschickt hatte, damit sie endlich loslegen konnte. Sie spürte das nervöse Ziehen in ihrem Bauch und drückte nochmal auf den Fahrstuhlknopf, um nach unten zu fahren.
Sie wusste, dass das nichts brachte, fühlte sich aber sofort ein klein wenig besser. Heute lief alles so langsam . Oder vielleicht lag es nur an ihr?
Falls die E-Mail kam, könnte Frazer anfangen, die Eltern auf ihrer Warteliste abzutelefonieren. Eigentlich hätte sie diese Liste nicht anlegen dürfen, ohne sicher zu sein, dass das Projekt grünes Licht bekam. Sie hatte sich einfach eingeredet, dass es dabei helfen würde, etwas positive Energie ins Universum zu schicken. Oder sowas in der Art.
Endlich kam der Fahrstuhl und die Türen öffneten sich. Zum Glück war er leer. Frazer drückte den Knopf fürs Erdgeschoss, lehnte sich an die hintere Wand und seufzte zufrieden. Stille.
Das würde sich bald ändern.
Der Fahrstuhl hielt schon auf der nächsten Etage wieder an. Frazers Stille wurde noch vor der bevorstehenden Geburt unterbrochen.
Frazer wollte der Person, die den Fahrstuhl zum Anhalten gebracht hate, am liebsten sagen, dass sie verschwinden solle, setzte aber stattdessen nur ein höfliches Lächeln auf. Dann erstarrte sie.
Vor den Fahrstuhltüren stand Cora. Langsam, als wäre sie am liebsten woanders, ging sie hinein zu Frazer.
Frazer musste ein hysterisches Lachen unterdrücken.
Natürlich war es Cora.
»Hey.« Es gelang ihr, freundlich auszusehen. Oder zumindest den Anschein zu erwecken. Zumindest hoffte sie das. Vielleicht sah sie furchtbar aus.
Cora legte den Kopf schief. »Hi.«
Dann bleiben beide regungslos stehen.
Frazer deutete mit einem Nicken zum Ziffernblock. »Du, ähm, musst einen Knopf drücken, sonst dauert es ewig, bis sich die Türen schließen.«
Krankenhausfahrstühle ließen sich mit den Türen immer Zeit, wenn man nicht entgegensteuerte, für den Fall, dass jemand auf Krücken hinein humpelte.
»Oh.« Cora lachte nervös. »Ja.«
Sie drückte einen Knopf.
Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
Und hielt dann plötzlich wieder an.
»Was zum Teufel?« Cora sah sich um, als könnte sie die Antwort irgendwo an der Decke finden. »Haben wir angehalten?«
»Ausgehend von der Tatsache, dass wir uns nicht bewegen, würde ich sagen: Ja.«
Cora warf Frazer denselben Blick zu, den sie von den meisten Leuten erntete, wenn sie ein sarkastisches Biest war. »Sehr erleuchtend. Vielen Dank. Aber hör mal.«
Beide legten die Köpfe schief und lauschten.
Frazer zuckte mit den Schultern. »Ich höre nichts.«
»Ganz genau.« Cora lehnte sich an die Tür. »Nichts.«
»Nicht im Ernst, oder?« Frazer lehnte sich an die Wand und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Sie sah Cora an. »Wir stecken fest?«
Lustlos drückte Cora auf den Notfallknopf. Nichts. »Kein Strom. Nichts. Nada. Niente. Gar nichts …«
»Ich hab’s kapiert.«
»Ich wollte nur sichergehen.« Cora grinste sie an.
Frazer lachte leise. »Warum ist dann das Licht noch an?«
Cora sah auf, als wäre es ihr das vorher nicht aufgefallen, und sagte: »Ich weiß nicht. Vielleicht sind nur ein paar der Sicherungen rausgeflogen?«
Frazer nickte, als könnte sie mit dieser Information etwas anfangen.
Auch wenn sie alles getan hatte, um Cora in letzter Zeit aus dem Weg zu gehen, war es schön, wieder mit ihr zu plaudern. Das war alles. Plaudern.
Sie konnte nicht glauben, dass sie allen Ernstes zusammen in einem Fahrstuhl feststeckten. Was für ein furchtbares Klischee.
Frazer versuchte, nicht daran zu denken, wie Cora nackt aussah.
Sie wühlte in ihrer Tasche und zog ihr Handy hervor. »Kein Empfang. Warum gibt es in Fahrstühlen nie Empfang?«
Cora zog ihr eigenes Handy aus der Tasche und funkelte es böse an. »Ernsthaft?«
»Eine Patientin ist auf dem Weg hierher. Ihre Fruchtblase ist schon geplatzt.«
»Jemand anderes wird sich darum kümmern.«
Frazer schob ihre Unterlippe vor. »Ich will Teil dieser Geburt sein.«
Cora ließ sich ebenfalls zu Boden gleiten und schlug die Beine übereinander. »Wieso bedeutet dir diese Geburt so viel?«
»Ich wollte den Tag mit einem Sieg beenden, weil er schon mit einem epischen Versagen begonnen hat.«
»Hübsch verkatert, nicht wahr, Frazer?«
Frazer hatte das Gefühl, dass Cora das viel zu sehr genoss.
»Bist du mit Kopfschmerzen aufgewacht?«
Frazers Textnachricht hing unausgesprochen zwischen ihnen.
»Ich habe gestern Abend eventuell etwas zu viel getrunken.« Frazer streckte ihre Beine aus und schlug sie übereinander. Ihre Füße lagen gefährlich nah an Coras Knie. Dieser Fahrstuhl war wirklich klein. Wieso war ihr das vorher noch nie aufgefallen?
Cora trug die Haare heute zu einem Zopf zusammengebunden. Frazer könnte die schöne Linie ihres Halses ungehindert betrachten, wenn sie nur hinsehen würde. Was sie bewusst nicht tat.
Genau da waren ihre Lippen gewesen. Lippen, die Coras Hals bis zum Schlüsselbein entlanggefahren waren. Frazer presste ihre Beine zusammen.
Denk nicht daran. Sie ist verheiratet.
Trotzdem.
»Bist du mit jemanden ausgegangen?«
Bildete sich Frazer das nur ein oder klang Cora neugieriger als sonst?
Frazer spielte mit dem Handy in ihrer Hand. »Nur mit ein paar Freunden von der Uni. Die gehen gerne mal mitten in der Woche etwas trinken.«
»Ach ja?« Cora grinste und sah in diesem Moment umwerfend aus. »Weil du alleine nie auf die Idee kommen würdest.«
Frazer musste lachen. Cora schien entzückt. »Nein. Ich hasse Alkohol.«
»Sicher.«
Schweigen breitete sich aus.
Frazer starrte auf ihr Handy. Das war weitaus unkomplizierter, als die Frau ihr gegenüber anzusehen. Es fühlte sich an, als wäre dem Raum alle Luft entzogen worden. Das Gefühl der Leichtigkeit, das sich kurz gezeigt hatte, war bereits wieder verflogen.
»Frazer.«
Sie sah ruckartig auf. »Ja?«
Der Ausdruck auf Coras Gesicht war sanft. Verletzlich. »Ich wollte nur sehen, ob du mir noch in die Augen sehen kannst.«
»Das habe ich vorhin doch auch getan.«
»Nicht richtig.«
»Cora …« Frazer flüsterte diesen Namen fast. Ein sonderbares Gefühl auf ihren Lippen.
Dieses Mal senkte Cora den Blick und Frazer fragte sich, ob der Name sich für sie genauso schwer anfühlte.
Er füllte den gesamten Raum.
