E
s war abends um kurz vor sieben, als die Virgin-Atlantic-Maschine pünktlich auf dem Flughafen von San Francisco landete. Mya schloss die Augen. Die elf Stunden des Fluges hatte sie mit Grübeleien darüber verbracht, ob ihre Entscheidung die richtige gewesen war. Nun, da die Passagiere um sie herum damit begannen, ihre Sachen zusammenzusammeln, war Mya unfähig, sich zu rühren. Sie fürchtete sich vor den nächsten Tagen.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich eine freundliche Stewardess und Mya öffnete ihre Augen. Ihr Sitznachbar war bereits aufgestanden und die Kabine begann, sich zu leeren.
»Es geht mir gut«, erwiderte Mya und sprang auf. Rasch holte sie ihre Umhängetasche aus dem Fach über ihrem Kopf und folgte den übrigen Passagieren.
Während sie über die Gangway schritt, warf sie einen Blick auf das Rollfeld. Der Himmel war bedeckt, doch der Kapitän hatte beim Landeanflug 25 Grad Außentemperatur gemeldet. Noch war es hell, aber Mya wusste, dass sie erst nach Sonnenuntergang in Salinas eintreffen würde. Geduldig wartete sie auf ihr Gepäck, ließ die Einreiseformalitäten über sich ergehen und ging dann zielstrebig zu der Mietwagenfirma, bei
der sie sich ein Auto gemietet hatte. Der Angestellte erklärte ihr die Details, Mya unterschrieb die Formulare und begab sich anschließend in die Tiefgarage, um zu dem Parkplatz mit der Nummer zu gelangen, die man ihr genannt hatte.
Kurz darauf verließ sie in einem silbernen Chevrolet Sonic das Parkhaus und fuhr auf der US 101 in Richtung Süden. Kaum war sie auf dem Highway, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Finger nervös auf das Lenkrad trommelten. Es war lange her. Sie passierte San Mateo, Redwood City und Palo Alto. Aus dem Radio hämmerten die Klänge einer Heavy Metal Band.
Mya erinnerte sich an den Tag zurück, als man sie zu ihren Pflegeeltern nach Salinas gebracht hatte, die Stadt, die vor allem als Geburtsort von John Steinbeck bekannt war. Das hatte Mya in der Touristen-Broschüre gelesen, die ihr das Jugendamt gegeben hatte. Darin ging es um Salinas Art-Deco-Architektur und die Tatsache, dass die Stadt 1924 das höchste pro-Kopf-Einkommen der USA besessen hatte. Fakten, die Mya nicht interessierten. Sie hoffte einzig, dass ihre neue Familie anders war als die beiden zuvor, wo man sich durch die Unterstützung der Jugendbehörden eine Finanzspritze erhofft hatte. Die Pflegekinder waren lediglich Mittel zum Zweck gewesen.
Doch auch dieses Mal wurde Mya enttäuscht. Das Haus, in dem sie wohnte, war äußerlich hübsch anzusehen, innen jedoch so schlicht wie Mya es gewohnt war. Ihre neuen Eltern auf den ersten Blick gleichgültig und unnahbar. Es mochte sein, dass andere Pflegekinder das große Los zogen, so wie es die Motivationsvideos versprachen, die auf den Fluren der Jugendbehörden in einer Dauerschleife liefen, aber bei Mya war das nicht der Fall. Deshalb hatte sie die Hoffnung bereits aufgegeben und schwieg jedes Mal, wenn sich die Betreuerinnen, die ihr mehrmals jährlich einen Besuch abstatteten, nach ihrem Befinden erkundigten. Mya wusste, dass das, was in ihrer Akte stand, aussagekräftig genug war, um die übermäßig
freundlichen Damen ungläubig die Stirn runzeln zu lassen, hätte sie ihnen all das erzählt, was in ihrer Pflegefamilie vor sich ging.
Mya besaß ein gestörtes Sozialverhalten. Das war zumindest der Grund, aus dem sie ihre erste Pflegefamilie abgegeben hatte. In dem Bericht war von einer andauernden dissozialen und aggressiven Haltung die Rede, die über Aufsässigkeit, Ungehorsam und Trotz hinausging. Mya drehte das Radio lauter, um die Worte aus ihrem Kopf zu verdrängen.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was aus ihr geworden wäre, wäre sie in einer ganz normalen Familie aufgewachsen. Wütend schlug sie mit der Hand auf das Lenkrad, um die Wut herauszulassen, die sie jedes Mal überkam, wenn sie sich der Ungerechtigkeit ihres Lebens bewusst wurde.
