Kapitel 18
»Du siehst erschöpft aus.«
Frazer zuckte erschrocken zusammen, nahm die Füße vom Tisch und setzte sich aufrecht hin. Vielleicht war sie eingeschlafen. Möglicherweise. Ihr Büro war warm und gemütlich und nachdem Jack sie die ganze Nacht wach gehalten hatte, fehlte ihr so viel Schlaf, dass sie gedacht hatte, ihr Büro wäre ein guter Ort für ein Nickerchen.
Mit vor der Brust verschränkten Armen und seltsam zusammengepressten Lippen, als würde sie versuchen, ein Grinsen zu unterdrücken, saß Tia ihr gegenüber und beobachtete sie. Sie sah aus, als säße sie schon länger da.
Frazer rieb sich die Augen und fühlte sich wie ein Kind. »Danke, Tia, sehr charmant.«
Tia hob die Augenbrauen. »Na ja, ich sage nur die Wahrheit.«
Frazer sackte wieder auf ihrem Stuhl zusammen. »Was willst du?«
»Wie war deine Bereitschaft letzte Nacht?«
Frazer schluckte. Das war die Frage des Tages. Seit ihrer ersten Solo-Geburt war sie nicht mehr so aufgeregt gewesen. Das kleine Bündel Leben, Käferchen, hatte mit so kräftigen Lungen geschrien, dass es sie fast umgehauen hätte. »Gut.«
Gut
war nicht ganz das richtige Wort, aber ihr fiel kein besseres ein.
»Gut zu wissen. Hast du geschlafen?«
Frazer zuckte mit den Schultern. »Ein paar Stunden im Bereitschaftszimmer.« Lüge. Sie hatte es gerade eben an genau diesem Tisch getan.
Eigentlich hatte sie davor ein paar Stunden an die Wand gestarrt und sich an den Ausdruck in Coras Augen erinnert, als sie sie angesehen hatte. Statt Wut hatte sie nichts gefühlt. Frazer war zu müde und fühlte sich zu taub, um irgendetwas davon zu verarbeiten.
Nach einem langen Moment, der sich für immer in ihr Gedächtnis eingegraben hatte, hatte Jack ihr das Baby zurückgegeben und Frazer
hatte es an den Vertreter der Adoptionsagentur weitergereicht. Anschließend waren Cora und Frazer noch bei Jack geblieben, bis er eingeschlafen war. Seine Augen hatten wieder diese Melancholie ausgestrahlt, die selbst noch seine dunklen Augenringe überschattet hatte. Beim ersten Anzeichen, dass Jack weggetreten war, war Frazer aus dem Raum geflohen und hatte Cora zurückgelassen. Cora hatte noch ihren Namen geflüstert, aber Frazer hatte einfach keine Energie mehr.
»Ein paar Stunden reichen nicht. Solltest du nicht nach Hause gehen?«
Frazer wollte nicht nach Hause gehen. Sie wollte nicht denken. Sie wollte sich mit ihrer Arbeit ablenken. In ihrem Büro schlafen und so tun, als wäre sie mit Arbeit überhäuft. »Ich gehe heute früher.«
Tia hob fragend die Augenbrauen.
»Das mache ich!«
»Natürlich tust du das.«
Seufzend fragte Frazer: »Bist du nur hierhergekommen, um mich zu bemuttern?« Das Schweigen, das ihr antwortete, ließ Frazer aufblicken. Tia musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, den Frazer nicht deuten konnte. »Tia?«
Geschürzte Lippen, aufmerksam erhobene Augenbrauen. »Cora hat dich beobachtet.«
Gott, war das alles? Frazer verdrehte die Augen. »Ich weiß. Ich hab ihr gesagt, dass sie damit aufhören soll.«
»Aber das hat sie nicht.«
Frazer hatte hierfür gerade wirklich nicht den Nerv. »Tia, was willst du von mir? Wir haben es beendet. Sie hat mir gesagt, dass ich sie in Ruhe lassen soll, ich habe ihr gesagt, dass sie aufhören soll, mich die ganze Zeit zu beobachten. Ich halte mich von ihr fern.«
Tia lehnte sich entspannt in ihrem Stuhl zurück. »Okay. Aber vielleicht solltest du das nicht?«
Vielleicht sollte sie das nicht? War Tia nicht furchtbar wütend gewesen, weil sie es nicht vorher beendet hatte? Frazers Affäre mit Cora war dämlich und egoistisch und falsch gewesen. Und jetzt sagte Tia … »Was?«
Tia verzog wieder die Lippen, während sie Frazer musterte, als würde sie nach einem bestimmten Hinweis Ausschau halten. »Willst du
mit ihr zusammen sein?«
Einen Moment lang blieb Frazer die Luft weg. Das war eine Frage, die sie sich selbst nie erlaubt hatte. Eine, die nicht einmal in ihrem Hinterkopf geflüstert werden durfte. Und eine, vor der sie auch jetzt mehr und mehr zurückschreckte. Sie konnte immer noch nicht richtig atmen. In ihrem Kopf brummte es. Wie hilfreich. »Nein«, sagte sie knapp.
