Kapitel 19
Am nächsten Tag hielt Cora vergebens nach Frazer Ausschau, konnte sie aber nirgendwo entdecken.
Ein Grund, warum Cora sie finden wollte, war, dass sie sich jetzt fast mutig genug fühlte, um nach dem Warum und dem Wie zu fragen. Und sie wollte erfahren, warum sie nicht einmal mehr Freundinnen sein konnten. Die Fragen brannten auf ihrer Zunge und sie konnte sie niemanden stellen. Sie brauchte aber eine Bestätigung für das, was sie meinte, auf Frazers Gesicht gesehen zu haben.
Am späten Morgen bekam sie eine E-Mail von ihr, doch sie ließ ihre Schultern nach unten sacken, als sie sie las. Frazer ließ sie darin nur wissen, dass sie sich keine Sorgen um das Programm zu machen brauchte, da Frazer sich eine Weile um alles kümmern würde. Offensichtlich sollte sich Cora nur um ihre Pflichten als Mentorin kümmern.
Trotzdem hielt sie weiter nach Frazer Ausschau. Außerdem wollte sie mit ihr über die Drohungen sprechen, die Alec geäußert hatte, und sichergehen, dass er Frazer noch keiner dieser ominösen Konsequenzen ausgesetzt hatte. Sie wollte ihr erzählen, dass sie sich ziemlich sicher war, Alec würde diese ganze Sache nur für eine einseitige Schwärmerei halten.
Aber Frazer war nirgendwo auffindbar. Cora antwortete auf ihre E-Mail und überhäufte sie darin mit Fragen, bekam aber keine Rückmeldung.
Später am Nachmittag besuchte sie Jack. Er sollte heute noch entlassen werden – es hatte keine Komplikationen gegeben. Als sie sein Zimmer betrat, hatte er sich bereits angezogen und schloss gerade den Reißverschluss seines Rucksacks.
»Hi«, begrüßte sie ihn schlicht.
»Hey.« Es gelang ihm, sie anzulächeln, aber es war dünn und erreichte seine Augen nicht.
»Wie fühlst du dich?«
»Als wäre ich mit einem Laster zusammengestoßen und wiederholt überfahren worden.«
Coras Lippen verzogen sich. »Also alles bestens?«
»Fantastisch.« Dieses Mal erreichte das Lächeln seine Augen.
»Ich bin sicher, dass Frazer bereits alles für dich organisiert hat, aber brauchst du Hilfe, irgendwohin zu kommen?« Sie hasste sich selbst für ihre nicht ganz so subtil versteckte Frage, ob er Frazer gesehen hatte.
»Nein, mein Onkel holt mich ab. Er möchte, dass ich ein paar Tage bei ihm bleibe, bis ich mich etwas erholt habe.«
Dass Jack endlich jemanden hatte, der zu ihm stand, sorgte dafür, dass sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. »Das ist toll. Hast du sein Angebot angenommen?«
Seine zerzausten Haare, die dringend mal wieder einen Friseur sehen sollten, wippten, als er nickte. »Habe ich. Er hat eine Xbox
Cora lachte – eines der ersten Dinge, die er ihr erzählt hatte, war, dass er sich wünschte, an seine Xbox gedacht zu haben, als seine Eltern ihn rausgeworfen hatten. »Tja, eine Xbox . Was will man mehr?«
Dieses Mal erhellte das Lächeln sein Gesicht. »Ganz genau.«
»Bleibt es bei nächstem Mittwoch?«
»Auf jeden Fall. Wir müssen große Entscheidungen besprechen.« Seine Hände ließen von seinem Rucksack ab.
