M
ya schrak hoch und sah sich um. Sie fühlte das feine Leinen, das sie umgab, roch den Duft der Lavendelkissen auf ihrem Nachtkästchen und sah den nackten Oberkörper eines schlafenden Mannes neben sich. Benjamin. Sie atmete aus. Die Uhr neben ihrem Bett zeigte fünf Uhr morgens an.
Leise schob sie die Decke zurück und erhob sich. Der morgendliche Dunst vor dem Fenster war typisch für London. Er hüllte die gesamte Wohnung in ein weiches Licht. Mya schlich aus dem Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich und nahm in der Küche drei Orangen aus der Obstschale. Nachdem sie sie geschält und geviertelt hatte, steckte sie die Stücke in die Saftpresse und stellte ein Glas darunter. Anschließend setzte sie sich an den geräumigen Esstisch, schlürfte den frischgepressten Saft und bemühte sich, nicht an den Traum zu denken, der sie hatte aufschrecken lassen.
Doch ihr Herz klopfte unnatürlich schnell. Beinahe, als wäre sie gerade erst von ihrer täglichen Joggingrunde zurückgekehrt, nach der sie süchtig war. Sie lief nicht etwa, sie rannte. Jeder, der Mya kannte, scheute sich davor, sie bei ihren Trainigsrunden zu begleiten. Kein normaler Jogger konnte über längere Zeit
dem Tempo standhalten, das Mya vorlegte. Zehn Jahre Training lagen hinter ihrem Durchhaltevermögen, das ihren Körper zäh und sehnig hatte werden lassen. Zehn Jahre.
Mya kippte den Orangensaft hinunter und wippte zerstreut mit dem Fuß. Es war diese ständige Nervosität, vermischt mit den quälenden Erinnerungen, die sie jeden Tag aufs Neue loslaufen ließen. Erst wenn ihre Lunge brannte und ihre Knie drohten, unter ihr nachzugeben, war Mya zufrieden. Für kurze Zeit kamen ihre Sinne dann zur Ruhe. Bis die Nacht kam und mit ihr die Träume, die sie selbst nach all den Jahren nicht losließen.
»Bist du schon wach?« Benjamin kam oberkörperfrei in die Küche und gähnte. Seine Schlafanzughose war zerknittert, die rotbraunen Haare standen ihm zu Berge.
»Ich gehe laufen«, erklärte Mya und erhob sich.
Er zog sie in seine Arme. »Kann das nicht warten? Es ist Samstag. Alle anderen Paare erholen sich am Wochenende, schlafen aus, haben Sex ...« Er knabberte an ihrem Ohr.
Mya wand sich aus seiner Umarmung. »Ich muss nachdenken«, murmelte sie.
»Ist es wegen dem Schreiben, das du bekommen hast?« Er sah sie aufmerksam an. »Ich habe dir gesagt, dass du dir darüber nicht den Kopf zerbrechen solltest. Nimm dir einen Anwalt. Ich kann nicht glauben, dass man dich zwingen kann, wegen einer Aussage in die USA zu fliegen.«
Mya starrte aus dem Fenster. Was war, wenn sie fliegen wollte? Das Herz hämmerte in ihrer Brust.
»Ich könnte dich begleiten. Du musst das nicht alleine durchstehen.«
»Danke.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. Benjamin war ein wundervoller Mann. Sie waren bereits seit vier Jahren ein Paar, seit einigen Monaten lebten sie zusammen. Es war die erste Beziehung in Myas Leben, die sie bewusst zuließ. Sie bemühte
sich, Benjamin einen Blick in ihr Innerstes zu gewähren, aber bei gewissen Dingen gelang ihr das nach wie vor nicht.
»Lass uns später darüber reden«, wiegelte sie ab und gab ihm einen Kuss. »Ich gehe jetzt laufen.«
»In Ordnung.« Er streckte sich. »Ich schlafe noch eine Runde.«
Mya blickte ihm nach, dann ging sie ins Bad, zog ihre Trainingsklamotten an und betrat die Straße. Kaum hatte sie ihren gewohnten Laufrhythmus aufgenommen, verselbstständigten sich ihre Gedanken.