Tia sah sie zweifelnd an. »Natürlich.«
Frazer kniff ihre Augen zusammen. Öffnete sie wieder. Starrte Tia an, die nur den Kopf schüttelte, die Arme in die Luft warf und ihr Büro verließ.
Frazer wurde wütend. Das war ihr Ernst. Auf der Basis, die sie geschaffen hatten, konnten sie keine gute Beziehung aufbauen. Alles war chaotisch. Cora war durcheinander und erst seit kurzem getrennt, wenn die Gerüchte stimmten.
Heute war ein beschissener Tag.
~ ~ ~
»Alec, ich brauche meine Sachen.«
Er starrte sie nur wortlos von der anderen Seite seines Schreibtisches aus an. Blinzelte. Tippte mit dem Kugelschreiber auf die Unterlagen vor sich. Blinzelte wieder.
Cora hatte ihn erneut bei der Arbeit aufsuchen müssen, weil er sich einfach nicht mit ihr an einem neutralen Ort treffen wollte.
»Deine Sachen?«, fragte er.
Cora seufzte innerlich. »Ja, meine Sachen. Ich muss vorbeikommen und ein paar Dinge abholen.«
Alec ließ den Stift fallen, lehnte sich zurück und hob die Hände. »Cora, es ist unser
Haus. Du kannst nach Hause kommen, wann immer du willst.«
Cora hatte in den letzten Jahren oft auf dem Stuhl gesessen, auf dem sie gerade saß. Früher hatten sie gemeinsam zu Mittag gegessen, manchmal schweigend, manchmal begleitet von belangloser Unterhaltung. Jetzt fühlte sich der Stuhl unter ihr fremd an, genauso wie der Mann ihr gegenüber. Das tat er schon seit langer Zeit. Vielleicht war er das in Wahrheit schon immer gewesen. »Ich will nicht nach Hause kommen, Alec. Ich will nur ein paar meiner Sachen
holen.«
Er schnaubte. »Warum? Warum tust du das, Cora? Komm nach Hause. Wir können über alles reden – wir können wieder zu Dr. Massey gehen. Warum willst du alles wegwerfen?«
Cora ging schon zu Dr. Massey, nur konzentrierte sie sich zur Abwechslung auf ihre eigenen Bedürfnisse. Sie fühlte, wie es in ihrer Brust eng wurde, und der flehende Ton in seiner Stimme legte sich um ihr Herz und drückte es zusammen. »Dafür ist es zu spät, Alec.«
»Es ist nie zu spät.«
Doch, das war es. Er würde sich nicht ändern, das konnte Cora jetzt sehen. Es war so klar, dass es sie schon fast blendete. Er war von Anfang an kontrollsüchtig gewesen, aber damals hatte er es unter seinem Charme und seiner Sanftmut versteckt. Er hatte sie in dem sicheren Glauben gelassen, dass er sie ihretwegen
ständig um sich haben wollte. Nicht, weil er die ganze Zeit wissen wollte, wo sie war und was sie machte. Nicht, weil er das Gefühl haben musste, sie zu besitzen. Nicht, weil er das Gefühl hatte, sie würde ihm
gehören.
»Alec, es tut mir leid. Es ist zu spät.« Sie starrten einander einen Moment lang an, dann sagte Cora. »Ich komme heute Abend vorbei, wenn du noch auf der Arbeit bist.«
Sie erwähnte nicht, dass Lisa sie zur Sicherheit begleiten wollte. Für den Fall, dass er da sein würde, um sie daran zu hindern, ihre Sachen mitzunehmen und sie zu überreden, bei ihm zu bleiben.
Der Kiefermuskel in seinem Gesicht zuckte. »Du kannst nicht einfach kommen, wann es dir passt.«
So viel dazu, dass es »unser
Haus« war. Cora atmete tief ein, um ruhig zu bleiben, doch es fühlte sich zittrig an. »Ich weiß. Deshalb bin ich hier, um mit dir darüber zu reden.«
»Fickst du jemand anderen?«
»Was?« Cora spuckte das Wort aus. Wortwörtlich. Sie hatte nicht gewusst, dass das im realen Leben möglich war. Hitze schoss ihr in die Wangen. »Nein, natürlich nicht.«
Er starrte sie mit kalten Augen an. Es kostete sie all ihre Kraft, seinem Blick nicht auszuweichen, denn – so sagte sie sich – sie schlief ja nicht mit jemand anderem. Nicht mehr. Und irgendwie schaffte sie es, nicht schuldbewusst wegzuschauen.