»Wahrheit oder Pflicht?«
Cora lachte. »Was?«
Frazer fragte noch einmal. »Wahrheit oder Pflicht?«
»Wahrheit.«
Es war einfacher, sich in die Augen zu sehen, wenn sie über irgendwas sprachen. »Ähm … Mist. Ich hätte mir zuerst eine Frage überlegen sollen. Erster Kuss?«
»Sean Carbon. Neunte Klasse. Hinter dem Fahrradschuppen. Deiner?«
»Tom Peters. Achte Klasse.«
Cora hob fragend die Augenbrauen und Frazer sagte, bevor sie es kommentieren konnte: »Ja, ich habe auch Jungs geküsst. Aber nicht lange.«
Cora lachte leise. »Na ja, du kannst mir keinen Vorwurf machen, dass ich angenommen habe, es wäre ein Mädchen gewesen.«
»Nein, die Mädchen kamen erst sechs Monate später.« Frazer zwinkerte ihr zu und Cora lachte wieder. »Du bist dran.«
»Wahrheit oder Pflicht?«
»Wahrheit«, antwortete Frazer, ohne eine Sekunde zu zögern.
»Lieblingsbuch?«
»Wie … nur eins?« Frazer schüttelte den Kopf. »Unmöglich.«
»Schön – eines der Lieblingsbücher.«
»Was? Ich soll nur ein paar aufzählen und andere auslassen? Auf keinen Fall. Das würde sie nur verletzen.«
»Ist das dein Ernst, Frazer?« Cora sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
»Ja, das ist mein voller Ernst.«
»Na schön. Ein Buch, das du mochtest und bei dem dir auch die Verfilmung gefallen hat.«
»Ernsthaft?«
»Es muss eins geben.«
Das war keine leichte Frage.
»Oh!« Frazer richtete sich auf, als ihr eine Antwort einfiel. »Anne auf Green Gables
Cora verzog das Gesicht. »Ich mochte das Buch nicht.«
Frazer starrte sie mit offenem Mund an. »Willst du meine erste große Liebe schlecht machen?«
Cora schüttelte den Kopf und hob die Hände. »Nein, nein. Ich habe natürlich nur Spaß gemacht. Ich liebe sie. Die Bücher waren toll.«
»Schon viel besser.« Frazer lehnte sich wieder mit dem Rücken an die Wand. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen und versuchte, sich eine andere Frage einfallen zu lassen. Irgendeine Frage, außer Hat dir unsere gemeinsame Nacht gefallen? Willst du es wiederholen? Warum musst du verheiratet sein? Tut es dir wirklich leid?
»Wahrheit oder Pflicht?«
Cora grinste. »Wahrheit.« Als Frazer die Augen verdrehte, streckte Cora ihr die Zunge heraus. »Ich bin langweilig.«
Coras Hand legte sich auf Frazers Knöchel, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. War es natürlich? Unter Freundinnen gab es freundliche Berührungen. Freundinnen schenkten sich Zuneigung. Wenn sie ein paar Drinks hatten, sahen Frazer und Andy wahrscheinlich aus wie ein Paar. Aber sie hatte nie mit Andy geschlafen.
Hitze kroch Frazers Schienbein hinauf. Ihr Fuß prickelte. Sie sollte ihr Bein wegbewegen. Unauffällig. Oder Cora sollte ihre Hand wegnehmen.
Keine von ihnen bewegte sich.
»Größtes Bedauern?«
Es war ihr einfach so herausgerutscht. Frazer hatte eigentlich nach ihrem peinlichsten Moment fragen wollen.
Die Hand bewegte sich nicht, aber der Griff wurde ein wenig fester.
Genug, um es zu bemerken.
Cora sah auf den Boden. Ihre Brust hob und senkte sich sichtbar, als sie tief durchatmete.
»Eine andere Frage bitte«, sagte Cora mit angespannter Stimme.
»O-kay. Peinlichster Moment?«
Frazer konnte wieder atmen, als sie sah, wie sich ein Lächeln auf Coras Gesicht ausbreitete.
»Als mir mit neun im Sommercamp die Hose runtergezogen wurde. Inklusive Unterwäsche.«
Frazer biss sich auf die Unterlippe. Ihr Kiefer spannte sich an.
»Es ist in Ordnung, Frazer, du darfst lachen.«
Sofort kam ein lautes Lachen über ihre Lippen und Cora seufzte theatralisch. Frazer versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. »Es tut mir so leid. Ich weiß, dass das sehr peinlich gewesen sein muss, aber wirklich.«
»Ja. Und es war auch noch nachts. Mein Hintern hat praktisch geleuchtet.«
»Armes Ding.«
»Ja, ganz genau das denkst du; du lachst immer noch.«
Frazer zwang sich, ihren Blick wieder auf ihr Handy zu richten. Sie strich mit dem Daumen immer wieder über das Display, während sie Coras Blick auf sich spürte.
»Wahrheit oder Pflicht?«
»Pflicht.«
Warum auch nicht? Sonst war es langweilig und es war ja nicht so, als könnten sie hier drin viel machen.
»Küss mich.«
Die Worte waren nur ein Flüstern, aber sie fühlten sich für Frazer so an, als hätte Cora sie geschrien. Ihr Nacken verkrampfte sich, als sie zu schnell aufsah. Sie starrte auf Cora, die sie mit ihrem Blick fixierte. Hypnotisierend. Frazer sah schnell wieder auf ihr Handy.
»Was?«
Cora sagte es erneut und dieses Mal klang es, als wäre diese Bitte nichts Außergewöhnliches. »Küss mich.«
Keine von ihnen bewegte sich. Der Raum im Fahrstuhl war nicht groß genug, um all dies aufzunehmen. Coras Hand strich von Frazers Knöchel aus nach oben. Ihre Finger legten sich um Frazers Schienbein und sie spürte den Druck, als Cora ihr Gewicht verlagerte, um sich ein Stück nach oben zu stemmen. Coras Körper beugte sich nach vorn, und dann war alles um sie herum Cora. Ihr Geruch und ihre Wärme umgaben Frazer, als sie sich rittlings auf sie setzte. Dieser süße Duft, der auch am Morgen nach jener Nacht in der Luft lag, betörte sie. Coras Brüste waren auf derselben Höhe wie Frazers Gesicht und wenn sie sich nur ein wenig vorbeugte, würde sie ihr Gesicht in diese Weichheit pressen und Cora einatmen können.
»Frazer.«
Hände umfassten ihr Gesicht. Hoben ihren Kopf an.
Hitze schoss durch ihren Körper und Frazer schloss die Augen.
»Küss mich.«
Die Worte waren fast auf ihre Lippen geflüstert. Aber Cora bewegte sich nicht weiter.
Sie wartete. Auf Frazer.
Der Gedanke, dass sie das besser nicht tun sollte, existierte kaum noch in Frazers Kopf. Sie sollte nicht, aber sie konnte es nicht verhindern. Nicht, wenn Cora ihr so nah war, wenn ihre Finger Frazers Haut berührten und sich ihrer beider Atem vermischte.
Obwohl sie es nicht sollte, obwohl es falsch war, beugte sich Frazer vor.
Sie musste sich kaum bewegen. Der Abstand zwischen ihnen existierte fast nicht.
Coras Lippen drückten sich auf ihre eigenen und öffneten sich. Sie stöhnte.
Oder vielleicht kam das Geräusch auch von Frazer. Sie konnte es unmöglich sagen. Cora schmeckte nach etwas Verbotenem, etwas Unbekanntem. Etwas, das Frazer nicht auf den Lippen schmecken sollte. Coras Zunge strich über ihre, weich und süß. Alles, was sie wollte. Cora ließ ihre Hände auf Frazers Schultern sinken und Frazer vergrub ihre Finger in Coras Haaren. Sie verspürte plötzlich den verzweifelten Drang, sie näher an sich zu ziehen. Finger strichen über Frazers Brust und an den Seiten ihres Körpers entlang. Sie klammerten sich an ihr Oberteil und zogen sie fester an sich.