Straßenbauarbeiter hatten die Leiche ihres Pflegevaters südlich des Highway 101 zwischen Paso Robles und King City gefunden. Das war bereits im vorletzten Jahr gewesen. Aber es hatte über zwölf Monate gedauert, bis die Behörden sie ausfindig gemacht hatten. Seit Mya Monterey County in Kalifornien vor zehn Jahren verlassen hatte, war sie niemals lange an einem Ort geblieben. Ihre letzte Pflegefamilie, zu der sie ebenso wenig eine Bindung hatte aufbauen können wie zu allen anderen davor, war mit ihr von Kalifornien in den Bundesstaat Maine gezogen. Nach ihrem High School Abschluss war Mya nach New York gegangen. Sie hatte dort als Kellnerin gearbeitet, hatte die Abendschule besucht und eine Ausbildung zur Software-Programmiererin abgeschlossen. Sie war gut in abstrakten Dingen, die nichts mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hatten. Schnell fand sie einen Job, in dem sie sich wohlfühlte. Doch die Firma verlegte ihren Standort kurz darauf nach Kalifornien. Dorthin wollte Mya nicht mehr zurück. Sie schlug ihre Zelte eine Zeitlang in New Orleans, dann in Miami auf. Schließlich trieb sie ihre Ruhelosigkeit nach Europa. Je weiter sie von den USA entfernt lebte, so glaubte sie, desto einfacher würde ihr das Leben fallen.
Es stellte sich jedoch heraus, dass Mya ihrem Unterbewusstsein nicht entkommen konnte. Als sie schließlich
anfing, bei einer Firma zu arbeiten, deren Zentrale in London lag, und die bereit war, sich um ein Arbeitsvisum für Mya zu kümmern, eröffnete sich ihr die Möglichkeit, länger als nur für eine kurze Reise ihrer Heimat fortzubleiben. Sie nutzte diese Gelegenheit. Das war vor sechs Jahren gewesen. Seitdem rannte sie nicht nur jeden Tag durch den Park von Hampstead Heath, sondern übte sich auch darin, ihre amerikanische Aussprache abzulegen, um einer Vergangenheit zu entkommen, die sie nicht aufhörte, zu verfolgen.
Wieder zurück in ihrer Wohnung, ging Mya unter die Dusche. Ihr Herzschlag beruhigte sich und der angenehme Erschöpfungszustand ihres Körpers setzte ein. Mya genoss das Glücksgefühl, das ihr in dieser Form nur vergönnt war, wenn sie rannte.
»Darf ich?« Benjamin schob den Vorhang zurück. Er war nackt und offensichtlich hocherfreut, sie zu sehen.
Mya wischte sich das Wasser aus den Augen und nickte.
»Warum nicht das nützliche mit dem angenehmen verbinden?«, murmelte er, bevor er in die Dusche stieg und sie küsste.
Mya gelang es, sich auf ihn zu konzentrieren. Benjamin war ein rücksichtsvoller Liebhaber, zärtlich und einfühlsam. Seine Finger fuhren die Innenseite ihres Oberschenkels entlang, strichen vorsichtig über ihre Schamlippen. Sie spreizte die Beine ein wenig für ihn, doch er ließ sich Zeit. Sanft massierte er sie mit der Handfläche, während sie sich in seine Pobacken krallte. Es fiel ihr schwer, ihm zu sagen, was sie wollte, denn sie fürchtete sich vor seiner Reaktion. Am Ende ging es auch nicht darum, was
sie wollte, sondern wen
. Das schlechte Gewissen überkam sie und sie beobachtete, wie er den Duschkopf nahm und vor ihr auf die Knie ging. Er wollte es ihr schön machen. Mya stöhnte laut, um ihn anzutörnen. Benjamin lächelte und neckte sie mit dem Wasserstrahl, bevor er sich vorbeugte und mit der
Zunge ihre Schamlippen durchdrang. Behutsam umkreiste er ihre Klitoris, saugte und leckte und Mya wünschte sich, dass sie endlich aufhören könnte zu denken. Deshalb warf sie ihren Kopf zurück und vergrub ihre Hände in Benjamins nassen Haaren. Wenn sie es schaffte loszulassen, stellte sich meist jene Erregung ein, die sie ersehnte.