»Hol all deine Sachen, Cora. Das Haus wirst du auf keinen Fall
bekommen. Du wirst nichts bekommen.«
In diesem Moment schien es nicht klug zu sein zu erwähnen, dass sie das Haus überhaupt nicht habe wollte. Sie wollte nichts haben. Sie wollte nur frei sein und neu anfangen. Die Hypothek mit dem Haus klären und weitermachen. Aber hauptsächlich konnte sie nur an Frazers Augen denken, an das Grün, das sie verfolgte, und die Worte, die Cora ihr sagen wollte, auch wenn sie sich noch nicht sicher war, welche das waren.
Cora stand auf, nickte und floh aus dem Zimmer und vor dem Mann, den sie nicht wiedererkannte. Ihre Hände zitterten und zum ersten Mal, seit all das angefangen hatte, fragte sich Cora, wie sie weiter mit ihrem Ex-Mann in spe zusammenarbeiten sollte.
Und ihrer Ex-Geliebten.
Auf dem Weg nach draußen warf sie Tia an ihrem Schreibtisch ein Lächeln zu. Es fühlte sich dünn an, als würde es ihre Wangen dehnen. Tia schaute sie an, ohne zu blinzeln.
Cora drückte den Rücken durch und machte sich auf den Weg, um nach Jack zu sehen.
~ ~ ~
In der Kantine roch es nach frittiertem Essen. Frazers Magen knurrte so laut, dass sich der Mann vor ihr in der Schlage umdrehte und sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. Sie sah ihn einfach ausdruckslos an. Als ihr Magen wieder knurrte, musste er lachen, und sie gab mit einem schiefen Grinsen nach.
Nachdem sie ihr Tablett mit allem Frittierten gefüllt hatte, was auf der Karte stand, sah sie sich im Raum nach einer Sitzmöglichkeit um und rümpfte die Nase. Alle Tische waren besetzt. Der Raum war voller Patienten, ihren Besuchern und dem Krankenhauspersonal. Wenn es nicht regnete, würde sie sich nach draußen setzen und eine Hauswand anstarren. Da war die Luft wenigstens besser als hier. Frazer umklammerte ihr Tablett fester, als sie doch noch einen freien Tisch in der hintersten Ecke entdeckte, in der Nähe des Ausgangs.
Sie lief ohne Umschweife in Richtung Tisch, den Blick konzentriert nach vorn gerichtet. Ausnahmsweise war das Glück auf ihrer Seite. Scheppernd stellte sie das Tablett ab und schob sich bereits eine Handvoll Pommes in ihren Mund, bevor sie sich auf dem schrecklichen
Plastikstuhl niederließ.
Salz und Fett legten sich in einer wundervollen Explosion aus Kalorien und Begeisterung über ihre Geschmacksnerven. Sie schob sich eine weitere Handvoll Pommes in den Mund und kaute gierig, während sie ihren Burger auspackte. Wahrscheinlich hatte er schon seit Stunden unter der Wärmelampe gelegen, aber das war ihr in diesem Moment egal. Wenn um sie herum keine Leute gewesen wären, hätte sie glücklich aufgestöhnt. Essen war ein wahrer Segen, denn sie war am Verhungern und die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Und vielleicht hatte ihr Gefühlschaos auch damit etwas zu tun. Aber das war vollkommen normal. Jedes Frauenmagazin würde da auf ihrer Seite stehen.
Und Frazer hatte viele Gefühle. Keine, die man als gesund bezeichnen würde. Zumindest ihr Plan war gesund.
Als ihr Handy vibrierte, öffnete sie die Nachricht, ohne darauf zu achten, von wem sie kam, denn eine neue Handvoll Pommes war bereits auf dem Weg zu ihrem Mund.
Cora suchte nach ihr. Um über Jack zu reden.
Das weckte in Frazer den Wunsch, sich vollständig von Cora zu trennen. Egal, ob sie Gefühle für sie hatte oder nicht. Selbst wenn der Großteil dieser Gefühle im Moment von Wut überdeckt war. Egal, ob Cora sie während der Geburt von Jacks Baby die ganze Zeit mit diesem Blick angesehen hatte, den Frazer wiedererkannte. So hatte Cora sie nach der Nacht angesehen, in der zwischen ihnen definitiv mehr gelaufen war als nur bedeutungsloser Sex.