Ein Summen ertönte.
Ein leichtes Rucken.
Der Fahrstuhl setzte sich wieder in Bewegung.
Cora zog sich zurück. Ein kühler Lufthauch traf Frazer. Dieses Mal waren Coras Augen geschlossen, und als sie sie öffnete, starrte sie Frazer an.
Frazer konnte ihren Blick nicht deuten. Wie ein Roboter stand sie auf. Als sich die Türen öffneten, ging Cora an einer Frau im Blaumann vorbei, die sie mit einem Werkzeugkasten in der Hand anstarrte. Cora blickte nicht einmal zurück und überließ es Frazer, der Frau zu danken, die sie gerade befreit hatte.
~ ~ ~
Coras größtes Bedauern?
Frazer dachte wahrscheinlich, dass sie diese Nacht mit dir sagen würde. Was sie wirklich hätte antworten wollen? Ihre Ehe.
Aber es war zu schrecklich, das auszusprechen. Sie sollte diese Worte stattdessen tief in sich verschließen und ignorieren, damit sie niemals ans Tageslicht gelangten. Weil Cora niemand war, der fremdging. Sie hatte keine Affären. Nur gab es langsam immer mehr Tatsachen, die dagegensprachen. Stück für Stück, nach und nach kam eine zur anderen. Bis sie doch zu einer Betrügerin wurde.
Beim Abendessen hatte Alec sie über den kalt werdenden Spaghetti mit noch kälterem Tonfall gefragt, ob sie die Therapeutin mochte.
»Sie scheint nett zu sein.«
Alec nickte und drehte die Gabel mit den Nudeln. »Sie ist die beste.«
Immer nur das Beste. »Gut.«
Die Pasta fühlte sich wie Staub in ihrem Mund an. Die Kerbe in der Tischplatte hatte sie mit einem Läufer bedeckt, den sie irgendwo gefunden hatte. Sie hätte genauso gut ein Loch hineinbrennen können. Sie kaute. Nippte an ihrem Wasser. Schluckte alles herunter. Das Essen lag schwer in ihrem Magen. »Ich habe nachgedacht«, sagte Cora. »Vielleicht sollten wir unsere Eltern mal wieder zum Abendessen einladen.«
Alec kaute langsam und legte dann seine Gabel zur Seite. Er faltete die Hände und stützte seine Ellbogen auf den Tisch. »Okay. Aber denk dran, wie trocken das Fleisch beim letzten Mal war. Ich meine, mich stört es nicht wirklich, aber du weißt, wie meine Eltern das sehen.«
Cora wurde rot. Er hatte es schon damals vor allen kommentiert. Alec sah wieder auf seinen Teller und nahm die Gabel wieder auf. »Wann wolltest du sie einladen?«, fragte er.
»Freitagabend?«
»Samstag passt besser. Dann muss am nächsten Tag niemand arbeiten.«
»Okay.« Sie hatte an dem Abend eigentlich mit Lisa ausgehen wollen. »Dann gehe ich am Freitag vielleicht mit Lisa essen.«
»Solltest du da nicht alles für Samstag vorbereiten?«
»Das kann ich Samstagnachmittag machen.« Oder er könnte zur Abwechslung mal kochen. Aber er hasste es. Nicht, dass ihm das schmeckte, was sie zubereitete.
»Wäre es nicht besser, wenn du Freitagabend zu Hause bist?«
Cora nippte an ihrem Wasser. Leckte sich über die Lippen.
Als sie nicht antwortete, schüttelte er den Kopf. »Die Therapeutin meinte, dass wir Zeit miteinander verbringen sollen. Unsere Hausaufgaben machen.«
Ja, er sollte mit ihr sprechen, weil es ihm jemand gesagt hatte.
Sein Tonfall machte es zu einer Aussage. Einer Tatsache. Keine Diskussion.
»Okay.«
Cora wünschte sich, er wäre noch immer auf seiner Konferenz. Sie wollte ihre beste Freundin treffen. Immer passte sie ihre Pläne seinen an. Es schien ihr, als würden sie weiter das tun, was sie immer taten. Nur verkaufte er es jetzt so, als würden sie damit den Ratschlägen der Therapeutin folgen.
»Aber arbeitest du am Freitag nicht bis abends?« Sie hätte das nicht fragen sollen.
»Schon, aber das ist Arbeit. Das ist wichtig.« Er legte das Besteck auf seinen leeren Teller. »Das war sehr scharf …«
Er sah sie an. Wartete auf etwas.
»Entschuldige«, sagte sie.
Er nickte, als hätte sie ihm etwas gegeben, was ihm zustand.
Während das Abwaschs entschied sie, Samstagabend ebenfalls Spaghetti zu machen.
Mit extra viel Chili.
Nachdem Alec in seinem Arbeitszimmer verschwunden war, entspannte sich Cora. Sie setzte sich mit einem Glas Wein auf die Couch und starrte auf den Fernseher, ohne wirklich etwas mitzubekommen. Es war eine Erleichterung, weder Alec noch Frazer in ihrer Nähe zu haben.
Frazer.
Cora hatte keine Ahnung, was sie da gerade mit ihrem Leben machte.
Als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, drehte sie den Kopf und sah Alec in der Küche stehen. Er stand einfach nur da und wirkte etwas verloren. Ihr Herz zog sich zusammen bei diesem Anblick. Alec trat immer sicher auf, immer selbstbewusst. Jetzt sah er aus, als wäre er zwischen zwei Welten gefangen und hätte keine Ahnung, was er tun sollte.
Als sich ihre Blicke trafen, kam er auf sie zu und setzte sich zu ihr auf die Couch. Die Lücke zwischen ihnen war kleiner als sonst.
»Was siehst du dir an?« Sein Blick war auf den Fernseher gerichtet.
Sie sah ihn unsicher an. »Einen alten Film.« Er antwortete nicht und Cora wusste nicht, was sie als nächstes tun sollte. »Möchtest du etwas anderes sehen?«, fragte sie ihn.
»Das Football-Spiel läuft …«
Sie griff nach der Fernbedienung, aber seine Hand legte sich kühl und entschlossen auf ihre. Fast wäre sie erschrocken zusammengezuckt. Er schaute sie an und blinzelte ihr zu. »Möchtest du diesen Film sehen?«
Sie legte keinen Wert darauf, aber war neugierig, was passieren würde.
Sie nickte. Er verschränkte seine Finger mit ihren, sodass ihrer beiden Hände zusammen zwischen ihnen auf der Couch ruhten. Ein erster Schritt.
»Lass ihn an«, sagte er und richtete den Blick wieder auf den Fernseher.
~ ~ ~
Ein paar Tage später waren sie wieder bei der Therapie, wie bei ihrem ersten Termin genau beobachtet von Dr. Massey. Cora spürte das Gewicht der Broschüre, die sie in ihre Tasche gestopft, aber nicht weggeworfen hatte. Als sie ihr gestern Abend in die Finger gefallen war, hatte sie kurz überlegt, einen Einzeltermin mit Dr. Massey zu vereinbaren, den Gedanken aber schnell wieder verworfen.
Dr. Massey fragte, ob Alec sich darangehalten hatte, sie weniger zu unterbrechen.
»Natürlich«, sagte Alec
Dr. Massey fragte Cora.