»Weißt du, wir könnten uns auch einfach auf den neuesten Stand bringen und die großen Entscheidungen ein paar Wochen aufschieben. Du hast diese Woche schon eine davon getroffen.«
»Ist es eine große Entscheidung, sein Baby zur Adoption freizugeben?«
Cora zuckte mit den Schultern. »Oh, na gut, dann eine kleine.«
Einen Augenblick lang spielte er wieder mit dem Reißverschluss seines Rucksacks und Cora wiederholte all das, was sie ihm bereits gesagt hatten. »Jack.« Sie wartete geduldig, bis er sie ansah. »Du hast immer noch uns. Darum geht es bei diesem Programm. Nicht nur, um dir einen Job oder eine Ausbildung zu verschaffen. Ruf mich an, wenn du vor unserem nächsten Termin reden möchtest, ja?«
Seine Schultern entspannten sich. Einen Moment lang nagte er an seiner Unterlippe, bevor er fragte: »Auch wenn ich das Baby nicht behalten habe?«
»Wie wir immer gesagt haben, dieses Programm konzentriert sich auf die Eltern. Wir wollen sichergehen, dass es dir nach all dem hier gut geht.«
Er richtete seinen Blick wieder auf seinen Rucksack und sagte leise: »Okay.«
Cora ging zu ihm und umarmte ihn. Einen Augenblick lang erstarrte er, bevor er sich wieder entspannte. Er klammerte sich fest an ihren Rücken und sie ließ erst los, als er es auch tat.
»Danke, Cora.« Er warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Wie ich Frazer heute Morgen schon gesagt habe, ich wüsste nicht, wo ich ohne dieses Programm wäre …«
Also hatte Frazer ihn besucht. Warum hatte Cora sie dann den ganzen Tag nicht finden können? »Und diese Frage musst du dir auch nie wieder stellen«, sagte sie.
Cora ließ ihn allein, als ihm sein Onkel schrieb, dass er auf dem Weg war.
Am nächsten Tag schickte Cora Frazer eine weitere E-Mail mit noch mehr Fragen. Sie gab vor, einige Dinge über das Programm klären zu wollen.
Keine Antwort.
Am dritten Tag schickte sie noch eine.
Nichts.
Und jetzt, vier Tage später, hatte sie Frazer immer noch nicht gesehen. Und sie hatte sich auch nicht mehr dazu durchringen können, nach ihr zu fragen. Aber irgendwann riss ihr Geduldsfaden und sie schlich sich zu Alecs Büro, ging nach oben und versuchte, ihren Herzschlag zu normalisieren. Der Gedanke, ihm über den Weg zu laufen, verursachte ihr Übelkeit, aber Cora fiel niemand ein, den sie sonst fragen könnte. Bei der Vorstellung, Tia zu sehen, wurden ihre Handflächen feucht.
Aber sie vermisste Frazer und irgendwie schmerzte das mehr als alles andere. Sie hatte noch nie in ihrem Leben solche Gefühle gehabt und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.
Cora versuchte, möglichst unauffällig um die Ecke zu sehen, und entdeckte das Objekt ihrer Begierde. Zumindest das der Suche. Tia saß an ihrem Schreibtisch und tippte mit gelangweiltem Gesichtsausdruck etwas in ihren Computer. Dank all ihrer ausgeklügelten Vermeidungstaktikten war es Cora gelungen, Tia seit dem Tag, an dem sie sie beide erwischt hatte, aus dem Weg zu gehen. Allein die Erinnerung daran ließ ihre Wangen ganz heiß werden. Es wäre weniger peinlich gewesen, von ihrer Mutter erwischt worden zu sein.
Sie schluckte einen Laut des Entsetzens herunter. Nein. Das stimmte so auch nicht; wenn ihre Mutter sie erwischt hätte, wäre Cora auf der Stelle gestorben. Als Tia sie erwischt hatte, hatte es sich einfach nur angefühlt , als wäre sie vor Erniedrigung tausend Tode gestorben.