Sie schloss die Nachricht. Sie würde in Jacks Zimmer vorbeischauen und sich nach dem Mittagessen vergewissern, dass alles in Ordnung war, aber sie wollte sich nicht mit Cora treffen.
Denn was auch immer zwischen ihnen war, es war ungesund. Und sie konnten es nicht fortführen. Selbst wenn Cora die Scheidung eingereicht hatte, war sie noch immer mit ihrem Ehemann verbunden. Wahrscheinlich war sie hetero. Zumindest soweit Frazer wusste.
Frazer leckte sich Tomatensoße vom Daumen und es war ihr egal, dass sie dabei vollkommen unprofessionell aussah. Denn in ihrem Privatleben verhielt sie sich gerade professionell genug.
Sie musste Cora vollständig aufgeben, auch als Freundin.
»Hey Frazer.«
Natürlich war sie
es. Frazer schaute auf. »Cora. Hi.« Das würde etwas schwierig werden, wenn sie zusammen das Programm leiteten. Auch wenn Cora umwerfend und müde aussah und Frazer einfach nur wissen wollte, wie es ihr ging.
»Du, ähm, hast da was.« Cora setzte sich Frazer gegenüber und deutete auf ihr eigenes Kinn.
»Oh. Danke.« Tja, das war peinlich. Als sie sich mit der Serviette übers Kinn wischte, entdeckte sie danach einen großen Fleck Soße auf dem Papier. Frazer war der Inbegriff von Coolness.
Aber Cora schien es nicht zu stören. Sie sah Frazer offen an, eine Falte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet. Frazer wollte eine Auszeit von diesem Blick, den sie nicht verstand.
»Warst du heute bei Jack?«
Frazer legte das letzte Stück ihres Burgers auf das Tablett, denn ihr war der Appetit vergangen. Warum konnte Cora sie nicht in Ruhe lassen? Hatte sie sie wirklich hier in der Kantine gesucht? Nur, weil sie noch nicht auf ihre Nachricht geantwortet hatte?
Zugegeben, Frazer hatte in letzter Zeit auf keinen Kommunikationsversuch reagiert.
Warum hatte sie die Anziehung, die sie vor vielen Monaten für diese Frau empfunden hatte, nicht einfach ignoriert und sie nur dazu benutzt, um ihr Programm zu starten – ohne diese ganze Affäre?
»War ich. Es scheint ihm gut zu gehen. Er kann morgen entlassen werden.«
»Er meinte gerade, dass er sich freut, aus dem Krankenhaus zu kommen, also ist das gut. Er ist erstmal … verletzlich. Aber ich glaube, er hat das Gefühl, das Richtige getan zu haben«, sagte Cora und sah Frazer immer noch mit diesem Blick an.
Frazer versuchte, ihm zu entkommen, indem sie einen Schluck von ihrem Wasser trank und sich auf ihre nächsten Worte konzentrierte. »Tja, du hast ihm sehr geholfen. Und zumindest während der nächsten sechs Monate wird er so viel Unterstützung bekommen, wie er braucht.«
»Der erste Erfolg des Programms.«
Frazer nickte und schaute wieder zu Cora. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass Cora aufhören würde zu starren. Um sie herum wuselte es in der Kantine und bildete eine unpassende
Hintergrundkulisse für einen derart intensiven Blick.
Genau das hier war der Grund, warum Frazer nicht konnte. Sie hatte vor Jahren bereits eine eklige, sehr öffentliche Trennung bei der Arbeit hinter sich gebracht. So etwas brauchte sie sicher nicht noch einmal.
Genauso wenig wie Cora.
Cora hatte genug eigenen Kram, um den sie sich kümmern musste.
»Cora …«
»Frazer …«
Sie lachten leise. Cora ließ Frazer immer noch nicht aus den Augen und biss sich auf die Unterlippe.
»Es tut mir leid, dass ich dich letztens einfach geküsst habe.«
Frazer hatte gewusst, dass es ihr leidtun würde. »Schon okay.«
»Nein, ist es nicht.« Cora legte den Kopf schief und musterte sie. »Es war nicht so, wie ich es hätte tun wollen.«
Diese Worte, so voller unterschwelliger Bedeutung, passten nicht in Frazers Plan. Der Plan, nach dem sie getrennte Wege gehen würden. Ihr Herz schlug schneller in ihrer Brust, als dieser Ausdruck in Coras Augen langsam einen Sinn ergab. Die Sorge in ihrem Blick, als Frazer sich den Kopf angeschlagen hatte und Coras Finger sanft auf ihrer Haut gelegen hatten. Der ungläubige, seltsam freudige Ausdruck auf Coras Gesicht, als Frazer sie angeschnauzt hatte, dass sie aufhören sollte, sie zu beobachten.