Sie schluckte und atmete tief ein, während sie versuchte, sich daran zu erinnern, ob er es versucht hatte, während Cora damit beschäftigt gewesen, war ihre Lippen im Fahrstuhl auf die einer anderen Person zu pressen. »Er hat sich gebessert. Er versucht, Rücksicht auf mich zu nehmen. Aber …«
Beide starrten sie an und warteten auf das Ende ihres Satzes.
»Samstagabend war alles wieder wie vorher. Unsere Eltern kamen zum Abendessen … Ich habe mich …«
»Wie haben Sie sich gefühlt, Cora?«
»Als würde Alec absichtlich Dinge sagen, um mich in Verlegenheit zu bringen.«
»Das habe ich nicht getan, Cora.«
Der Rest der Sitzung verlief in diesem Stil – alte Streitthemen, Alecs Schuldzuweisungen.
Dr. Massey versuchte Alec so zu lenken, dass er Cora zuhörte. Aber Cora wollte nicht viel sagen. Dr. Massey sprach über bewusste und unterbewusste Manipulationen. Dominante und unterwürfige Persönlichkeiten.
Als er das hörte, sagte Alec: »Wenn Cora nicht so unterwürfig wäre, hätten wir dieses Problem nicht.«
Vielleicht hatte er recht. Irgendetwas musste in ihrem Gesicht zu sehen gewesen sein, was diese Vermutung bestätigte, denn Dr. Massey lehnte sich zurück, sah sie beide an und sprach dann von Gleichgewicht. Von Selbstbewusstsein.
Es war anstrengend.
Cora hätte am liebsten gefragt: »Was ist mit Fremdgehen? Was, wenn man die Lippen einer anderen Person kosten will und die Erinnerung daran wachhält, wie sich ihre Haut angefühlt hat, obwohl man neben seinem Mann im Bett liegt und versucht, nicht in all den Schuldgefühlen zu ertrinken?«
Warum hatte sie Frazer im Fahrstuhl geküsst?
Warum verspürte sie dieses Verlangen, sich selbst in dieser anderen Person zu verlieren? Tränen brannten in ihren Augen.
Als die Sitzung beendet war, gingen Alec und sie zusammen zurück zum Krankenhaus. Die Straße war voller Menschen. Er sprach davon, wie gut es war, alles ans Licht zu bringen.
Cora sagte kein Wort und er redete einfach weiter.
In ihrem Büro, müde und allein, gab Cora Manipulation in Beziehungen bei Google ein. Die Ergebnisse ließen sie erschrocken zurückweichen. Ließen ein starkes Schamgefühl aufsteigen. Was war aus ihr geworden? Wann war es so weit gekommen?
Vielleicht würde er sich ändern. Vielleicht würde die Therapie helfen. Vielleicht musste sie aber auch aufhören, sich das einzureden.
Cora ignorierte das Zittern ihrer Hände und schloss den Browser. Sie atmete tief ein und aus und öffnete dann ihre E-Mails. Eine war von Frazer, um ihr zu sagen, dass sie die Rahmenpläne hatte, die sie brauchten, um mit dem Projekt loszulegen.
Der Gedanke daran, mehr Zeit mit Frazer zu verbringen, jagte einen Schauer durch ihren Körper. Eine Ausrede, um Zeit miteinander zu verbringen. Wollte Cora das wirklich?
Sollte sie sich nicht von ihr fernhalten?
Ihr gingen so viele Fragen durch den Kopf, dass sie das Gefühl hatte, er würde gleich explodieren. Sie wusste nicht mehr, was richtig und was falsch war.
Sie würden nur über das Projekt sprechen. Das war alles. Sie konnten Zeitpläne entwerfen und sich nach Dienstschluss die Räumlichkeiten sichern, die Frazer aufgetrieben hatte. Nach und nach könnten sie Patienten ansprechen, Ablaufpläne erstellen und die Ausbildungswoche planen.
Cora würde nicht zulassen, dass sie auch nur einen weiteren Gedanken an diese Nacht oder den Fahrstuhl verschwendete. Ihre Augen würden nicht auf Wanderschaft gehen, während sie Akten durchgingen. Nichts Unausgesprochenes würde zwischen ihnen stehen. Und vor allem würde sie Frazer nicht wieder küssen! Sie würde sie nicht benutzen, um ihre Ehe zu vergessen. Um ihren Ehemann zu vergessen.
Auf keinen Fall.
~ ~ ~
Frazer hatte das Gefühl, auf Wolken zu gehen. Ihr Projekt wurde tatsächlich umgesetzt.
Endlich wurde es Realität.
Und nun war Cora auf dem Weg zu ihrem Büro, um sie dabei zu unterstützen.
Darüber war Frazer weniger begeistert.
Der Kuss im Fahrstuhl gestern hatte alle möglichen Bedürfnisse in Frazer geweckt, die sie in den letzten Jahren tief vergraben hatte. Bedürfnisse, die sie mit Freuden ignoriert hatte. Sie hatte genug mit ihrem Aquarium und ihrem Job zu tun. Ihre letzte schmutzige Trennung von einer Arbeitskollegin hatte mehr Schaden hinterlassen, als sie zugeben wollte.
Nein, sie würde diesen Bedürfnissen nicht nachgeben.
Vor allem, weil sie diese Bedürfnisse nicht ausgerechnet bei einer verheirateten Frau stillen sollte. Schon gar nicht, wenn es sich um die Frau ihres Chefs handelte.
Als es an der Tür klopfte, setzte Frazer sich kerzengerade hin. Sie widerstand dem Drang, mit der Hand durch ihre Haare zu fahren und ihre Frisur zu ordnen. Das klappte ja hervorragend.
Sie würden professionell sein. Sich auf das Programm konzentrieren. Was einfach war, denn Frazer freute sich so sehr darüber.
»Herein.«
Langsam wurde die Tür geöffnet. Cora trat ein, begann die Tür zu schließen, hielt dann aber inne und ließ sie halb geöffnet, als sie sich hinsetzte und Frazer schwach anlächelte.
Sie sahen sich einen Augenblick lang an.
Frazer würde nicht zulassen, dass es für beide unangenehm wurde. »Hi! Wie ist dein Tag?«
Selbst in Frazers Ohren klang ihre Stimme zu laut und aufgedreht, aber sie würde das hier einfach durchziehen.
Cora zögerte nur kurz. Dann sagte sie: »Gut. Und deiner?«
Cora trug ihr Haar heute hochgesteckt. Ein paar Strähnen umrahmten ihr Gesicht und ließen ihren Kiefer etwas kräftiger wirken. Es stand ihr gut.
»Schön. Ich freue mich so, dass es endlich losgeht. Ich muss gestehen, dass ich so aufgeregt war, dass ich die ersten Patientinnen und die Kontakte der Unterkünfte schon angerufen habe.«
Cora lachte leise und stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. »Müssen wir nicht erst ein paar Leute ausbilden?«
»Na ja …« Frazer hob entschuldigend die Hände. »Es gibt ja schon – uns? Und da ist noch eine Hebamme im Kollegium, die von Anfang an von dieser Sache begeistert war.«
Frazer drehte den Monitor so, dass Cora ihn ebenfalls sehen konnte. Sie beugte sich vor. Ihre Köpfe waren nur etwa dreißig Zentimeter voneinander entfernt. Frazer versuchte krampfhaft, das zu ignorieren.
Sie versuchte auch, Coras Parfum zu ignorieren.