Endlich sah Tia auf und ertappte Cora dabei, wie sie sie anstarrte. Sie hob die Augenbrauen und fragte sich wahrscheinlich, warum nur Coras Kopf mit seltsam roten Wangen um die Ecke lugte. »Er ist nicht hier.«
Mit einem erleichterten Seufzen trat Cora vor den Schreibtisch. Es fühlte sich ein wenig so an, als würde sie vor der Schuldirektorin stehen. Sie musste dem Drang widerstehen, an ihrer Kleidung zu zupfen. »Hi Tia.«
»Hey Liebes.«
Tia war sanfter als beim letzten Mal, sogar noch sanfter als damals, als sie ihr gesagt hatte, es wäre in Ordnung, wenn es ihr nicht so gut gehen würde. Die Anspannung verschwand gänzlich aus Coras Körper, als sie Tias Lächeln sah.
»Wie geht’s dir?«, fragte Cora.
»Mir geht’s gut. Viel zu tun. Es gibt viele Haushaltsberichte aufzustellen und andere langweilige Sachen zu tun.«
»Hört sich spannend an.«
»Oh, es ist so aufregend, dass ich abends kaum noch nach Hause gehen will.«
Das brachte Cora zum Lachen. »Zumindest wird es nächste Woche wieder ruhiger.«
Tia brummte zustimmend. Sie musterte Cora und es fühlte sich an, als könnte sie sie direkt durchschauen. »Du kannst Frazer nicht finden?«
Anscheinend ging es ihr auch so.
Cora nickte und spürte die Scham in ihrem Bauch. Aber sie musste es einfach wissen.
»Süße, weißt du es nicht? Frazer hat gekündigt.«
Plötzlich war jeglicher Sauerstoff aus dem Raum verschwunden. Sie konnte schwören, dass ihr alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. »Aber sie … sie hätte doch zwei Wochen Kündigungsfrist, oder?«
»Hatte sie.«
Cora drehte sich um, als sie Alecs Stimme hinter sich hörte. Sie versuchte, betont professionell zu wirken. »Guten Tag Alec.«
Er war wie immer makellos gekleidet und Cora fragte sich, wie er sich so gut im Griff haben konnte. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging er an ihnen vorbei in sein Büro. »Komm rein«, war alles, was er sagte.
Und sie folgte ihm, da Cora nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Sie sah zu Tia, die ihr ein wohl aufmunternd gedachtes Lächeln schenkte. Sie erwiderte es schwach.
Frazer hatte gekündigt? War gegangen?
Cora wollte nicht mit Alec reden. Nach ihrer Konfrontation neulich wollte sie sich so weit wie möglich von ihm fernhalten. Nach dieser Begegnung war sie nach Hause gefahren und genau dort gelandet, wo sie hatte sein wollen: schluchzend auf ihrer neuen Couch mit Lisa an ihrer Seite. Sie konnte nicht mal wirklich sagen, was die Tränen ausgelöst hatte.
Sie hatte endlich verstanden, warum Frazer gegangen war. Wie konnten sie etwas auf einem so kaputten Fundament aufbauen? Aber Cora wollte trotzdem einen Abschluss finden und nochmal in aller Ruhe mit ihr darüber reden. Sie hatte Frazer wegen Alec warnen wollen.
Und jetzt hatte Frazer gekündigt. Was war mit dem Programm?
Zur Abwechslung wollte sie ihm nicht die Oberhand überlassen, also setzte sie sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, bevor er überhaupt die Chance hatte, Platz zu nehmen. Keine Einladung, kein Warten darauf, was er tun würde.
Gewohnheiten ließen sich nur schwer durchbrechen, aber sie arbeitete daran, die Risse in ihnen zu verbreitern, in der Hoffnung, dass sie eines Tages ganz zerbrechen würden.
Er hob nur leicht die Augenbrauen, bevor er sich hinsetzte. Und sie anstarrte.
Es kostete sie all ihre Kraft, sich unter diesem strengen Blick nicht unbehaglich zu fühlen. Aber sie straffte die Schultern und erwiderte seinen Blick. »Frazer hat gekündigt?«
»Was interessiert es dich? Wegen einer verrückten Schwärmerei?« Er legte den Kopf schief und wartete auf irgendeine verräterische Reaktion.