Jetzt lag derselbe Ausdruck auf ihrem Gesicht.
Nicht wie
Cora es hätte tun sollen. Warum hatte sie nicht einfach sagen können, dass sie es überhaupt nicht hatte tun sollen? Aber nicht wie
.
Das war eine schrecklich schlechte Idee, die zu nichts Gutem führen konnte. Erschöpfung legte sich schwer über Frazer. Sie stand auf und sah zu Cora hinab, die sie mit einem überraschten Blick ansah. »Ich muss gehen, Cora.«
»Frazer …«
Frazer verzog das Gesicht und schluckte eine Welle an Emotionen hinunter, die in ihrer Kehle aufstiegen. So hatte ihr Name noch nie auf Coras Lippen geklungen. Beinahe verzweifelt. Ironie des Lebens, dass Frazer jetzt davor weglaufen würde, nachdem sie immer gehofft hatte, ihn so zu hören. Auch, wenn diese Hoffnung unbewusst gewesen war.
»Bitte nicht«, sagt Frazer.
Als Frazer einen Schritt zurücktrat, fasste Cora ihre Hände und umschloss sie wie ein Schraubstock. Coras Finger fühlten sich heiß an.
Hier war nicht der richtige Ort dafür, genau deshalb hatte Frazer die Begegnung vermeiden wollen. Sie sollten nicht dabei gesehen werden. Denn selbst wenn sich Cora scheiden ließ, war alles viel zu früh. Alec durfte es nicht wissen. Cora war immer noch gebunden.
Es war alles viel zu chaotisch und für keinen von beiden gut.
Cora sah mit flehendem Blick zu ihr auf und Frazer schüttelte den Kopf. Sie vertraute weder sich noch den Worten, die sie sagen würde. Frazers Augen begannen zu brennen.
Und irgendwie, glücklicherweise, verstand Cora. Denn sie ließ ganz langsam los und strich mit den Fingerspitzen über Frazers.
Bevor sie ihre Meinung ändern konnte, schnappte sich Frazer ihr Tablett und flüchtete, während sich Coras Blick in ihren Rücken bohrte. Sie warf das restliche Essen in den Mülleimer und legte das Tablett auf den Stapel. Dann schob sie ihre Hände tief in die Taschen und verließ die Kantine auf dem Weg, auf dem sie gekommen war.
Als sie Alec in der Tür stehen sah, der sie mit einem Blick musterte, den sie nicht lesen, leider aber erraten konnte, hielt sie einen Moment den Atem an.
Sie nahm all ihre Kraft zusammen, um sich zu einem Lächeln zu zwingen. »Hey Alec.«
Sie ging an ihm vorbei, ohne herausfinden zu wollen, ob er es wusste.
Es gab nichts mehr zu wissen.
~ ~ ~
Der Schlüssel ließ sich ganz leicht ins Schloss schieben.
Mit Lisas beruhigender Hand an ihrem Rücken, betrat Cora ihr ehemaliges Zuhause. Der vertraute Geruch legte sich über sie: der schwere Holzgeruch, der ihr immer als Erstes auffiel, wenn sie ein paar Tage nicht zu Hause gewesen war, der Geruch des Waschmittels, das sie für ihre Kleidung benutzen. Das plötzliche Aufwallen von Nostalgie traf sie unerwartet und übermannte sie. Cora wollte sich einfach nur neben Lisa auf ihrer neuen Couch zu einer Kugel einrollen und weinen.
Seit Frazer heute vor ihr geflohen war, war Cora wie benebelt. Alles
fühlte sich offen und wund an. Sogar die Luft schmerzte auf ihrer Haut. Sie hatte sich nicht einmal richtig auf ihre Klienten konzentrieren können.
Etwas war an diesem Tisch zwischen ihnen passiert, etwas ohne Worte, aber Cora hatte den Ausdruck auf Frazers Gesicht gesehen, das Schimmern in ihren Augen, und ihr war klar geworden, dass es vorbei war. Frazer war gegangen und dieses Mal hatten sie beide es verstanden, ohne dass eine es hätte aussprechen müssen.
Es hatte sich angefühlt, als wäre sie zerbrochen, und müsste ihre Einzelteile erst wieder zusammensammeln. Vielleicht würde Cora in ein paar Tagen auf Frazer zugehen und sie nach dem Grund fragen, nach was
und wann
. Aber noch nicht jetzt; nicht, wenn sich alles noch so wund anfühlte. Cora brauchte eine Auszeit, selbst wenn das im Moment nur bedeutete, eine Weile die direkte Konfrontation zu vermeiden.
Eine Auszeit wäre großartig.