»Du bist so sexy!« Benjamin stand wieder auf, bevor Mya richtig in Fahrt war, hob ihr Bein an und küsste sie erneut. Sie schmeckte sich auf seiner Zunge und drängte ihr Becken automatisch gegen ihn.
»Nimm mich«, murmelte sie und stieß seine Finger zur Seite, damit er endlich in sie eindrang. Er tat es langsam, sah ihr dabei in die Augen. Das war der Moment, in dem sie die Enttäuschung spürte. Sie vermisste etwas. Benjamin war nicht stürmisch, rau oder bestimmend. Er hielt sie nicht fest, nahm sich nicht, was er wollte, und gab ihr nicht das Gefühl, eins zu werden mit der Gefahr. Sie löste sich unter seinen Händen nicht auf, sondern blieb das hilflose Wesen, das sie war. Sie bekam keine Stärke von ihm.
»Ich liebe dich, Mya«, hörte sie Benjamins heißen Atem an ihrem Ohr, während er in sie stieß. Instinktiv bewegte sie ihre Hüften schneller, kreiste sie, zwang ihm ihren Willen auf und brachte ihn schließlich zum Höhepunkt.
»Ich wollte noch nicht ...«, flüsterte er und sie erstickte seine Worte mit einem Kuss. Er erwiderte ihn und hielt sie fest an sich gedrückt. Mya glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Vorsichtig löste sie sich von ihm und ließ zu, dass er sie einseifte.
»Wollen wir später auf den Farmers Market
gehen?« Benjamin stellte die Shampooflasche zurück auf die Ablage und begann, sich die Haare zu waschen.
»Gerne.« Mya wusch sich den Schaum vom Körper, schob sich an ihm vorbei und stieg aus der Dusche. Rasch wickelte sie sich in ein Handtuch, um das Tattoo nicht ansehen zu müssen,
das oberhalb ihrer linken Brust prangte. Seit Jahren wollte sie es entfernen lassen, aber sie brachte es nicht über sich.
»Wir könnten ein paar Dinge einkaufen und Sue und Peter heute zum Abendessen einladen.«
»Hm.« Mya betrachtete ihr Spiegelbild. Die dunkelbraunen, halblangen Locken klebten nass an ihrem Kopf, ihre Wangen waren gerötet und der Mund war wie gewohnt so fest aufeinandergepresst, dass die Lippen weiß hervortraten. Sie versuchte, sich zu entspannen, und blickte sich selbst in die kühlen, blauen Augen. Ihr Gesicht war schmal, ebenso wie der Rest ihres Körpers. Beinahe knochig ragten ihre Schlüsselbeine aus dem flauschigen Handtuch.
Mya wusste, dass viele Leute sie für eine Gesundheitsfanatikerin hielten, obwohl sie außer ihrem täglichen Joggen nichts tat, was diese These bestätigt hätte. Dennoch wurde sie allein wegen ihres Aussehens in eine Schublade gesteckt, die jeder mit veganer Ernährung, Kalorienzählen oder obskuren Diäten in Verbindung brachte. Eine Tatsache, die Mya nicht klarstellte. Sie hatte gelernt, dass man Leute mit der Realität auch verstören konnte und es einfacher war, das Bild zu leben, welches sich andere von einem machten.
Benjamin stellte das Wasser ab und stieg ebenfalls aus der Dusche. Er zerzauste ihr spielerisch die Haare und sagte: »Ich mache uns Frühstück.«
»Du bist ein Schatz.« Mya zog ihn zu sich heran und küsste ihn. Obwohl sie sich beim Sex mit ihm nicht gehen lassen konnte, war er das Beste, was ihr seit langem passiert war. Deshalb fürchtete sie sich auch davor, jenes Gespräch mit ihm zu führen, das sie in Gedanken bereits durchgespielt hatte.
