Kapitel 21
»Also läuft die Arbeit in der Klinik gut?«
Cora nickte Dr. Massey zu. »Das tut es wirklich.« Und das war nicht gelogen. »Ich habe das Gefühl, als wäre ich seit der Eröffnung dabei.«
»Haben Sie vor zwei Wochen nicht gesagt, dass es nur ein Teilzeitjob sein würde?«
Cora wusste nicht, warum sie lächelte. »Die Arbeitsstunden waren am Anfang auf eine Teilzeitstelle ausgelegt, aber mit der Aufgabe als Mentorin und den Stunden, die ich in die Ausbildung neuer Mentoren investiere, bin ich sowieso nah an einer Vollzeitstelle dran.«
Ganz zu schweigen von den Stunden, in denen sie Frazer gegenübersaß, Tabellen und Dokumente zwischen ihnen, sodass sie sich beinahe in der Mitte trafen und eine Wärme zwischen ihnen hin und herwanderte. Sie konnten Stunden so miteinander verbringen. Allerdings breitete sich jedes Mal eine Enttäuschung in Coras Bauch aus, wenn sich die Abende dem Ende zuneigten, Frazer die Sitzungen beendete und ging. Und wenn sie sich verabschiedete, hatte sie dabei einen Ausdruck in den Augen, den Cora nicht deuten konnte.
»Es ist einfach toll dort. Es wurde so einladend eingerichtet. Tia ist perfekt für den Empfang. Es ist so schön zu sehen, dass Menschen an einem Ort willkommen geheißen werden. An dem sie nicht verurteilt werden.«
Dr. Massey nickte nur, also redete Cora einfach weiter.
»Frazer ist gerade mit ein paar Ärztinnen im Gespräch, damit sie jeweils einmal im Monat ehrenamtlich aushelfen. Dann hätten wir jede Woche auch eine ärztliche Versorgung.«
Das Programm wuchs, schlug Wurzeln und würde die Welt am Ende zu einem besseren Ort machen. Es war so viel größer, so viel besser als alles, was sie mit dem Krankenhaus im Nacken hätten aufbauen können. Dort hätte man nur Statistiken und Haushaltsberichte gesehen und ständige Aktualisierungen von ihnen verlangt. Das, wovon sie am
Anfang geträumt hatten, als sie über den Tischen gebeugt zusammengesessen hatten, war genau das, was es gerade wurde.
Cora liebte es.
Und jeden Tag in Frazers Nähe zu sein, war ein Bonus; das konnte sie nicht leugnen.
Dr. Massey sah sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Und plötzlich wurde Cora klar, wieso sie so seltsam aussah. Sie versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.
Da Cora ihr eigenes nicht zurückhalten konnte, lächelte sie schließlich auch. »Was?«
Dr. Massey lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Hände über dem Klemmbrett auf ihrem Schoß. »Das ist die erste Sitzung, in der Sie so sprechen – so leidenschaftlich.«
Das ließ Cora einen Moment innehalten und die Sitzungen Revue passieren.
Es stimmte.
Wenn sie bei Dr. Massey war, erlaubte sich Cora, frei zu reden. Zu reden und zu reden und zu reden. Sie sprach all die Dinge aus, die sie jahrelang heruntergeschluckt hatte. Teilweise waren es Dinge, an die sie nicht einmal selbst mehr dachte, aber sie loszuwerden fühlte sich befreiend an. Es fühlte sich an, als könnte Cora alle wütenden, frustrierten und verletzten Gefühle Stück für Stück loslassen. Sie bekam die Mittel an die Hand, ihr Leben wieder neu aufzubauen, und sie tat es mit Freude und Eifer.
Und trotzdem hatte Cora in der heutigen Sitzung nicht das Verlangen verspürt, etwas Schlechtes loszuwerden. Die Worte waren ungehindert über ihre Lippen gesprudelt, als sie sich auf die Klinik und ihre Arbeit dort konzentriert hatte. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter und Dr. Massey nickte ihr zu.