In der Zwischenzeit sammelte sie den Rest ihrer Kraft zusammen, um durch ihr altes Leben zu gehen. Sie schaute nicht auf die Fotos an der Wand und versuchte, die Vertrautheit zu ignorieren, das Gefühl von Geborgenheit, das trotz allem in ihr aufwallte, als sie einen Fußboden unter ihren Füßen spürte, über den sie schon tausendmal gegangen war. Der frühe Abend füllte die Küche mit einem gedämpften Licht, als sie und Lisa eintraten. Es war noch nicht so dunkel, dass sie das Licht einschalten mussten, und auch nicht mehr so hell, dass sich die Ruhe des Dämmerlichts nicht ausbreiten konnte.
Cora stellte den großen Karton ab, den sie mitgebracht hatte. Den riesigen Koffer platzierte sie daneben. Lisa brachte ihren eigenen Koffer sofort nach unten ins Wohnzimmer. Bevor sie hierher gefahren waren, hatten sie entschieden, dass Lisa die Bücher einpackte, während Cora ihre anderen Habseligkeiten zusammensuchte.
Es dauerte nicht lange, bis sie alles zusammenhatten, was sowohl eine Erleichterung als auch eine Überraschung war. Küchenutensilien, Geschenke für Cora und alles andere landete in dem Karton – Sachen von ihren Großeltern, ein paar Fotoalben, ihre Tassensammlung.
Das war alles.
»Ich hole noch meine restlichen Klamotten.«
Lisa richtete sich auf. »Soll ich mitkommen?«
Cora schüttelte den Kopf: »Nein, ist schon in Ordnung. Es dauert nicht lange. Nur die Klamotten, Zeug aus dem Badezimmer und das Gemälde im Gästezimmer.«
Lisa hatte bereits die Hälfte der Bücher eingepackt. »Okay.« Sie zog ein weiteres Buch aus dem Regal, öffnete es, um nach Coras Namen zu suchen, und legte es erst dann in ihren Koffer.
Cora hatte es schon immer geliebt, ihren Namen in ihre Bücher zu schreiben. Es machte sie zu etwas, das ganz allein ihr gehörte. All diese Worte, die Geschichten, gehörten so ganz ihr. So viele Worte, die ihr zur Verfügung standen. Früher hatte sie es albern gefunden, ihren Besitzanspruch offensichtlich geltend zu machen. Aber jetzt, als ihr Blick auf Lisa fiel, während sie die Bücher einpackte, war Cora dankbar dafür.
»Danke, dass du mitgekommen bist.« Coras Stimme war leiser als geplant, aber sie meinte es aufrichtig. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob Alec versuchen würde, sie umzustimmen, oder auch einfach nur ihren Wunsch ignorieren würde, nicht zu Hause zu sein. Lisa an ihrer Seite zu haben, hatte das Herkommen so viel einfacher gemacht. Vor allem nach dem Tag, den Cora hatte.
Lisa drehte sich nicht mal um, aber das musste sie auch nicht.
»Jederzeit, Sonnenschein.«
Cora zerrte den Koffer nach oben. Der Gedanke, dass sie heute das letzte Mal hier wäre, war seltsam.
Zuerst nahm sie das Gemälde aus dem Gästezimmer von der Wand – eine dramatische Meereslandschaft vor Rottnest Island, das sie dort vor Jahren von einem Mann auf der Straße gekauft hatte. Ihr Blick war über seine Werke gewandert, bis sie dieses Gemälde entdeckt und sich sofort verliebt hatte. Sie lehnte es ans Treppengeländer und blieb vor dem Schlafzimmer stehen. Der Koffer lag schwer in ihrer Hand, als sie die Tür aufdrückte und über die Schwelle trat.
Sie erstarrte augenblicklich, ihr Griff um den Koffer versteifte sich noch mehr, und Schweiß brach auf ihrer Haut aus.
Alec saß auf der Bettkante und wartete auf sie. »Hallo Cora.«
Coras Mund war plötzlich trocken. Sie leckte sich über die Unterlippe, als würde das helfen. »Alec. Warum bist du hier?«
Warum hatte er nicht dieses eine Mal tun können, worum sie ihn gebeten hatte?
»Wir müssen reden.« Seine Stimme war so seltsam ruhig, dass es sie beunruhigte.
»Wir haben geredet.« Cora hatte keine Kraft mehr. Nicht nach diesem Tag, nicht nach allem, was passiert war. Was gab es noch zu sagen?
»Ich glaube, ich verstehe es jetzt.«
Die Bemerkung machte sie trotz allem neugierig. Er verstand jetzt ihre Beweggründe für die Scheidung? Wollte er sich etwa entschuldigen? Wollte er sich mit ihr aussprechen, um abzuschließen?