Als sie eine
Viertelstunde später in die Küche kam, hatte Benjamin schon den Tisch gedeckt. Mya hörte das Gurgeln der Kaffeemaschine und roch die Bagels im Ofen. Sie stippte mit dem Finger in die Orangenmarmelade und steckte ihn sich in den Mund.
»Kleine Naschkatze«, neckte Benjamin sie und jonglierte mit vier rohen Eiern.
Mya musste lachen. Inzwischen war er gut darin, seine Kunststücke vorzuführen, doch zu Beginn ihrer Beziehung waren dabei nicht nur Eier kaputt gegangen. Benjamin warf alles in die Luft, was ihm zwischen die Finger kam. Mya applaudierte spontan.
»Du wirst immer besser!«
»Warte nur ab, eines Tages wird mich ein Wanderzirkus engagieren. Dann verlasse ich London und reise um die Welt.«
Mya setzte sich und beobachtete ihren Freund beim Kochen. Benjamin ging alles leicht von der Hand. Er kam ihr oftmals wie ein Tänzer vor, der durch das Leben schwebte. Als Angestellter einer renommierten Werbeagentur war er beruflich eingespannt, was seiner guten Laune jedoch keinen Abbruch tat. Er hatte ein anständiges Einkommen, viele Freunde, eine Familie, die sich um ihn bemühte und das große Glück, in der vertrauten Umgebung zu leben, in der er aufgewachsen war. All das schenkte ihm Ruhe und Ausgeglichenheit. Etwas, das Mya nicht kannte und von dem sie immer noch hoffte, dass es auf sie abfärben würde.
Geschickt schlug Benjamin die Eier in eine Schüssel und verrührte sie mit einer Gabel. Nebenbei erhitzte er Butter in der Pfanne auf dem Herd. Tomatenhälften und Speck brutzelten
bereits in einer weiteren Pfanne. Mya seufzte. So hatte sie sich ihr Leben immer vorgestellt. Es war ihr ein Rätsel, warum sich dennoch nicht jene Zufriedenheit einstellte, nach der sie sich so sehr sehnte.
Benjamin nahm die Bagels aus dem Ofen und legte sie in den Brotkorb auf dem Tisch. Mya wartete, bis er auch die beiden Pfannen auf die bereitgestellten Korkuntersetzer stellte und sich zu ihr setzte. Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein.
»Ich werde versuchen, mir freizunehmen, um nach San Francisco zu fliegen. Ich möchte gerne persönlich aussagen«, hörte sie ihre eigene Stimme und fragte sich, wie sie es schaffte, derart beherrscht zu klingen.
Benjamin sah auf. »Warum machst du es dir so schwer? Nach allem, was ich weiß, hat dich deine Pflegefamilie nicht besonders gut behandelt. Du musst nicht an den Ort zurückkehren, dem du einst voller Hass den Rücken gekehrt hast.«
Mya schluckte. »Das ist richtig, aber es könnte sein, dass ansonsten zwei Freunde von mir in Schwierigkeiten geraten ...« Sie biss sich auf die Unterlippe. Das hatte sie nicht sagen wollen.
»Welche Freunde? Ich dachte, du hattest nie welche.«
Mya versuchte, zu lächeln. »Das hatte ich auch nicht. Zumindest nicht, bevor ich nach Salinas kam.«
»Und was haben deine Freunde mit dem Verschwinden deines Pflegevaters zu tun?« Benjamin runzelte die Stirn, während er einen Bagel in zwei Hälften schnitt.
Die Frage brachte Mya aus dem Konzept. Dabei hätte sie es besser wissen müssen, denn Benjamin war niemand, der Dinge einfach auf sich beruhen ließ.
»Sie haben ihm einmal die Hölle heiß gemacht, als er mich verprügelt hat. Ich möchte nicht, dass der Verdacht auf sie fällt«, erwiderte sie möglichst gelassen.