»Hier ist die Tabelle, die ich dir gerade geschickt habe.« Frazer öffnete eine neue Datei. »Du kannst dir all die Seiten ansehen und die verschiedenen Zahlen, Spenden und Personen aufrufen, die uns kostenlos Sachen zur Verfügung stellen – zum Beispiel können wir nach Dienstschluss zwei Zimmer kostenlos nutzen, die normalerweise für pränatale Untersuchungen gebraucht werden. Das fällt unter ambulante Versorgung. Die Räume bieten sich für Konsultationen mit Hebammen und für Krisengespräche an oder du und dein Team könnt sie nutzen, um mit den Klienten die Möglichkeiten der staatlichen Unterstützung durchzusprechen.«
Nach etwa zehn Minuten dämmerte es Frazer, dass sie Cora mit Informationen überhäufte. Sie schloss ihren Mund und sah zu Cora, deren Blick schon leicht abwesend war. Frazer verzog das Gesicht. »Entschuldige. Ich bin ziemlich aufgedreht.« Sie schaute zurück zum Computerbildschirm.
»Das kann ich sehen.«
Coras Worte strichen über ihre Wange und auf Frazers Rücken breitete sich eine Gänsehaut aus.
Was hatte Cora nur an sich?
Frazers Herz schlug ihr bis zum Hals.
Sie konnte spüren, dass Cora sie betrachtete und kämpfte mit dem Drang, den Kopf zu drehen, um sie anzuschauen. Ihre Augen tränten fast.
Wärme breitete sich auf ihren Wangen aus und Frazer wollte wütend werden. Was machte diese verheiratete Frau bloß mit ihr?
»Na ja.« Frazer schluckte. »Ich versuche schon seit Jahren, dieses Projekt in Gang zu setzen.«
»Ich bin froh, dass es endlich geklappt hat.«
Frazer gab nach und drehte ihren Kopf. Dreißig Zentimeter Abstand konnten sich wie ein Kilometer oder wie nichts anfühlen. In diesem Moment fühlte es sich wie beides an. Cora blinzelte nicht. Bewegte sich nicht. Frazer fuhr mit der Zunge über ihre Lippen und Coras Blick folgte der Bewegung.
Ein winziger Bruchteil einer Sekunde – Cora beugte sich vor und Frazer folgte der Bewegung.
Die Tür stand noch immer offen. Nur ein Stück, halb. Ausreichend.
Frazer sah zur Tür und dann zu Cora.
»Wir können nicht.« Frazer flüsterte, als wollte sie nicht, dass sie gehört wird.
Sie hasste sich selbst dafür, dass es nur die offene Tür war, die sie davon abhielt.
Cora zog die Augenbrauen zusammen. Ganz leicht, aber ausreichend, um ihre Enttäuschung zu zeigen. »Ich weiß.«
Hasste sich Cora deshalb genauso sehr?
Plötzlich flog die Tür auf und sie lehnten sich beide schlagartig zurück.
»Frazer! Alec will dich sehen …« Tia blieb abrupt stehen. Sah einen Moment zwischen ihnen hin und her. »Hi Cora.«
Frazers Herz hämmerte so schnell, dass ihr schlecht wurde. Sie drehte ihren Monitor wieder zurück, bevor sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte. »H-hey Tia.«
Nach einem Augenblick, der sich zu lang anfühlte, riss Tia ihren Blick von Coras gerötetem Gesicht los, und wendete sich an Frazer. »Hast du einen Moment?«
»Für was?« Frazer versuchte entspannt auszusehen, wirkte aber wahrscheinlich eher, als hätte sie Verstopfung.
»Für Alec?« Tia hob fragend die Augenbrauen.
»Ja, sicher. Gib mir eine Viertelstunde. Ich muss mit Cora noch den Projektplan zu Ende durchgehen, dann habe ich Zeit.«
»Okay.« Tia sah sie noch einmal an.
Cora spielte an ihrem Handy herum und scrollte mit dem Daumen durch ihre Nachrichten.
»Bis gleich.«
Tia ging hinaus und ließ die Tür weit offen stehen.
Endlich konnte Frazer wieder atmen. Sie griff nach ihrer Maus. »Also, ähm … passt es dir morgen um achtzehn Uhr?«
»Was?«, fragte Cora.
»Morgen um achtzehn Uhr? Ich möchte dich einem der Patienten vorstellen, den ich für geeignet halte. Ich glaube, du würdest hier ganz gut als Mentorin passen. Der Termin ist um achtzehn Uhr dreißig, also könnte ich dich vorher kurz briefen.«
»Sicher.« Cora stand auf. »Bis morgen.« An der Tür hielt sie inne und drehte sich um. »Vielleicht könnten wir gegen siebzehn Uhr einen Kaffee trinken gehen?«
Frazer starrte sie an. »Wirklich?«
»Freundinnen machen sowas, oder?«
Warum formulierte sie es dann wie eine Frage? Frazer nickte und versuchte zu lächeln. »Okay, dann um siebzehn Uhr.«
Die Tür fiel mit einem Klicken ins Schloss. Frazer ließ ihren Kopf schwer auf die Tischplatte fallen.
Unwillkürlich stöhnte sie auf.
Und jetzt musste sie sich auch noch Alec stellen.
~ ~ ~
Mit ihrer Schwester zum Mittagessen zu gehen war der beste Weg, um auf den neuesten Stand zu kommen. Das sie mittags ein festes Zeitlimit hatte, probierten sie das neue italienische Restaurant nicht weit vom Krankenhaus aus.
»Hör auf, ständig auf die Uhr zu sehen, Frazer, sonst werfe ich meine Oliven auf deinen Teller.«
»Ich habe um vierzehn Uhr einen Termin. Den darf ich nicht verpassen.«
Jemma verengte die Augen. »Mir ist sehr wohl bewusst, dass du lieber mit mir Mittag- als Abendessen gehst, damit du schnell verschwinden kannst.«
Verdammt. »Das stimmt nicht!« Frazer musste das nicht auch noch zugeben. »Ich kann heute Abend nicht mit dir ausgehen, weil ich endlich mit meinem Programm loslege.«
»Ernsthaft?« Jemma beugte sich vor und sah Frazer eindringlich an.
»Ernsthaft.«
»Frazer! Das ist großartig. Du arbeitest schon seit Jahren dafür.«
In solchen Momenten merkte Frazer, dass sie es eigentlich genoss, ihre jüngere Schwester zu sehen. »Ja, wir haben endlich die Mittel bewilligt bekommen.«
»Gott, das hat eine Ewigkeit gedauert. Was für einen riesigen Stock hat dein Boss denn im Arsch? Meint er nicht, dass es wichtig ist, schwangeren Menschen zu helfen?«
Frazer war stolz, dass Jemma Menschen sagte. Sie hatte es ihr nur einmal kurz erklärt und ihre Schwester hatte es übernommen. Vielleicht sollte sie Jemma öfter treffen.
»Ich glaube, dass es zum Teil am Bürokratismus lag. Und zum anderen tatsächlich am enormen Stock in seinem Arsch, der die Größe eines Fahnenmasts hat.« Als Frazer das sagte, überkamen sie kurz Schuldgefühle. Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Wasser, um sie zu ertränken. Es war normal, den eigenen Boss zu kritisieren. Das kam ganz automatisch. Aber das war, bevor sie mit seiner Frau geschlafen und sie danach noch einmal geküsst hatte. Und sie um ein Haar nochmal geküsst hätte. Oder sich von ihr hätte küssen lassen.
Was auch immer.