»Mich interessiert das Programm.«
»Ah. Natürlich.« Sein Tonfall machte deutlich, dass er ihr kein einziges Wort glaubte. »Tja, sie nimmt es mit.«
Das beantwortete ein paar Fragen und warf neue auf. Wie konnte sie das machen? Wer finanzierte das? Wohin würde Frazer gehen? Aber sie konnte auf keinen Fall Alec all diese Fragen stellen. Auch, wenn er genau das wollte, das wusste Cora. Er genoss es, mehr zu wissen als sie und Informationen zu haben, die er ihr verwehren konnte. Deshalb wählte Cora stattdessen einen anderen Weg. »Wie konnte sie ohne die zweiwöchige Kündigungsfrist gehen?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das nur mit viel Mühe als höflich bezeichnet werden konnte. »Nachdem sie der Personalabteilung ihre Kündigung eingereicht hat, habe ich sie zu einem Gespräch gebeten und ihr die zwei Wochen erlassen. Ich habe ihr gesagt, dass sie sofort gehen soll, wie es mein gutes Recht ist.«
Also hatte Alec seine Macht ausgenutzt. Charmant.
Es war schockierend, wie klar sie nun sehen konnte. Sie hatte jahrelang Teile seines Verhaltens und seiner Persönlichkeit verdrängt und sich an das Bild aus früheren Zeiten geklammert. Jetzt sah sie all die Dinge, bei denen sie sich unwohl gefühlt hatte, Dinge, die sie entschuldigte, weil sie dieses Bild von ihm nicht aufgeben wollte.
Jetzt, da sie eine Weile von ihm getrennt war, erkannte sie, wer er wirklich war.
»Okay. Dann erwarte ich, dass sie sich wegen des Programms meldet.« Cora erhob sich zum Gehen. Sie musste ja nicht erwähnen, dass sie bereits eine bekommen hatte. »Danke.«
»Cora.«
Sie hielt inne und drehte sich um. »Ja?«
»Du solltest auf deinen Ruf aufpassen.«
Ihr wurde kalt. »Wie bitte?«
»Ein Sicherheitsbeamter, mit dem ich gesprochen habe, könnte schwören , dass er gesehen hat, wie du jemanden geküsst hast, der Frazer zum Verwechseln ähnlich sieht.«
Cora spürte, wie sich der Schock auf ihrem Gesicht breit machte. Um sich nicht zu verraten, richtete sie sich auf und bemühte sich, gelassen zu bleiben. Sie sagte nichts.
»Sogar schon vor Monaten.« Seine Stimme klang ruhig, beinahe fröhlich. Sein Blick war hart und kalt.
War er schon immer so ein Widerspruch in sich gewesen?
Trotzdem sagte Cora nichts. Schweigen war oft die sichere Option.
»Pass also auf. Seinen Ruf kann man schnell ruinieren.«
Seine Augen funkelten. Sie hatte nicht gewusst, dass es so etwas gab, aber es machte die Absicht hinter seinen Worten klar.
Mit wild schlagendem Herzen verließ Cora das Büro. Sie versuchte, Tias mitfühlenden Blick zu ignorieren, denn da die Tür weit offen stand, hatte sie alles mitangehört.
Würde Alec ihre Familie anrufen?
Würde er es im Krankenhaus verbreiten?
Hatte sie geglaubt, sich von ihm trennen und weiter hier arbeiten zu können?
~ ~ ~
»Hast du den Schlafanzug auch nur einmal ausgezogen, Frazer?« Jemma lehnte an der Tür und bedachte sie mit einem abschätzigen Blick.