Als sie nichts sagte, sondern ihn einfach nur vorsichtig beobachtete, fuhr er fort. »Du fickst Frazer.«
Alles um sie herum kam zum Stillstand. Sein ruhiger Gesichtsausdruck hatte sich nicht geändert. Er sah sie reglos an. Kalt. Cora hörte ein Klingeln in ihren Ohren und sie hatte das Gefühl, als würde die Welt aus den Fugen geraten. Sie räusperte sich. »Wie kommst du darauf?«
»Verkauf mich nicht für dumm. Ich weiß Bescheid. Ich habe dich in der Kantine gesehen.« Sein Blick verhärtete sich.
Die Kantine? Cora versuchte, sich so schnell wie möglich zu erinnern. Es war nichts passiert, was er hätte sehen können. Cora war sich ihrer Umgebung sehr bewusst gewesen, ebenso wie der Tatsache, dass sie beobachtet werden konnten. Trotz der Panik, die in ihr aufstieg, als Alec sie betrachtete und auf eine Reaktion wartete, kam Cora ein Gedanke. Was für eine Beziehung wäre das für Frazer gewesen? Das Geheimnis einer Frau zu sein, die versuchte, sich aus einer unglücklichen Ehe zu befreien? War sie deshalb gegangen?
Aber in der Kantine war nichts passiert. Cora hatte nur Frazers Hände genommen, als sie hatte gehen wollen. Das war alles. Es war nichts, nichts im Vergleich zu dem, was er in anderen Räumen dieses Gebäudes an anderen Tagen hätte sehen können.
»Was meinst du damit, du hast mich in der Kantine gesehen?«, fragte sie. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Gesichtsausdruck verwirrt und nicht ertappt wirkte.
Er kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen und Cora wusste, dass sie gescheitert war. »Spiel mir nichts vor, Cora. Dafür bist du nicht klug genug.« Als Cora nicht darauf antwortete, fuhr er fort. »Es steht dir deutlich ins Gesicht geschrieben.« Jetzt verzerrte sich sein
Gesichtsausdruck und Ekel legte sich über seine Beherrschtheit. »Ich konnte es ganz klar sehen.«
Konnte Cora es leugnen? Sollte sie das überhaupt? »Es war nichts, Alec.«
Lügen und noch mehr Lügen. Cora hätte nie gedacht, dass sie so oft lügen konnte. Es hatte nie in ihrer Natur gelegen. Sie konnte ihm selbst jetzt nicht in die Augen sehen und alles abstreiten.
Sein Lachen war hart und schrill. »Meinst du etwa, du wärst lesbisch?«
»So war es nicht, Alec. Es war vorbei, bevor es angefangen hat.« Ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust. Ihr wurde schwindlig davon. Sie konnte ihm nicht die ganze Wahrheit sagen, sie konnte einfach nicht.
Er beobachtete sie einen Moment mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Dann komm zu mir zurück.«
Was? Wie um alles in der Welt konnte er sie darum bitten? Es sei denn, er dachte, dass es bei der Scheidung nur darum gehen würde. »Alec …«
»Du … du warst verwirrt, das kann ich verstehen. Aber du hast gerade gesagt, dass es vorbei war, bevor es angefangen hat. Also komm zurück zu mir.«
»Ich verlasse dich nicht deswegen, Alec.«
Da war sie wieder, diese Härte in seinem Gesicht. »Das muss der Grund sein.«
»Das ist er nicht. Ich habe die Scheidung eingereicht, weil ich
nicht glücklich war. Schon lange nicht mehr.«
»Wir sind zur Therapie gegangen.«
»Und nichts hat sich geändert!« Ungewollt durchdrang Wut ihre Stimme.
»Du kannst mir nicht die Schuld dafür geben, nicht, wenn du diese verdammte Lesbe so ansiehst.«
Cora musste gehen. Sie musste hier raus. Dieses Gespräch würde nirgendwohin führen. Tief durchzuatmen half auch nicht. »Ich gebe niemandem die Schuld. Aber es ist vorbei, Alec.«
»Es hat gerade erst angefangen, Cora. Glaubst du, ich werde euch beide auf der Arbeit einfach so weitermachen lassen? Glaubst du, du könntest dich einfach von mir scheiden lassen und eine Affäre mit irgendeiner Lesbe anfangen, ohne dass es Konsequenzen hat? Für dich
und für sie?«
Gott. Er würde ihren und Frazers Job in Gefahr bringen. Was war mit dem Programm? Cora wusste, dass es nichts gab, was sie ihm entgegenhalten konnte, und verdrehte die Wahrheit noch mehr. »Mit Frazer läuft nichts.« Nicht mehr. Und sie würde nicht zulassen, dass ihre schlechten Entscheidungen Frazers Karriere ruinierten. »Gar nichts.«
»Aber du willst, dass da was läuft.«
Die Verbitterung in seiner Stimme war so groß, dass sie Cora beinahe schmecken konnte. Sie schüttelte den Kopf, wusste aber, dass er ihr das nicht abkaufen würde. Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie konnte sich auf keinen Fall zu einer derartigen Lüge durchringen. Sollte er doch glauben, dass es nur eine Schwärmerei ihrerseits gewesen war. Die Andeutung, dass er Frazers Job gefährden könnte, reichte Cora, um das Geheimnis über diese Affäre vor ihm zu bewahren.