»Ich hoffe, du hast nicht vor, ihnen ein falsches Alibi zu verschaffen.« Benjamin lachte und Mya fiel in sein Lachen ein, obwohl sie innerlich erbebte.
Er schaufelte sich Rührei auf den Teller und biss in eine Bagelhälfte. »Das klingt nach tollen Freunden. Erzähl mir mehr von ihnen!«
Mya zögerte. Wie sollte sie über etwas sprechen, das sie tief in ihrem Herzen begraben hatte?
Doch Benjamin sah sie auffordernd an und Mya gab sich geschlagen: »Ihre Namen waren Rap und Exx. Ich kannte sie aus der High School.«
»Rap und Exx?« Benjamins Lachen vertiefte sich. »Sind das Pseudonyme? Waren die Beiden sowas wie Comic-Helden?«
Mya war nicht zum Scherzen zumute. Sie starrte auf ihren Teller.
»Hey, jetzt sei nicht gleich sauer!« Benjamin griff nach ihrer Hand. »Du kennst mich, ich kann nie wirklich ernst sein.«
»Ich weiß.« Mya rührte in ihrem Kaffee und bemühte sich um Gelassenheit. »Das waren ihre Spitznamen. Rap hatte einen Raptor, diesen Dinosaurier, auf seinen Rücken tätowiert, daher der Name. Und Exx ...das ist eine andere Geschichte.«
»Jetzt wird es spannend! Ich bin ganz Ohr.«
Mya atmete tief durch. »Exx’ Vater arbeitete jahrelang für den Ölkonzern ExxonMobil in Texas. Als er dort seinen Job verlor, begann er zu trinken. Eines Tages ließ er seine aufgestaute Wut an seinem Sohn aus. Im Suff wollte er ihm den Namen seines ehemaligen Arbeitgebers mit einer Glasscherbe in den Arm ritzen. Weiter als bis Exx kam er jedoch nicht.«
»Was ist passiert?«
»Exx befreite sich und brach seinem Vater mit der Nachttischlampe den Unterkiefer. Da war er zwölf.«
»Wow!« Benjamin hielt inne, er wirkte mit einem Mal misstrauisch. »Das waren ja ziemlich besondere Freunde.«
»Es waren besondere Zeiten.«
»Du hast mir nie viel über Salinas erzählt. Hat das einen Grund?«
Myas Finger krampften sich in die Tischdecke. »Es war wie in den beiden anderen Pflegefamilien zuvor. Meine neuen Eltern wollten mich erziehen, ich war rebellisch, wollte mich nicht anpassen, wurde geschlagen, kam wieder einmal in eine Therapie und als mein Pflegevater spurlos verschwand und seine Frau sich selbst überlassen blieb, entschied das Jugendamt, uns Pflegekinder auf neue Plätze umzusiedeln. Das war’s.«
Benjamin drückte Myas Hand. »Ich weiß, dass es dir schwerfällt, über all diese Dinge zu sprechen. Tut mir leid, wenn ich mit meiner Neugier Erinnerungen heraufbeschworen habe, die du längst verdrängt hast, doch manchmal möchte ich einfach mehr über dich erfahren. Du bist so ein verschlossener Mensch, Mya, und ich glaube zu verstehen, warum du das bist, aber bitte verstehe auch mich. Wir leben zusammen und ich denke ständig über eine gemeinsame Zukunft mit dir nach ...«
Rasch zog Mya ihre Hand zurück und Benjamin warf ihr einen enttäuschten Blick zu.
»Immer wenn ich über unsere Zukunft rede, machst du komplett dicht«, bemerkte er.
Mya überkam erneut ein schlechtes Gewissen, aber sie brachte keine Entschuldigung über die Lippen.
»Kannst du dir keine Zukunft mit mir vorstellen? Was ist mit Kindern?«, bohrte Benjamin nach.
Myas Kopf schnellte in die Höhe. »Ich will keine Kinder!«, entfuhr es ihr.