»Cora, wie würden Sie sich damit fühlen, wenn wir uns nicht mehr einmal die Woche, sondern nur noch einmal im Monat sehen?«
»Das würde sich toll anfühlen.«
Als nichts mehr ihre Brust einschnürte und sie frei atmen konnte, verließ Cora die Praxis.
Im Auto zog sie ihr Handy heraus. Eine Nachricht von Frazer tauchte auf dem Bildschirm auf. Sie fragte, ob ihr Treffen am Nachmittag noch stand. Cora antwortete mit einer kurzen Bestätigung
und startete den Motor ihres Wagens.
Sie fühlte sich leicht, selbst wenn sie kein Gefühl dafür hatte, was Frazer in manchen Momenten dachte. Es war fast ein wenig so wie in den Tagen, bevor sie angefangen hatten, miteinander zu schlafen. Oder währenddessen, aber ohne den Sex. Sie flirteten, zumindest Cora tat es auf jeden Fall, und sie glaubte, dass Frazer es auch machte. Cora brachte Frazer immer Kaffee mit und wenn Frazer etwas zu Essen holte, brachte sie Cora immer etwas mit.
Aber das tat sie auch für Tia.
An einer Ampel spielte Cora am Radio herum. Es war ein seltsamer Tag, bedeckt und gleichzeitig schwül, sodass die Luft schwer in ihren Lungen lag und an ihrer Kleidung zog. Regen lag in der Luft. Sie tippte mit den Fingern auf das Lenkrad und wartete, dass die Ampel grün wurde.
Aber was Tia nicht bekam, war dieser anhaltende Blick. Dieses tiefe Lachen. Die sanfte Berührung an ihrem Handgelenk. Schmetterlinge im Bauch zu haben war noch so eine Sache, die sich Cora kaum bei Tia vorstellen konnte.
Sie fühlte sich albern, wie ein Teenager. Aber sie konnte nicht vergessen, dass Frazer gegangen war, und das hielt Cora davon ab, wieder einen Schritt auf sie zuzumachen.
Trotzdem beobachtete sie Frazer weiter.
Endlich schaltete die Ampel um und Cora trat langsam aufs Gas, während ihre Wangen leicht heiß wurden. Es war schon fast peinlich, wie oft sie Frazer beobachtete.
Erst an diesem Morgen hatte Cora einen Pensionsantrag für einen Klienten kopiert. Sie musste dafür in das winzige Nebenzimmer gehen, in dem der Kopierer stand, ein Zimmer, das wahrscheinlich eher ein Lagerraum hätte sein sollen. Unauffällig – zumindest hatte sie sich eingeredet, dass es unauffällig war – hatte sie von dort aus über ihre Schulter gesehen und Frazer im Gespräch mit Tia beobachtet. Frazer hatte sich über den Empfangstisch gebeugt, oder eher sich darauf ausgestreckt. Sie fühlte sich immer so wohl in ihrer eigenen Haut.
An jenem Tag im Café hatte Cora Frazer das erste und einzige Mal außerhalb ihrer Komfortzone erlebt. Sie war so unbeholfen gewesen. Und dann, irgendwann, war das Lächeln, das sie Cora geschenkt hatte, an einer Seite höher geworden und so echt, so Frazer, dass es Cora den
Atem geraubt hatte. Frazer schenkte Tia in diesem Moment dieses Lächeln, die gerade rechtzeitig aufsah, um Cora beim Herüberstarren zu erwischen.
Wirklich, es war peinlich.
Was auch immer in Frazer vor sich ging, es war schön, ihre Freundin wiederzuhaben.
~ ~ ~
»Also arbeitet ihr wieder zusammen?«
Jemma starrte Frazer an, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Sie sah aus, als müsste sie sich zurückhalten.
Frazer nickte. »Ja, wieso?«
»Interessant.« Jemmas Gesicht war von dem, was auch immer sie da tat, rot angelaufen.
Frazer hatte mit Jemma und Meg in ihrem Wohnzimmer zusammengesessen und nett geplaudert, und als der Nachmittag in den Abend übergegangen war, hatte sich niemand die Mühe gemacht, aufzustehen und das Licht einzuschalten. Jetzt saßen sie im Schein des blauen Lichts von Frazers Aquarium. Normalerweise liebte Frazer das. Trotzdem bereute sie es, ihrer Schwester von Coras Rückkehr vor ein paar Wochen erzählt zu haben.