»Verschwinde, Cora. Das ist nicht mehr dein Haus.«
Das war ihr schon länger klar gewesen und endlich begriff es auch Alec.
»Ich brauche meine Sachen.«
Seine Augen funkelten wütend und er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Du hast zehn Minuten. Ich warte unten. Lisa soll auch verschwinden.«
Als er ging, hielt er den Kopf hoch erhoben. Sie trat einen Schritt zur Seite, um ihn an sich vorbeigehen zu lassen, aber er blieb neben ihr stehen. Ihre Schultern berührten sich beinahe.
Cora musste sich zurückhalten, um nicht vor der Hitze, die er ausstrahlte, zurückzuweichen. Sie konnte seinen gepressten Atem hören, wie immer, wenn er wütend war.
»Das wirst du bereuen, Cora.« Seine wütende Stimme ließ dieses Mal keinen Raum für Zweifel. Er meinte es als Drohung. Trotzdem wurde er nicht laut. »Deine Familie wird sich für dich schämen. Du wirst dich schämen. Du wirst traurig und allein enden. Ohne mich bist du nichts.«
Er hielt inne und sie wusste, dass er in ihrem Gesicht nach irgendeiner Reaktion suchte. Sie gab sie ihm nicht.
Schließlich ging er endlich.
Zitternd kramte Cora ihre restlichen Sachen zusammen. Sie nahm
die Bilderrahmen mit, die ihr gehörten, mit den Fotos ihrer Familie und Freunde. Sie plünderte das Badezimmer, stopfte alles in den Koffer und musste sich auf den Deckel setzen, um den Reißverschluss zuzuziehen. Er schlug auf jeder Stufe auf, als sie ihn nach unten hievte. Lisa wartete mit weit aufgerissenen Augen im Flur. Sie sah Alec nur aus dem Augenwinkel in der Küche stehen.
»Hast du alles?«, fragte Lisa.
Cora nickte.
»Bist du sicher? Nimm dir eine Minute.« Lisa drückte ihren Arm und Cora widerstand dem Drang, sich an sie zu lehnen – jegliche Art von Trost zu suchen.
»Ich habe alles, was ich brauche.«
Und ohne ein Wort von Alec, oder an ihn, verließen sie das Haus.
~ ~ ~
In dieser Nacht, nur vom Schein ihres Aquariums beleuchtet, recherchierte Frazer.
Sie öffnete jede Behördenseite, die ihr einfiel, die irgendetwas mit Gesundheit zu tun hatte. Sie überprüfte nochmal die Unterlagen für den Etat des Programms, die das Krankenhaus ihr gegeben hatte. Sie wollte herausfinden, ob die Mittel, die aus dem Krankenhaus ins Programm flossen, privat oder staatlich finanziert waren.
Sie verschickte zahllose E-Mails und Förderungsanträge. Sie hatte schon so lange über dieses Programm nachgedacht, aber hatte es erst mit dem Sicherheitsnetz ihres Vollzeitjobs in Gang bringen können. Nach ihrer letzten Trennung war sie ein Häufchen Elend gewesen und die Stabilität ihres Jobs hatte einen Großteil dazu beigetragen, sie aus diesem Loch herauszuziehen.
Und ihr Aquarium.
Bei dem Gedanken hob Frazer ihr Glas in Richtung ihrer Fische und trank auf sie. Sie waren einfach umwerfend. Und Frazer sollte wirklich mal wieder das Becken reinigen. Nicht ihre Lieblingsbeschäftigung.
Dieses Mal würde sie sich nicht verlieren. Es war ja nicht einmal eine Trennung gewesen. Dafür hätten sie vorher zusammen sein müssen. Frazer würde etwas Gutes mit dieser seltsamen Energie anfangen, die sie umgab.
Ihr Handy vibrierte neben ihrem Knie auf der Couch und Frazer
hielt es sich ans Ohr. »Hey Jem.«
»Frazer! Du hast einen Notfall?«
Frazer atmete tief ein und sprach dann die Worte aus, die sie kaum denken konnte. »Ich werde kündigen.«