»Warum denn nicht?«
»Weshalb ist das jetzt von Bedeutung? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, okay?«
»Das ist es, was ich meine.« Benjamin fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch die noch feuchten Haare. »Du bleibst
immer an der Oberfläche. Es ist, als hättest du innerlich einen Bunker errichtet, in dem du nun sitzt und jeden Angriff von außen abwehrst. Dabei bin ich nicht dein Feind, Mya. Ich will dich einfach nur kennenlernen.«
Mya reagierte nicht. Sie wusste, dass Benjamin Recht hatte, aber sie fürchtete sich davor, ihm ihre ganze Geschichte zu offenbaren. Was war, wenn ihm nicht gefiel, was sie ihm erzählte? Die Wahrheit war oft schmerzhaft. In der harmlosen Welt, in der Benjamin lebte, konnten Geheimnisse wie ihres alles zerstören.
»Und jetzt redest du gar nicht mehr!« Der Freund warf seine Serviette auf den Teller. »Ich verstehe dich nicht, Mya. Tut mir leid, aber manchmal weiß ich einfach nicht mehr, was ich tun soll.«
Das wusste sie ebenfalls nicht. Im Grunde wollte sie nur in Ruhe gelassen werden, wollte, dass Benjamin aufhörte, sie mit Fragen zu löchern. Sie mochte ihn von ganzem Herzen, auch wenn sie sich noch unsicher war, ob sie ihn wirklich liebte. Aber sie spürte dieses Kribbeln im Bauch, genoss die Zeit mit ihm, staunte jedes Mal darüber, dass er es schaffte, sie zum Lachen zu bringen, und war dankbar, dass er sie von ihren Grübeleien ablenkte. Dennoch überfiel sie Panik, wenn er von Kindern und einer gemeinsamen Zukunft sprach.
»Verlange ich zu viel von dir?«, fragte er. »Brauchst du mehr Zeit?«
Mya wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger und zog so fest an, dass es wehtat. »Ich bin mir nicht sicher, ob du bei mir je finden wirst, was du suchst«, murmelte sie.
Benjamin wirkte erschüttert. »Denkst du das wirklich? Willst du vielleicht, dass ich Schluss mache, weil du selbst nicht den Mut dazu aufbringst?«
Mya schüttelte den Kopf und fragte sich, wann ihr Gespräch eine derartige Wendung genommen hatte. Auf einmal ging es
nicht mehr nur um eine gemeinsame Zukunft, sondern darum, ob sie überhaupt eine hatten. Sie hob die Hand, um Benjamin Einhalt zu gebieten, der den Anschein machte, als wäre er im Begriff, das auszusprechen, was sie keinesfalls hören wollte.
»Ich muss einige Dinge regeln, die mit meiner Vergangenheit zu tun haben«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich kann dir nicht sagen, was es ist. Noch nicht. Vielleicht nie. Es ist kompliziert.«
Benjamin musterte sie. »Dir ist bewusst, wie das für mich klingen muss?«
»Ja.« Mya blinzelte verunsichert. »Es geht aber nicht anders.«
Sie hörte ihn seufzen. »Ich liebe dich, Mya, und das meine ich ehrlich. Es tut mir leid, wenn ich wütend bin, doch deine Abwehrhaltung überfordert mich einfach. Ich habe mich damit arrangiert, dass du niemals über deine Gefühle sprichst oder mir sagst, was du für mich empfindest. Manch anderer hätte eine derartige Beziehung schon längst aufgegeben, aber ich glaube zu spüren, dass zwischen uns mehr ist, als du zugeben willst. Deshalb hoffe ich weiter, dass du mir irgendwann so sehr vertraust, dass du mir dein Geheimnis offenbarst.« Nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: »Steckst du in Schwierigkeiten, Mya?«
Sie schüttelte den Kopf und er lachte gequält. »Ich schäme mich für meine Zweifel, aber ich habe keine Erfahrung darin, wie man sich verhält, wenn die Freundin in einer Mordsache aussagen muss. Das alles verwirrt mich, Mya. Ich frage mich, wer du eigentlich bist.« Er sah sie an. »Ich würde so gerne verstehen, was in dir vorgeht.«
Mya zog die Knie an und umklammerte sie. Wie sollte Benjamin etwas verstehen, das sie selbst nicht verstand?