»Frazer? Hallo?«
»Entschuldige.« Frazer stellte ihr Glas ab. »Der Stock muss etwas kleiner geworden sein, denn letztendlich war er wohl doch dafür.«
»Das sollte er auch sein. Es ist eine tolle Idee und es müsste mehr solcher Programme geben.«
Ihre kleine Schwester war großartig. »Danke.«
»Jetzt musst du nur noch eine Freundin finden.«
Oder doch nicht so großartig. »Nicht du auch noch.«
»Doch, ich auch noch. Geh auf ein Date.« Jemma schob sich etwas Salat in den Mund und sprach trotzdem einfach weiter. Charmant. »Du hast es nötig.«
»Habe ich nicht! Es ist nichts falsch daran, Single zu sein. Ich habe Freunde. Und meine Fische. Und ja, traurigerweise auch dich. Außerdem hatte ich erst vor kurzem ein Date.«
»Ja, ich erinnere mich. Die Empfangsdame.« Jemma spießte noch mehr Salat auf. »Und was stimmte nicht mit ihr?«
»Sie war … langweilig.«
»Langweilig?« Jemma musterte sie. »Warum?«
»Ich weiß nicht. Einfach so. Jetzt lass mich in Ruhe. Ich hatte ein verdammtes Date.« Außerdem hatte sie mit ihrer Kollegin geschlafen. Oder Freundin. Oder Frau ihres Chefs.
»Seit dich deine Ex ohne Vorwarnung hat sitzen lassen und dir das Herz gebrochen hat, gibst du den Leuten keine Chance. Sie hat dich kaputtgemacht.«
Manchmal war Jemma zu nah an der Wahrheit.
»Hey, ich gebe dir jetzt einmalig die Chance, die Klappe zu halten.« Frazer grinste. »Wirst du sie ergreifen?«
»Wann habe ich je die Klappe gehalten, wenn du mir die Chance dazu gegeben hast?«
Frazer legte ihre Gabel ab und bedachte ihre Schwester mit einem eindringlichen Blick. »Wie geht’s deinem Dozenten?«
»Hör auf abzulenken.«
»Hör auf, dieses Thema zu vermeiden.«
Jemma nickte und erhob ihr Wasserglas, als würde sie einen Toast ausbringen wollen. »Waffenstillstand?«
»Irgendwann wirst du darüber reden müssen.«
»Muss ich nicht. Ich ignoriere meine Probleme gern.« Jemma schob das Kinn vor. »Das habe ich von dir gelernt.«
»Ich habe keine Probleme.«
»Oh, na klar, Schwesterherz.«
Nachdem das quälendste Mittagessen aller quälenden Mittagessen endlich vorbei war, schaffte Frazer es pünktlich zu ihrer Patientin. Als sie Alec im Flur traf, gelang es ihr sogar, ihn zu grüßen. Wenn auch etwas steif. Sie weigerte sich, ihn als Coras Ehemann zu sehen, denn wenn sie das tat, wurde ihr übel vor lauter Scham.
Als sie das letzte Mal zehn Minuten mit ihm verbringen musste, hatte es sich angefühlt wie eine Ewigkeit. Ihr verräterisches Gehirn hatte ihr die ganze Zeit Bilder von sich und Cora auf seinem Esstisch präsentiert.
Der Esstisch, an dem Alec jeden Abend aß.
Egal, was er für ein Typ war, ihr Boss hatte nicht verdient, was Frazer ihm antat – angetan hatte.
Am Ende des Tages war Frazer fast so weit, ihre Verabredung zum Kaffee mit Cora abzusagen. Aber anscheinend war sie Masochistin, denn sie schickte die SMS nie ab.
~ ~ ~
Das Kaffeetrinken mit Frazer war so nett, wie es ihre Treffen von Anfang an gewesen waren. Sie befanden sich an einem öffentlichen Ort, unterhielten sich, lachten zusammen und alles war sehr freundschaftlich. Das hatte Cora sich selbst beweisen wollen. Sie hatte sich beweisen wollen, dass sie nur befreundet sein konnten.
Eigentlich hatte Cora keine Ahnung, was sie da tat. Warum sie Frazer hinterherlief, während sie gleichzeitig versuchte, ihre Ehe zu retten. Es war eine Ablenkung. Von der Stille zu Hause, von dem, wie sie sich dort fühlte.
Mit Frazer fühlte sich Cora … wie sie selbst. Sie konnte sagen, was sie dachte, ohne sich deswegen dumm vorzukommen. Sie würden also Freundinnen sein. An öffentlichen Orten wie dem Café um die Ecke.
»Sollen wir gehen?«, fragte Frazer um achtzehn Uhr.
Das Café war leer. Ein einsamer Kellner wischte über die Tische am anderen Ende des Raumes, während leise Rockballaden aus den Lautsprechern erklangen.
»Warum briefst du mich nicht einfach hier?«
Frazer sah sich um. Offensichtlich um sicherzugehen, dass niemand in Hörweite war. »Okay. Also, der Fall, den ich für dich vorgesehen habe, ist irgendwie … komplex. Und liegt mir sehr am Herzen. Das ist teilweise auch der Grund, warum ich glaube, dass du die richtige Mentorin für dieses Kind bist.«
»Kind?«
Frazer stützte die Ellbogen auf den Tisch und sagte: »Ja. Ein Kind. Siebzehn. Lebt momentan in einer Obdachlosenunterkunft. Braucht viel Hilfe, was die Sozialdienste angeht. Ich werde die Hebamme sein. Wir werden uns diesen Fall teilen.«
Siebzehn, schwanger und wohnhaft in einer Obdachlosenunterkunft war nicht allzu komplex. Cora dachte bereits über die Optionen nach. Es gab ein paar Wohnprogramme, die vielleicht in Frage kämen. Bei diesen Fällen half es schon, wenn jemand einfach da war und sich regelmäßig erkundigte, wie es der Person ging. »Hört sich gut an.«
»Da ist noch eine Sache. Der Grund, warum Jack überhaupt in der Unterkunft ist, ist, dass seine Eltern ihn rausgeschmissen haben, weil er trans ist.«
Für einen Moment blieb die Welt stehen.
»O Mist.« Cora starrte sie einen Augenblick lang an. Trans? Und schwanger? »Wurde er vergewaltigt?«
Die Erleichterung auf Frazers Gesicht passte nicht zu ihrer Frage. »Nein. Er ist bisexuell und hatte einen Freund, der jetzt abgehauen ist. Jack hat erst in den letzten Monaten richtig mit der Anpassung begonnen und vor zwei Monaten dann erfahren, dass er schwanger ist. Er ist ziemlich verzweifelt.«
Cora war es peinlich, dass sie als Erstes an diese schreckliche Situation gedacht hatte, bevor ihr der Gedanke kam, dass Jack schwul oder bisexuell hätte sein können. Sie sollte keine vorgefassten Meinungen haben. »Das kann ich mir vorstellen. Nimmt er Hormone?«
»Er hat noch nicht angefangen. Seine Eltern hatten es ihm verboten und jetzt kann er sie sich nicht leisten.«
Cora nickte langsam. »Ich kann ihm einen Kinderpsychologen empfehlen, der sich auf LGBT-Fälle spezialisiert hat, um ihm durch diese Zeit zu helfen. Als Patient muss er das nicht aus eigener Tasche bezahlen, sobald wir ihm eine eigene Versicherungskarte besorgt haben.« Ihr kam ein Gedanke. »Er wollte keine Abtreibung?«
»Es ist zu spät.«
»Scheiße.« Mehr konnte Cora dazu nicht sagen. »Frazer, warum hast du so erleichtert ausgesehen?«
Frazer zögerte eine Sekunde lang. »Du hast von Anfang an er gesagt.«
»Ich hatte schon früher mit Transpersonen zu tun, Frazer. Er sagt, dass er er ist, also ist er er
»Es ist einfach erfrischend.«
»Das sollte es nicht sein.«
Jetzt konnte sie Frazers Gesichtsausdruck nicht deuten. »Nein, das sollte es nicht.«
»Hast du mit ihm über Adoption gesprochen?«
»Er ist noch unentschlossen. Ich glaube, dass er einfach mit jemanden darüber reden muss. Eine psychologische Betreuung würde ihm guttun, wenn es passt. Aber er braucht jemanden, der ihn unterstützt.«
»Ein Freund von mir arbeitet in einem Zentrum für Jugendliche. Ich werde mir von ihm eine Psychologin oder einen Psychologen empfehlen lassen. Da sich sein Körper jetzt so stark verändert und er keine Hormone nehmen kann – ich kann mir vorstellen, dass er viel Unterstützung brauchen wird, unabhängig davon, wie er sich mit dem Baby entscheidet.«
»Ganz genau.«
Einen Moment lang lächelten sie sich einfach an, froh darüber, dass jetzt ein Programm existierte, das Menschen in solchen Situationen helfen konnte.