Frazer sah auf ihren geliebten Schlafanzug mit den Fischen hinunter und zuckte mit den Schultern. »Ich ziehe ihn aus, wenn ich duschen gehe.«
Jemma verzog das Gesicht. »Das ist widerlich.«
»Ich habe ihn zwischendurch auch mal gewaschen und währenddessen einen Tag lang einen anderen getragen.«
Jemma sah unbeeindruckt aus. Grüne Augen, die gleichen wie Frazers, starrten sie an. »Hast du in den letzten fünf Tagen das Haus verlassen?«
»Ja!«
»Abgesehen von dem Tag, an dem du zur Arbeit gegangen bist, um deine Kündigung einzureichen?«
Frazer verzog die Lippen und sagte nichts mehr.
Mit einem triumphierenden Glucksen ging Jemma an Frazer vorbei ins Haus. Wie immer ließ sie sich auf Frazers Couch fallen, als würde sie hier wohnen. Es machte Frazer rasend.
»Bitte, fühl dich wie zu Hause.« Frazer schloss die Tür und stellte sich vor ihre Schwester, die Hände in die Hüfte gestemmt.
»Schon erledigt, Schwesterherz. Hast du Bier da?«
Frazer schnaubte genervt, lief aber in die Küche, um ein Bier für Jemma und einen Saft für sich selbst zu holen.
Als sie sich zu ihr setzte, sah Jemma sie ernst an. »Muss ich mir Sorgen machen?«
»Jemma, du kennst mich schon dein ganzes Leben lang. Du weißt, dass ich nicht einfach rumsitzen und nichts tun kann.«
»Aber genau das machst du gerade.«
»Ich habe von zu Hause aus gearbeitet.«
»Du hast keinen Job.«
»Ach nein?«
Jemma richtete sich auf den Ellbogen auf, das Bier gefährlich in ihrer Hand balancierend, und starrte sie an. »Hast du?«
»Habe ich.«
»Sei kein Arsch. Das ist dein Stichwort, um mit der Erklärung rauszurücken.«
»Ich weiß.« Jemma aufzuziehen machte nicht nur Spaß, es war auch die Rache für all die schlaflosen Nächte, als Jemma noch diese winzige, wütende Heulboje gewesen war, die ihre Eltern unbedingt aus dem Krankenhaus hatten mitbringen müssen.
»Frazer.« Das Quengeln in ihrer Stimme war unüberhörbar.
»Ich eröffne meine eigene Klinik.«
Jemma setzte sich vollständig auf. »Ernsthaft? Was für eine?«
»Das ist der aufregende Teil – eigentlich sind es zwei.«
Der erwartungsvolle Ausdruck auf Jemmas Gesicht bedeutete, dass sie auf eine genauere Erklärung wartete.
Frazer tat ihr diesen Gefallen aber nicht.
»Verdammt, Frazer!«
Frazer lachte. »Na schön. Die Hälfte der Zeit werde ich als Kinderkrankenschwester arbeiten – nach einem sechsmonatigen Onlinekurs – und als private Hebamme. Die andere Hälfte werde ich vom gleichen Standort aus für das Programm arbeiten.«
Freude breitete sich auf Jemmas Gesicht aus. »Ernsthaft? Aber war das Programm nicht an dein Krankenhaus gebunden?«
»Na ja, das habe ich überprüft und alles geklärt. Wie sich herausgestellt hat, waren die Fördermittel, die mir das Krankenhaus zugewiesen hat, staatlich, was bedeutet, dass das Krankenhaus keine Kontrolle darüber hat. Das Geld fließt direkt in das Programm, unabhängig vom Krankenhaus, und kommt jetzt zu mir. Außerdem habe ich noch ein paar weitere Zuschüsse beantragt, für Leute, die lokal gemeinnützige Projekte aufbauen. Ich habe gestern von jemanden einen Anruf bekommen, der mir gesagt hat, dass meine Bewerbung vielversprechend aussieht, und sie von der Idee begeistert sind.«
Jemma sah aus, als würde sie vor Freude explodieren. »Wirklich?«
»Wirklich.« Frazers Wangen schmerzten, weil sie versuchte, ihr Grinsen zu unterdrücken. In solchen Momenten liebte sie ihre Schwester.