»Was soll das heißen?«
Jemma schüttelte einfach nur den Kopf.
»Jemma?« Frazer wusste, dass sie etwas zu sagen hatte. Jemma hatte verdammt nochmal immer etwas zu sagen.
Meg, die im Schneidersitz neben Jemma auf der Couch saß, legte ihre Hand auf Jemmas Knie. »Ich glaube«, sagte sie, »was sie sagen will, ist, dass es … ähm … ein wenig seltsam ist.«
»Was? Warum?« Okay, Frazer wusste warum. Aber sie würde es nicht so leicht zugeben. Es war in so vieler Hinsicht richtig. Niemand wusste so viel über das Programm wie Cora – außer Frazer. Sie war perfekt für den Job und mit Leidenschaft bei der Sache. Und sie war jemand, mit dem Frazer teilen konnte, anstatt einfach nur für sie zu arbeiten. Es war einfach sinnvoll.
»Na ja …« Meg sprach ganz offensichtlich für Jemma, die sich auf die Lippe biss und zusah, wie Frazers Fische träge Kreise zogen. »Ihr habt miteinander geschlafen.«
»Und?«
»Und dann hat dir Cora praktisch gesagt, dass sie mehr von dir will und du bist gegangen.« Als Frazer den Mund öffnete, um sich zu verteidigen, fuhr Meg schnell fort. »Was vollkommen in Ordnung ist! Sie war nicht bereit für eine Beziehung und ihr habt zusammengearbeitet. Es war eine schreckliche Idee.«
»Ganz genau.«
»Aber …« Meg schien nicht weiterreden zu wollen.
»Was?«, fragte Frazer.
»Ach komm schon, Frazer!«, platzte es aus Jemma heraus und sie warf erregt die Hände in die Luft. Meg sah Frazer an als wollte sie sagen Ich habe versucht, dir zu helfen
. »Als wäre das alles einfach verschwunden! Wie lange ist es her? Zwei Monate? Und ich weiß mit Sicherheit, dass sie dir den Kopf verdreht hat und du dich ziemlich heftig in sie verliebt hast.«
»Ich … ich habe mich nicht heftig verliebt.« Selbst Frazer wusste, dass das gelogen war.
Jemma und Meg sahen sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, als würden sie bereits jetzt anfangen, symbiotisch miteinander zu verschmelzen.
»Hört auf damit ihr beiden. Es ist zu früh für euch, eine Person zu werden.«
Meg flüsterte hörbar zu Jemma: »Oh, schau mal Liebling, sie denkt, sie kann uns ablenken.«
Jemma schüttelte nur den Kopf. »Du hast dich heftig verliebt.«
Frazer ließ sich zurück auf ihr Sofa fallen und zuckte mit den Schultern. »Okay. Schön. Ja. Ich fand sie gut. Aber jetzt sind wir, ihr wisst schon, Freundinnen.«
Was einfacher war und auch funktionierte.
Meg und Jemma sprachen gleichzeitig. »Freundinnen?«
»Ja.«
»Wie beim ersten Mal?«, fragte Jemma.
»Und dem zweiten?«, warf Meg ein.
Frazer erdolchte sie mit ihren Blicken.
Meg schnippte mit den Fingern. »Oh! Ich weiß. Wie beim dritten Mal.«
Frazer musste zweifellos furchterregender werden. Diese Frau fühlte
sich bei ihr viel zu wohl. »Ihr seid zum Totlachen.«
»Oh, das wissen wir.« Jemma grinste. »Aber ernsthaft, Schwesterherz. Sie arbeitet jetzt seit ein paar Wochen mit dir zusammen – und du fühlst nichts?«
Mit zusammengepressten Lippen zuckte Frazer mit der Schulter. Das hatte sie nicht gesagt. Aber Frazer hatte einfach nicht genug Energie, sich dem allen zu stellen. Sie fühlte sich gut, sogar glücklich, mit ihrer Klinik und ihrem Leben. »Ich fühle mich hungrig.« Sie stand auf, ging in die Küche und rief: »Wollt ihr was zum Abendessen?«
Megs Stimme erklang klar wie eine Glocke. Sie versuchte nicht einmal, leise zu sein. »Siehst du? Sie lenkt ab.«
~ ~ ~
»Jetzt bist du offiziell ein Auszubildender, Jack.«
Jack und Cora rührten mit den Strohhalmen in ihren Milchshakes, die sie im selben Diner wie vor einigen Monaten zusammen tranken. Die Sitzbänke waren immer noch grellpink und sehr im Stil der Fünfziger und es gab immer noch die besten Milchshakes, die Cora je gekostet hatte.