»Okay.« Cora warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war einfacher, als Frazer weiter anzusehen. Sie wollte nicht, dass die Funken zwischen ihnen wieder zu sprühen begannen. »Wir sollten gehen.«
Gemeinsam schlenderten sie zurück zum Krankenhaus. Die Luft draußen schmeckte beinahe süß. Gestern hatte es den ganzen Tag geregnet und heute fühlte sich alles irgendwie gereinigt an. Sie schienen beide vor Aufregung über den Programmstart zu vibrieren. Die Umstände einiger Patienten würden schrecklich sein, keine Frage, aber Cora dachte nur daran, dass sie damit wirklich etwas bewegen konnten.
»Wer kommt morgen?«, fragte sie, als Frazer einen der Räume im Erdgeschoss aufschloss.
»Zwei Teenager, die gerade auch in Heimen leben. Keine Unterstützung.«
»Sofas?« Cora betrat das Zimmer und setzte sich auf eines der Sofas in der Ecke.
»Der Beratungsraum ist nebenan. Dieses Zimmer ist für Anmeldung und Gespräche gedacht. Papierkram gemeinsam durchgehen. Solche Sachen.«
»Gefällt mir.«
In der Ecke stand noch ein Tisch, die Couch und ein Sessel.
»Ist das ein Psychologenzimmer?«, fragte Cora.
»Ja.«
Frazer stand mitten im Raum, sah sich um und schwebte beinahe. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Auf keinen Fall würde Cora sie bitten, sich neben sie auf die Couch zu setzten. Sie waren schließlich nur Freundinnen.
»Willst du dich nicht setzen?«
Warum musste Cora das fragen? Gerade hatte sie entschieden, dass sie es nicht tun wollte. Als Frazer sie nur anstarrte, wuchs ihr Unbehagen.
Cora war unglaublich dankbar, dass es in diesem Moment leise an der Tür klopfte.
Die Tür wurde zaghaft geöffnet von einem Teenager, der sehr viel jünger als siebzehn aussah. Seine roten Haare waren planlos kurz geschnitten und Sommersprossen bedeckten seine Nase. Sein Gesichtsausdruck offenbarte zwar seine Unsicherheit, aber seine blauen Augen strahlten neugierig.
Frazers Lächeln hellte ihr ganzes Gesicht auf. »Jack! Hi. Hast du mit dem Bus gut hergefunden?«
Er richtete den Blick auf sie, obwohl er den Raum immer noch nicht betreten hatte. »Ich habe das Ticket benutzt, das du mir bei unserem letzten Treffen gegeben hast.«
»Super. Benutz es weiter. Ich sorge dafür, dass du immer genug Guthaben hast, um hierher und wieder zurück zu kommen.«
Jack trat einen zögerlichen Schritt in den Raum. Mit den Fingern spielte er nervös an den Ärmeln seines übergroßen Kapuzenpullovers, bis er schließlich die Arme vor sich verschränkte, als wüsste er nicht, was er sonst mit seinen Gliedmaßen tun sollte. »Wer ist das?«
Der arme Junge sah aus, als würde er gleich die Flucht ergreifen. Cora stand von der Couch auf. »Hey Jack. Freut mich, dich kennenzulernen – ich bin Cora.«
Seine Schultern entspannten sich.
Er sah zwischen ihnen hin und her.
»Hi.«
~ ~ ~
An dem Montag, nachdem Cora Jack kennengelernt hatte, aßen Frazer und Cora zufällig zusammen zu Mittag. Frazer hatte gerade eine Patientin gehabt, die bei der Geburt sehr laut geschrien hatte. Jetzt brauchte sie eine kleine Auszeit. Und ihr Büro war langweilig, wie Cora so treffend bemerkt hatte. Und grau.
Überall waren Menschen. Zuerst hatte sie ihr Glück in der Kantine versucht, aber die war voller Leute, die husteten oder niesten. Also kaufte sie sich schnell einen Wrap und eine Schokomilch (ja, manchmal war Frazer wieder gefühlte fünf Jahre alt) und ging zu den Bänken in einem der gepflasterten Innenhöfe der Klinik.
Wenigstens war sie nicht drinnen.
Natürlich hatte sie gesehen, dass Cora auch schon im Innenhof saß, und Frazer konnte sie nicht einfach ignorieren und sich auf eine andere Bank setzen. Dem zufälligen Mittagessen folgte an diesem Nachmittag ein zufälliges Kaffeetrinken. Und am nächsten Tag noch ein vollkommen ungeplantes Mittagessen.
Manchmal unterhielten sie sich über Musik. Ihre peinlichsten Lieblingslieder aus der Teenagerzeit. Sie lachten zusammen im Flur. Tia warf ihnen einen Blick zu, als sie an ihnen vorbeiging, und Frazer vergaß ganz, dass sie so tun musste, als würde sie sich nicht amüsieren. Daneben plante sie die Ausbildungswoche mit einigen Sozialarbeiterinnen und Hebammen. Sie bräuchte bald mehr Mentorinnen für ihre Patienten.
Und ganz nebenbei erfuhr Frazer, dass Cora mal einen Hund gehabt hatte, der ausschließlich linke Schuhe angeknabbert hatte. Dass ihre Großmutter ihr, als sie klein war, beigebracht hatte, wie man die Gerichte ihrer Vorfahren zubereitet. Speisen, die nach Gewürzen und Fisch schmeckten wie an den Ufern eines Dorfes, das alles frisch vom Boot bekam. Im Gegenzug erzählte Frazer ihr von ihrer eigenen Küche, die von den Gewürzen Indiens geprägt war.
Stück für Stück bauten sie so eine Brücke der Verbindung zueinander. Fast unbemerkt. Frazer versuchte sich einzureden, dass es nur Freundschaft war. Dass es keine Momente gab, in denen sie Coras Hals mit ihren Lippen berühren oder zu dieser betrunkenen Nacht zurückkehren wollte. Ohne Alkohol – nur sie und Coras Haut und nichts, das die Erinnerung daran trüben konnte.
Nachts lag Frazer wach und starrte an die Decke. Sie versuchte, sich an alles aus dieser Nacht zu erinnern, die Bewegungen von Coras Hüften, ihr Stöhnen. Wie ihre Augen ausgesehen und sich ihre Finger angefühlt hatten.
Die Erinnerungen waren verschwommen. Es blieb nur ein Aufblitzen von Bildern, Geräuschen und Gerüchen
Bis sie frustriert die Hände zwischen ihre Beine schob.
Und trotzdem versuchte Frazer sich einzureden, dass sie befreundet sein könnten.
Über Alec sprachen sie nie.
Wenn Frazer ihn bei der Arbeit sah oder ihm eine E-Mail schickte, machte sie sich immer und immer wieder deutlich, dass er Coras Ehemann war. Dass Frazer kein Recht auf diese Gedanken an Cora hatte. Nachts, wenn ihre Hände auf Wanderschaft gingen, überdeckte die Scham alles.
Sie konnte sich nicht einmal mehr selbst davon überzeugen, dass an ihrer Freundschaft nichts falsch war.