»Warum hast du das nicht schon viel früher gemacht?«
»Ich mochte meinen Job im Krankenhaus. Außerdem gab er mir Sicherheit. Ich hatte immer die vage Vorstellung, es eines Tages größer aufzuziehen, aber ich wollte die Sicherheit meines Vollzeitjobs nicht aufgeben. Außerdem haben es die Mittel dort viel einfacher gemacht.«
»Was machen unabhängige Kinderkrankenschwestern überhaupt?«
»Sie arbeiten mit Kindern in der Gemeinde – von der Geburt bis zum vierten Lebensjahr. Die Idee ist, alles mit dem Programm zu verbinden. Einige Patientinnen werden die ganz normalen Tarife, gemäß den privaten Rechnungssätzen, bezahlen, während bei anderen das Programm die Kosten übernimmt. Wenn ich nebenbei als private Hebamme arbeite, verdiene ich mir zur Sicherheit noch ein bisschen Geld dazu.«
»Du hast also nicht nur in deinem Schlafanzug herumgesessen und deine Fische angestarrt?«
»Natürlich nicht.« Frazer liebte es, ihrer Schwester vor Augen zu führen, dass sie unrecht hatte, obwohl Jemma zur Abwechslung nicht enttäuscht darüber klang. »Es gibt so viel Papierkram zu erledigen und Anträge, die ich ausfüllen muss. Ich muss meine Qualifikation nachweisen. Jetzt, da ich weiß, dass ich genug Budget zur Verfügung habe, suche ich nach geeigneten Gebäuden.«
Jemma saß im Schneidersitz auf der Couch und schüttelte ungläubig den Kopf. »Du bist großartig, weißt du das?«
Frazer fühlte sich nicht so. »Warum? Ich habe meinen Job gekündigt, nachdem ich eine Affäre hatte und mir klar wurde, dass es eine dämliche Idee ist, sowohl mit der Frau als auch ihrem Ehemann weiter zusammenzuarbeiten.«
»Okay, das war nicht so großartig. Aber dieses ganze Programm wird großartig sein«, sagte Jemma, nachdem sie kurz theatralisch das Gesicht verzogen hatte.
»Das hoffe ich.« Eigentlich machte es ihr ein wenig Angst. Schwimm oder stirb. Und Frazer war in letzter Zeit für ihren Geschmack etwas zu oft gestorben.
»Frazer?«
»Ja?«
»Woher weißt du, dass es mit Cora nirgendwo hinführen würde? Ich meine, du weißt jetzt, dass sie an dir interessiert ist … Sie hat es dir gesagt. Und du bist trotzdem gegangen?«
Frazer schnippte mit den Fingernägeln gegen ihr Glas und seufzte. »Wie könnten wir eine Beziehung haben – in diesem Krankenhaus, während ihr Mann jeden unserer Schritte beobachtet?«
»Sie lässt sich scheiden.«
»Ja, aber sie sind gerade mal seit ein paar Wochen getrennt … Es wäre nicht in Ordnung.«
Jemma beobachtete sie aufmerksam. Zu aufmerksam. »Okay. Das verstehe ich.«
Frazer hatte sich schon Worte zu ihrer Verteidigung zurechtgelegt und musste sie jetzt ungesagt hinunterschlucken. »Wirklich?«
»Ja, wirklich. Du hast vollkommen recht. Sie steckt gerade in einem riesigen Chaos, du in einer kleineren Version davon. Das kann unter den Umständen nichts werden. Es hätte echt toll werden können , aber nicht so.« Jemma verdrehte die Augen. »Was soll ich sagen? Du bist viel reifer als ich.«
Frazer schnaubte. »Ja, meine Entscheidungen waren in letzter Zeit so reif.«
»Halt die Klappe, große Schwester. Jeder macht mal Fehler.«
Frazers schaute auf ihr Aquarium, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte. »Ich weiß.«
»Gut.«
Das Aquarium war so sauber, dass es wirkte, als würde das Glas nicht existieren. Eine eigene kleine Welt, die sie kontrollieren und auf die sie aufpassen konnte. In dieser Welt änderte sich das Leben nie.