»Vielen Dank. Auch an Frazer.« Jack trug immer noch den riesigen Kapuzenpulli, der jetzt allerdings nicht mehr so eng saß. Ein Teil des Gewichts, das er zugelegt hatte, war bereits verschwunden.
»Wir haben nur geholfen. Du hast dich selbst dahin gebracht, wo du jetzt bist.«
Er zuckte unbeholfen mit den Schultern, was so typisch für ihn war. »Trotzdem …«
»Bist du glücklich mit deiner Entscheidung?«
»Ja, ich mochte es schon immer, Geräte auseinanderzunehmen. Da kann ich genauso gut lernen, sie wieder zusammenzusetzen.«
»Elektriker ist ein toller Job – und in ein paar Jahren wirst du für deine Ausbildung bezahlt.«
Erneut stach er den Strohhalm in sein Getränk und nickte. »Mein … mein Onkel hat mich gefragt, ob ich bei ihm einziehen will.«
Cora grinste. »Wirklich? Das könnte toll sein.«
»Ich habe Nein gesagt.«
Coras Grinsen wurde ein wenig schmaler. »Warum?«
»Ich weiß nicht. Es gefällt mir, allein zu leben. Und ich weiß all seine
Hilfe zu schätzen, aber er hat zwei Kinder. Ich mag meine Cousins, aber …«
»Du willst es allein schaffen.«
Er nickte. »Ja. Es hat mir nicht gefallen, dass meine Eltern die Kontrolle hatten, weißt du? Und dass sie mir immer dieses Gefühl gegeben haben, sie könnten mich rauszuschmeißen, wann immer es ihnen passt. Nur weil ich nicht so bin, wie sie wollen. Jetzt habe ich selbst die Kontrolle. Und das gefällt mir.«
Als Cora mitfühlend das Gesicht verzog, sprach er schnell weiter. »Ich glaube nicht, dass mein Onkel so sein würde wie meine Eltern, aber so ist es einfach … schön, Kontrolle über das zu haben, was ich tue.«
»Das kann ich gut verstehen.«
Jack lächelte sie an. »Das freut mich. Aber er hat gesagt, dass er mir später helfen will, wenn ich mit den Hormonen anfange. Finanziell. Er will mir helfen, indem er mir die Hälfte dazugibt. Und ich wollte es dir nicht sagen, bis ich es nicht sicher wusste – ich habe einen Job.«
Dieses Mal wurde Coras Grinsen breiter. »Nein! Wirklich? Wo? Als was?«
»Nichts Besonderes, nur ein Minijob. Ich räume in einem Supermarkt nach Ladenschluss und am Wochenende Regale ein. Das heißt, er kommt meiner Ausbildung nicht in die Quere.«
»Jack. Das ist fantastisch.«
Seine Wangen färbten sich rosa. »Danke.«
»Und darfst du schon schwere Sachen heben?«
»Ich fange in zwei Wochen an und habe Frazer gefragt«, sagte er, während er sie aufmerksam beobachtete. »Sie hat gesagt, dass es bis dahin in Ordnung ist.«
»Das ist toll.«
Während er einen tiefen Schluck aus seinem Shake nahm, legte er den Kopf schief. »Warum wirst du jedes Mal rot, wenn ich Frazer erwähne?«
»Was? Ich werde nicht rot.«
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Doch, wirst du. Jedes Mal.«
»Werde ich nicht.«
»Du bist feuerrot.«
Das war sie; sie konnte es spüren. »Weil du darüber geredet hast, dass ich rot werde. Das ist psychosomatisch.«
»Du magst sie, oder?«
»Natürlich tue ich das. Wir arbeiten zusammen.« Cora hatte keine Ahnung, wie sie diese Unterhaltung beenden sollte.