Doch er gab nicht auf. »Wenn du dich mir anvertraust, dann werde ich dir helfen. Ganz egal, was es ist. Ich setze alle Hebel
in Bewegung und sorge zur Not dafür, dass du in England Asyl erhältst.«
Trotz der Ernsthaftigkeit der Situation grinste Mya.
»Das ist nicht lustig«, protestierte Benjamin. »In Kalifornien gibt es noch die Todesstrafe!«
»Du unterstellst mir also, dass ich etwas getan habe, wofür ich die Todesstrafe verdiene?«
Sie sahen einander in die Augen und Myas Magen krampfte sich zusammen.
»Hast du?« Die Worte schwebten in der Luft.
»Nein.« Myas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Von ihrem nachfolgenden Schweigen verunsichert, begann Benjamin damit, den Tisch abzuräumen. Mya beobachtete ihn dabei. Zum ersten Mal erlebte sie ihn derart aufgewühlt. Mit zackigen Bewegungen verstaute er Butter, Marmelade und Käse im Kühlschrank, obwohl Mya noch nicht einmal gefrühstückt hatte.
»Flieg nicht!«, sagte er mit einem Mal und hielt inne. »Ich bin mir sicher, du kannst die Aussage auch hier in England machen. Das Protokoll wird schriftlich an die Behörden in den USA übermittelt. Wir erkundigen uns einfach, ob das möglich ist, okay?«
Mya erwiderte noch immer nichts und Benjamin hob verzweifelt die Hände. »Weshalb willst du unbedingt fliegen? Was ist, wenn man dich festnimmt?«
»Ich denke nicht, dass man mich festnimmt«, sagte Mya und hoffte, dass sie Recht behielt.
»Dann bleib bei mir!« Benjamin sah sie flehentlich an.
Seine Sorge rührte Mya. Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Was für einen Sinn hatte es, längst vergangene Geschichten aufzuwärmen?
Benjamin bemerkte ihre Unsicherheit und ging zu ihr. »Du hast schon so viel durchgestanden, Mya! Deine Vergangenheit
kann ich nicht ändern, aber ich kann im Jetzt und Hier für dich da sein. Schließ mich nicht aus. Gemeinsam kriegen wir das hin.«
Sie wollte ihm glauben. Seit er an ihrer Seite war, gab es in ihrem Leben Normalität. Etwas, das sie so nie gekannt hatte. Doch gleichzeitig fürchtete sie sich vor ihrer dunklen Seite, vor den Taten, zu denen sie fähig war und die sie nicht bereute. Vor den Sehnsüchten, die sie in sich trug und ihrem verräterischen Herzen, das jedes Mal schneller schlug, wenn sie an die leidenschaftlichen Nächte in einer verlassenen Hütte dachte. Das schwarze Kleeblatt. Es prangte oberhalb ihres Herzens und war ein Mahnmal für all das, was Mya einmal gewesen war. Und vielleicht noch immer war.
»Ich überlege es mir«, hörte sie sich sagen und schluckte die Zweifel hinunter.
»Danke«, murmelte Benjamin, bevor er sie küsste.
Die folgenden Tage
dachte Mya nach. Über sich, ihre Beziehung zu Benjamin und ihre gemeinsame Zukunft. Doch die lag im Dunklen. Mya konnte sich beim besten Willen nicht ausmalen, wie sie aussehen könnte. Bis ihr bewusst wurde, dass sie niemals eine Zukunft mit Benjamin haben würde, wenn sie sich nicht ihrer Vergangenheit stellte. Aus diesem Grund blieb sie bei ihrem Vorhaben, beantragte bei ihrem Chef eine Woche Urlaub und buchte einen Flug.
Als Benjamin abends nach Hause kam, musste Mya ihm nicht viel erklären. Er erwischte sie beim Packen und seine Mundwinkel zogen sich nach unten.