~ ~ ~
Cora mochte es sehr, Frazer um sich zu haben. Sie unterhielten sich, alberten herum – mit Frazer zusammen zu sein war einfach und kompliziert zugleich. Cora widerstand dem Drang, Frazer zu erzählen, dass Alec wütend gewesen war, als sie an dem Abend, als ihre Eltern zu Besuch waren, Spaghetti gemacht hatte. Und als in ihr das Bedürfnis wuchs, Frazer von der Therapie zu erzählen, unterdrückte sie es und erkundigte sich stattdessen nach ihrem Tag. Immer wenn Frazer ihr einen Kaffee vorbeibrachte und ihr den Becher mit dem für sie so typischen Grinsen auf den Schreibtisch stellte, versuchte Cora, nicht auf Frazers natürlichen Charme zu reagieren. Anstatt darüber zu sprechen, dass sie nachts vom Esstisch träumte und was darauf passiert war, sprach Cora vom Programm. Wenn der Drang schier übermächtig wurde, Frazer zu fragen, ob sie ihre Küsse auch immer noch auf ihren Lippen spüren konnte, sprach Cora stattdessen über Jack.
Ihre gemeinsame Nacht verfolgte Cora. Die Erinnerung strich ihr über die Haut, über ihre Lippen und bis hin zu ihrem Bauch, bevor sie sich zwischen ihren Beinen ausbreitete.
Dann dachte sie nicht mehr an die Therapie oder an Alec oder irgendetwas anderes. Es war irritierend und falsch.
Coras Schuldgefühle verfolgten sie unentwegt.
Aber sie erinnerte sich nicht so sehr an die Szene auf dem Esstisch. Es war der Kuss im Fahrstuhl, der ihr den Schlaf raubte. Der Kuss, den sie ignorierten, die Hitze von Frazers Zunge und wie sie ihre Brust unter ihren Händen gespürt hatte.
Und dann war Cora wieder im Fahrstuhl. Sie fuhr aus dem elften Stock, wo sie einen Patienten besucht hatte, hinunter zu ihrem Büro, um ein bisschen Papierkram zu erledigen. Später würde sie sich mit Alec zum Mittagessen treffen und dann mit ihm zu ihrem Termin zu Dr. Massey gehen. Denn, verdammt, Cora würde es versuchen. Die Wand des Fahrstuhls fühlte sich kühl an ihrem Rücken an. Warum hatte sie bloß den langsamen Fahrstuhl genommen?
Sie ignorierte die Stimme in ihr, die ihr zuflüsterte, dass sie es getan hatte, um dadurch später bei Alec anzukommen.
Nach zwei Etagen hielt der Fahrstuhl an und die Tür öffnete sich. Frazer trat ein, den Blick auf ihr Handy gerichtet. Erst als sich die Türen schlossen, sah sie auf.
»Hey.«
Frazer zeigte ihr typisches schiefes Lächeln, von dem Cora wusste, dass es aufrichtig war. Ungezwungen. »Hi.«
Der Fahrstuhl setzte sich wieder in Bewegung.
Und in diesem Moment wurde Cora klar, dass sie nicht im Erdgeschoss anhalten, dass sie nicht aussteigen und Alec treffen wollte.
Sie wollte bei Frazer bleiben.
Denk zur Abwechslung mal nicht nach.
Ohne zu zögern ging Cora auf Frazer zu und drückte auf den Not-Halt-Knopf an der Wand neben ihr. Dann schob sie Frazer mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. Etwas heftiger, als sie es vorgehabt hatte.
Frazer atmete überrascht aus und riss die Augen weit auf. Eine Sekunde lang bewegten sie sich nicht. Der Augenblick, in dem Cora hätte einen Schritt zurücktreten sollen. Stattdessen vergrub sie ihre Finger in Frazers OP-Kittel und zog sie an sich. Sie presste ihre Lippen auf Frazers und spürte ihre Zähne, ihre Zunge. Und Frazer … Frazer drückte sich ihr entgegen. Strich mit ihren Händen durch Coras Haare und packte sie, als würde sie Cora noch näher an sich ziehen wollen.
Cora wollte, dass es nie endete, aber sie waren immer noch in einem Fahrstuhl.
Mit großem Bedauern zog sie sich zurück. Legte einen Zentimeter Abstand zwischen beide. Frazers Augen leuchteten hell. Grün. Suchten Coras Blick.
Immer wenn Frazers Lippen ihre berührten, breitete sich eine große Ruhe in Cora aus. Eine Ruhe, die sie schon zu lange nicht gefühlt hatte. Cora trat langsam zwei Schritte zurück, lehnte sich an die hintere Wand und starrte Frazer einfach nur an. Sie beobachtete, wie sie ihren Kittel richtete. Als sich die Tür öffnete, drehte sich Frazer um und ging den Flur hinunter, Cora dicht auf ihren Fersen. Zum Glück war Lauren nicht an ihrem Schreibtisch. Niemand war da. Es war Mittagszeit. Die Tür zu Coras Büro fiel mit Leichtigkeit hinter ihnen zu. Das Schloss drehte sich widerstandslos.
Frazer lehnte sich an Coras Schreibtisch. Als sich Cora das Oberteil über den Kopf zog, folgte Frazer ihrem Beispiel. Cora schlüpfte aus ihren Schuhen und zog sich die Hose aus. Die Vibration ihres Handys in der Hosentasche erstarb, als sie die Hose zu ihrem Oberteil warf.
Am Ende war es ganz einfach, nachzugeben. Sich zwischen Frazers Beine zu stellen. Sich vorzubeugen, sich mit den Händen neben ihr auf dem Tisch abzustützen und sie zu küssen.
Frazers Haut fühlte sich unter ihren Lippen wie Seide an. Es sollte sie mit Schuldgefühlen erfüllen, ihr Schlüsselbein zu erkunden, tat es aber nicht. Coras Finger kämpften einen Moment mit dem Verschluss an Frazers BH, es war ein ungewohnter Winkel. Frazer bemerkte nicht einmal, dass sie stöhnte. Endlich schlossen sich Coras Lippen um ihre Brustwarze.
Das Dröhnen ihres eigenen Herzschlags in ihren Ohren hätte sie irritieren sollen. Aber für Cora war es wie das Trommeln eines Rhythmus, der sie anfeuerte. Eine musikalische Untermalung ihrer Untreue, der Takt ihres Fremdgehens. Cora sollte das hier nicht tun.
Ihre Finger zogen am Bund von Frazers Slip. Frazers Beine waren lang, dunkel, glatt, anders.
Als ihre Lippen unter Frazers Bauchnabel angekommen waren, hielt Cora inne. Frazers Bauch bebte sichtlich unter dem sanft vorbeistreichenden Atem. Als Cora aufsah bemerkte sie, dass Frazer sie beobachtete. Sie sah aus, als würde sie darauf warten, dass Cora aufstand und die Flucht ergriff.
Cora sprach aus, was sie nie von Frazer verlangen sollte. »Möchtest du meine Ablenkung sein?«
Frazer strich sich mit der Zunge über ihre Unterlippe und bei diesem Anblick wurde es ganz warm in Coras Bauch. Frazer nickte einmal.
»Und meine Freundin sein?« Coras Stimme stockte kurz.
Sie wusste nicht, ob es Sinn machte, oder ob es in Ordnung war, jemanden um so etwas zu bitten. Vor allem Frazer. Wie konnte sie um etwas bitten, wenn sie selbst gar nicht genau wusste, was sie meinte?
Frazer nickte wieder.
Und Cora küsste ihren Bauch. Sie glitt küssend immer tiefer, bis sich Frazers Hände in ihre Haare gruben und sie ihren Namen flüsterte.