»Nein.« Er spitzte übertrieben die Lippen. »Du magst
sie.«
»Sei nicht albern.«
»Ist schon in Ordnung.« Er spielte mit seinem Strohhalm. »Sie mag dich auch.«
»Trink deinen Milchshake, Teenager.«
Das Grinsen auf seinem Gesicht war riesig.
Ein paar Minuten lang tranken sie schweigend, während die Hitze langsam aus Coras Wangen wich. Woher wusste er das? Und hatte er recht damit? Mochte Frazer sie auch? Cora würde mit all diesen Fragen in ihrem Kopf noch wahnsinnig werden.
»Cora?«
Als Cora den Blick von ihrem fast leeren Glas hob, schaute Jack sie intensiv mit seinen blauen Augen an. »Ja?«
»Glaubst du, dass es Käferchen gut geht?«
Cora konnte sich nicht davon abhalten, sich vorzubeugen und sein Handgelenk zu umfassen. »Ja, ich glaube, Käferchen geht es mehr als gut.«
»Gut.« Und dann lächelte er erneut, bis der Erwachsene aus seinem Blick verschwunden war und sie nur noch von Jack, dem Teenager, angesehen wurde. »Also, bittest du sie um ein Date?«
Cora stöhnte.
~ ~ ~
»Drinks, die Damen?« Tia schlüpfte in ihre Jacke und sah Frazer und Cora erwartungsvoll an.
Obwohl Frazer nirgendwo hinmusste, warf sie einen Blick auf ihre Uhr. »Ja, ich denke, einen könnte ich mir erlauben.« Immerhin warteten zu Hause nur ihre Fische auf sie.
Cora nickte. »Okay. Ich bin dabei.«
»Super!«
Als Frazer die Beleuchtung im hinteren Bereich ausschaltete, hörte sie Cora fragen: »So sehr ich auch mit Leib und Seele bei diesem
Programm dabei bin, kann ich nicht verstehen, warum du einen Vollzeitjob mit guter Bezahlung gekündigt hast, um hier auf Teilzeit zu arbeiten, Tia.«
Innerlich grinsend lauschte Frazer Tias Antwort, während sie den Kopierer ausschaltete. Frazer war genauso überrascht gewesen, als Tia sie
angerufen und sich nach dem Job erkundigt hatte. Aber irgendetwas hatte sie davon abgehalten, zu intensiv nachzufragen. Das Thema Alec stand noch immer zwischen ihnen und fühlte sich unantastbar an.
»Liebes, ich stehe kurz vor der Rente. Ich brauche keinen Vollzeitjob, das hat mein Mann übernommen. So habe ich das Gefühl, etwas Gutes zu bewirken.«
»Ich dachte, du wärst mit Alec befreundet.«
Frazer erstarrte. Cora hatte Alec nicht erwähnt, seit sie hier angefangen hatte.
»Waren wir. Aber weißt du, ich war all die Jahre nicht taub.« Tias Stimme wurde einen Augenblick lang leiser, als sie etwas sagte, das Frazer nicht hören konnte. Dann sprach sie mit normaler Lautstärke weiter. »Nach den Drohungen, die er dir und Frazer gegenüber ausgesprochen hat, wusste ich, dass es für mich Zeit wurde weiterzuziehen. Und ich meine es ernst: Er braucht jemanden, der Vollzeit da ist, und ich wollte im letzten Jahr vor meiner Rente auf Teilzeit reduzieren.«
»Sei nicht albern. Du darfst niemals in Rente gehen.« Frazer gesellte sich zu ihnen.
Tias Lächeln war wie immer liebevoll und gleichzeitig genervt. »Wir reden nochmal drüber, wenn du in meinem Alter bist.«
»Sei nicht albern. Ich werde nie so alt sein wie du.«
Cora lachte und Frazer spürte ein Glühen in der Brust. Tia schnaubte lediglich.