»Bist du aufgeregt?«, fragte Jemma.
Diese Frage war leicht zu beantworten. »Ja, das bin ich.«
~ ~ ~
Cora hatte nie irgendwo anders als im Krankenhaus gearbeitet.
Natürlich hatte sie den typischen Teenager-Lebenslauf: Babysitting und Arbeit im Verkauf. Aber direkt nach der Uni hatte Cora den Posten als Sozialarbeiterin im Krankenhaus angenommen und war dortgeblieben. Jetzt, in ihrem neuen Wohnzimmer, umgeben von ihren Büchern und mit ihrem neuen weichen Teppich unter den Füßen, starrte sie den Cursor ihres Laptops an.
Ihre Kündigung zu schreiben war leicht gewesen, weitaus leichter, als sie es sich vorgestellt hatte. Es wäre ein Albtraum, dort weiter so eng mit Alec zusammenzuarbeiten. Warum sollte sie sich das antun? Frazer war weg und Cora hatte keinen Grund zu bleiben. Vielleicht hätte sie es sich anders überlegt, wenn sie hier mehr Freunde gehabt hätte. Aber es gab im Krankenhaus keine einzige Person, die sie wirklich vermissen würde, kein unterstützendes Netzwerk. Mittlerweile wusste sie, dass Alec dafür gesorgt hatte. Er hatte sie immer in seiner Nähe gehalten und von anderen isoliert, als hätte er Angst, sie würde verschwinden, anstatt darauf zu vertrauen, dass sie von sich aus bleibt. Sein Verhalten hatte sie erstickt und einsam werden lassen.
Sie mochte ihren Job eigentlich, aber da draußen gab es so viel andere, dass es nicht schwer werden würde, einen neuen zu finden. Bis dahin würde sie von ihrem Ersparten leben. Zum Glück hatte sie immer ein eigenes Bankkonto gehabt – Alec hatte gemeint, dass es für die Steuer so besser war.
Vielleicht sollte sie Urlaub im Ausland machen. Neue Erfahrungen sammeln, die ihr Leben bereicherten. Sie könnte alleine fahren und zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit allein sein. Oder sie könnte etwas tun, das sie schon immer hatte tun wollen. Sie hatte letztens eine Unterhaltung mitangehört, und seitdem hatte sie diese Idee nicht mehr losgelassen.
Die Vorstellung sollte ihr Angst machen, aber stattdessen spürte Cora, wie die Aufregung unter ihrer Haut brodelte. Mit einem Lächeln, das fast schuldbewusst war, schickte Cora ihre Kündigung an die Personalabteilung und wippte ungeduldig mit dem Bein, während sie sich in ihrem immer noch kargen Wohnzimmer umsah.
Endlose Möglichkeiten breiteten sich vor ihr aus und Cora stockte fast der Atem.
Seit sie an diesem Nachmittag Alecs Büro verlassen hatte, hatte der Plan in ihrem Kopf Formen angenommen. Durch das Intranet des Krankenhauses hatte Cora die Nummer gefunden, die sie brauchte. Es dauerte nur einen Augenblick, sie in ihr Handy einzutippen und sich das Gerät ans Ohr zu halten. »Hey Simon, hier ist Cora von der Sozialarbeiterabteilung. Tut mir leid, dass ich dich nach Feierabend anrufe.«
»Äh, hey Cora, kein Problem. Ist alles in Ordnung?« Offensichtlich hatte er keine Ahnung, warum ihn jemand aus einer anderen Abteilung um noch zwanzig Uhr anrief. Cora hatte auch noch nie wirklich viel mit ihm gesprochen.