»Du hast dich entschieden?«, wollte er wissen. »Das ging schnell.«
»Ich will es hinter mich bringen.« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du vor mir davonläufst?«
Mya ging auf ihn zu. »Ich muss diese Aussage machen. Danach wird alles anders.«
»Das glaube ich dir nicht.« Er umarmte sie, doch er hielt sie nicht so fest wie sonst. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Aus irgendeinem Grund denke ich, dass ich im Begriff bin, dich zu verlieren.«
Mya schwieg. Sie wollte Benjamin nicht anlügen, weil sie wusste, dass auf ihrer Reise alles passieren konnte. Aber sie musste das Puzzle endlich richtig zusammensetzen, mit dem abschließen, was sie belastete, und sich bewusst machen, was sie wollte. Seit zehn Jahren rannte sie davon. Das musste aufhören.
Er trat von ihr zurück und sah sie mit plötzlicher Entschlossenheit an. »Du schweigst mal wieder und das sagt mir, dass du nicht an eine Beziehung mit mir glaubst. Deshalb lass es uns beenden.«
»Beenden?«
»Ja, das ist das Beste. Ich habe die letzten Tage viel über uns nachgedacht und ich bin der Meinung, wir sollten uns trennen.«
Mya erschrak. Er hatte es ausgesprochen. »Willst du mich damit erpressen? Soll das ein Versuch sein, mich zum Hierbleiben zu bewegen?«, fragte sie misstrauisch, doch er verneinte.
»Ich kann dich nicht zum Hierbleiben bewegen, Mya, das ist mir gerade klar geworden. Diese Freunde von dir scheinen dir wichtig zu sein. Wichtiger als ich. Das habe ich in deinem Gesicht gesehen, als du von ihnen gesprochen hast. Das tat weh.« Er trat einen weiteren Schritt zurück, als brauchte er mehr Abstand zu ihr. »Doch anstatt mit mir zu reden, mir alles zu erklären, machst du ein großes Geheimnis aus der ganzen
Sache. Das ertrage ich nicht. Ich kann nicht hier sitzen und mich verrückt machen, was du dort drüben tust. Mit wem du es tust oder warum du es tust. Das macht mich krank und ich finde, das habe ich nicht verdient. Deshalb möchte ich nicht mit dir zusammenbleiben.«
Sie war entsetzt, weil er Dinge ahnte, die sie ihm bewusst verschwiegen hatte. Doch gleichzeitig wusste sie, dass er recht hatte und dass es nur fair von ihm war, sich auf diese Art zu schützen. Dennoch tat es ihr ebenfalls weh und sie überkam die Erkenntnis, dass sie es wieder einmal versaut hatte. Mit hängenden Armen stand sie vor ihm. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gestand sie ihm.
Er lächelte traurig. »Das weißt du nie, Mya. Deshalb geh und finde deine Seele wieder oder was auch immer du dort drüben verloren hast. Ich möchte nicht darüber nachdenken, um ehrlich zu sein.«
»Dann ist es wirklich vorbei?«
Benjamin schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum nur habe ich gehofft, dass du protestierst? Jede andere Frau würde weinen, schreien und verzweifelt sein, aber du bist einfach nur starr«, sagte er leise. »Mit so einem Menschen kann ich nicht zusammen sein.«
Er verließ das Zimmer und die nachfolgende Stille lastete schwer auf ihr. Benjamin hatte eine Entscheidung für sie beide getroffen, die sie ängstigte. Wieder einmal war sie alleine. Wieder einmal war sie auf dem Weg nach Salinas. Sie atmete tief durch und es war, als würde sich das schwarze Kleeblatt in ihre Haut hineinbrennen. Rap, Exx und sie hatten sich geschworen, auf ewig zusammenzubleiben und aufeinander aufzupassen. Doch Mya war gegangen. Sie hatte ihre Freunde zurückgelassen und nur der Teufel alleine wusste, welche Konsequenzen es hatte, wenn sie die Beiden wiedersah.