Frazer folgte Cora und Tia mit den Schlüsseln in der Hand. Cora trug eine schwarze, hautenge Jeans, die ihre Kurven umschmeichelte. Wie immer sah sie perfekt aus, wunderschön. Eine Tatsache, die Frazer schon seit Monaten nicht mehr nervte, sondern zunehmend faszinierte.
Verdammt sollten Jemma und Meg sein, dass sie ihr diese Flausen in den Kopf gesetzt hatten.
Als Frazer draußen vor den Rollläden stand, fragte Cora Tia: »
Point Bar
, die Straße runter?«
»Na klar«, antwortete Tia. »Frazer?«
Wie immer musste sie ein wenig an dem Schlüssel wackeln, um ihn aus dem Schloss zu ziehen. »Klingt gut.«
Sie und Cora gingen nach links, Tia nach rechts.
»Äh – Tia! Zur Bar geht’s da lang.« Frazer zeigte in die Richtung, um sicher zu gehen, dass sie verstand.
Tia drehte sich um und legte den Kopf schief. »Ich weiß.«
»Wolltest du nicht was trinken gehen?«, fragte Frazer.
»Das habe ich nie gesagt. Auf mich wartet zu Hause ein Ehemann. Kriegt eure Sache auf die Reihe!« Tia winkte fröhlich und ging.
Cora wandte sich mit gerunzelter Stirn an Frazer. »Wurden wir gerade von Tia ausgetrickst? Schon wieder?«
Diese Frau war ein Genie. »Das wurden wir wirklich.«
Einen Moment lang blieben sie stehen und betrachteten einander, während der Verkehr nur wenige Meter entfernt an ihnen vorüberzog.
»Willst du was trinken?«, fragte Frazer schließlich.
Cora nickte. »Ja, gern.« Frazer wollte weitergehen, blieb aber stehen, als Cora hinzufügte: »Als was, Frazer?«
»Was meinst du?«
Frazer glaubte zu wissen, was sie meinte. Aber sie wollte keine Unterhaltung führen, die falsch interpretiert werden konnte. Sie wollte nicht nach Hause gehen und sich fragen, was Cora wirklich hatte sagen wollen. Sie wollte sich nicht selbst in den Hintern treten, weil sie das Falsche gesagt hatte. Frazer hatte es satt, bis zur Erschöpfung zu schwimmen, nach Hause zu gehen und ihre letzte Unterhaltung in der Kantine trotzdem immer wieder in Gedanken abzuspielen – oder in letzter Zeit vielmehr ihre Gespräche in der Klinik, die sich lang und gleichzeitig zu schnell anfühlten.
»Gehen wir als Freundinnen?«
Frazer ließ ihre Schultern ganz leicht hängen. Wenn Cora das wollte, würden sie das tun. Das hatten sie seit Monaten getan. Sie hatte sich selbst etwas vorgemacht, als Cora den Job angenommen und sie so getan hatten, als wären sie immer nur Freundinnen gewesen. Aber Frazer war glücklich mit ihrem Leben und die Klinik und ihre Freunde konnten genug sein. »Ja. Freundinnen.«
»Ich will nicht mit dir befreundet sein, Frazer.«
Einen Moment lang fühlte es sich an, als hätte Cora ihr eine Ohrfeige verpasst. Aber dann drangen ihr Tonfall und der sanfte Ausdruck in ihren Augen zu ihr durch. Alles um sie herum wurde langsamer und Frazer, die es satthatte, immer nur zu warten, trat einen Schritt auf sie zu.
Das war alles, was nötig war. Cora stellte sich ganz dicht vor Frazer und raubte ihr mit ihrer Nähe den Atem. Sanft strich sie mit den Fingerspitzen über ihre Wange. Ihre Augen waren dunkel und unergründlich und folgten jeder von Frazers Reaktionen. Cora bewegte sich, ohne zu zögern, ohne zu zweifeln.
Als Cora sie mitten auf dem Gehweg küsste, wo jeder es sehen konnte, fühlte es sich nicht wie eine Explosion oder ein Feuerwerk an, sondern wie ein Ankommen. Als würden all ihre kleinen Teile wieder zusammenfinden.