»Ja, alles super. Hör mal, ich habe mich daran erinnert, dass du letztens über ein Freiwilligenprogramm gesprochen hast, bei dem du mitmachst, und dass jemand wegen eines Notfalls nach Hause gehen musste. Fehlt euch für die nächsten sechs Wochen noch jemand?«
»Ja.« Seine Überraschung war deutlich in seiner Stimme zu hören. »Ich wollte selbst einspringen, konnte es aber nicht rechtzeitig organisieren.«
»Brauchen sie noch jemand anderen?«, fragte sie.
»Na ja, die Waisenhäuser brauchen immer Leute. Warum, kennst du jemanden?«
»In der Tat, ja.«
»Die Person müsste alle Vorgaben, Impfungen und so weiter erfüllen.«
»Das wird kein Problem sein.«
»Super, wer ist es?«
~ ~ ~
Frazer,
es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass ich für die nächsten vier Wochen oder womöglich auch länger nicht beim Programm helfen kann. Ich habe es so organisiert, dass ich per Skype weiter Jacks Mentorin sein kann, und er weiß, dass er dich erreichen kann, falls er persönlich Unterstützung braucht. Meine andere Klientin habe ich an eine der anderen Mentorinnen abgegeben. Ich habe gestern das Kennenlernen der beiden begleitet. Es ist Jill aus der Notaufnahme. Sie haben sich sofort verstanden und ich bin sicher, dass sie gut miteinander auskommen werden. Wie auch immer, die Klientin weiß auch, dass sie mich per Skype erreichen kann, falls sie das Bedürfnis dazu hat.
Was die Sozialarbeit im Programm angeht, entnehme ich deiner E-Mail, dass meine Dienste nicht mehr länger benötigt werden, da du mich nur gebeten hast, als Mentorin für meine derzeitigen Klienten weiterzuarbeiten.
Falls du irgendwelche Fragen hast, schreib mir bitte eine E-Mail, auf die ich sicher antworten werde. Im Gegensatz zu dir, die du meine unzähligen Mails ignoriert hast.
Alles Gute
Cora
Frazer verzog das Gesicht und las die E-Mail erneut. Und dann ein drittes Mal. Gedanklich machte sie sich die Notiz, so schnell wie möglich nach Jack und der anderen Klientin zu sehen.
Sie versuchte, die offensichtliche Spitze gegen sie zu ignorieren. Es war … einfacher gewesen, nicht zu antworten.
Frazer verspürte den Drang, Cora zu fragen, warum sie im nächsten Monat keine Mentorin sein konnte, aber sie zwang sich, ihr Handy stattdessen zurück in ihre Tasche zu stopfen. Es ging sie nichts an.
Was hatte Frazer auch anderes erwartet? Sie hatte Cora aus dem Programm ausgeschlossen. Es war nicht mit Absicht geschehen, auch wenn es etwas unfair gewesen war, sie hatte einfach nur dafür sorgen müssen, dass sie ihre Pläne umsetzen konnte.
Okay, es war mehr als nur ein wenig unfair gewesen. Es war vollkommen unfair gewesen. Aber mit Cora zu reden beeinflusste ihren Verstand. Und es trübte ihr Urteilsvermögen. Deshalb war sie gegangen.
»Also, was denkst du?« Rob hatte die Hände lässig in die Taschen geschoben.
Er stand in der Mitte eines offenen Bereichs, der einmal eine Rezeption gewesen war. Der Raum war groß und durch die riesigen Fenster wunderbar hell. Das Objekt lag nicht direkt im Stadtzentrum, war also erschwinglich und hatte trotzdem eine Anbindung an Bus und Bahn. Sechs Räume gingen vom Eingangsbereich ab, der als Wartezimmer genutzt werden konnte. Falls Frazer in Geldnot kommen würde, könnte sie ein Zimmer an jemanden vermieten, der eine private Praxis führte.
Rob legte den Kopf schief und wartete auf eine Antwort.
Frazer wippte auf den Fußzehen. »Ich liebe es.«