»Hör auf damit!«, ermahnte sie sich selbst und ließ San Jose hinter sich.
Schon brach die Dämmerung herein und Mya war froh darüber. Sie wollte nicht gesehen werden, wenn sie Salinas erreichte und hatte sich bereits online ein Zimmer im Motel 6 in der Kern Street reserviert. Mya war sich sicher, dass sie dort niemand kannte. In Gedanken versunken, erschrak sie beim Klingeln ihres Handys. Beinahe hätte sie das Lenkrad verrissen und kramte mit einer Hand in ihrer Tasche. Als sie es fand, sah sie in der Hektik nicht auf das Display, sondern antwortete sofort.
»Hallo?«
»Ich bin’s, Ben.«
Mya atmete aus. Wer sonst hätte sie anrufen sollen? »Hey, bei dir muss es doch mitten in der Nacht sein. Was ist los?«, erkundigte sie sich.
»Ich wollte nur hören, ob du sicher gelandet bist. Und ob es dir gut geht.«
»Ja, es ist alles in Ordnung.« Sie bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich bin gerade auf dem
Highway. Noch etwa eine halbe Stunde und Salinas hat mich wieder.« Eine Vorstellung, die ihr nicht behagte, doch das wollte sie Benjamin nicht anvertrauen.
»Ich weiß, ich halte mich nicht an meine eigenen Regeln. Wir haben Schluss gemacht, aber mein Kopf will das nicht wahrhaben. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Ich komme klar«, versprach Mya und glaubte plötzlich selbst nicht mehr an ihre Worte. Wer wusste schon, was in der nächsten Woche alles passieren konnte?
»Ruf mich sofort an, wenn irgendwas ist, versprichst du mir das? Ich werde immer versuchen, dir zu helfen.«
»Das mache ich.« Sie schluckte. »Ich danke dir!«
Er erwiderte nichts und Mya ahnte, was in ihm vorging. Sie hasste sich dafür, dass sie ihn aus ihrem Leben ausschloss und sehnte sich danach, anders zu sein und ihm das geben zu können, was er sich unter einer normalen Beziehung vorstellte. Aber das ging nicht.
»Ich melde mich«, sagte sie stattdessen. »Und jetzt schlaf gut!«
»Du auch.« Die Enttäuschung in seiner Stimme war selbst über die vielen tausend Meilen Entfernung nicht zu überhören.
Mya legte auf und rieb sich hektisch die Stirn. Sie musste Benjamin jetzt ausblenden. Kaum war sie zurück in Kalifornien, fühlte es sich an, als hätte ihr Leben in London auf einem anderen Planeten stattgefunden. In einer anderen Galaxie. Trotz all ihrer schlechten Erfahrungen und einer Kindheit, die nie eine gewesen war, spürte sie, wie Kalifornien seine Finger nach ihr ausstreckte. Sie war hier geboren und aufgewachsen, sie kannte die Nebel, die im Winter die Küste einhüllten und die gleißende Sonne, die im Sommer alles verdorrte. Sie hatte im Norden gelebt und im Süden, doch erst Salinas im Monterey County hatte sie derart geprägt, dass sie nun unfähig war, ein normales Leben zu führen. Und die Stadt kam beständig näher.
Mya nahm den Fuß vom Gas und verlangsamte die Geschwindigkeit. An der Straße kündeten Schilder bereits die Weingüter an, die sich im Salinas Valley befanden. Mya hatte nie eines davon besucht. Sie kannte nicht das Salinas der Touristen und der gutbetuchten Bürger, ihr waren lediglich die Wohnwagenparks und die Siedlungen der Arbeiterfamilien bekannt.
Im letzten Licht der schwindenden Sonne heftete sich ihr Blick auf einen vorbeifahrenden Van, in dem sich eine Familie mit drei Kindern befand. Der Vater, der am Steuer saß, lachte, und es sah aus, als würden sie ein Lied zusammen singen. Die Mutter auf dem Beifahrersitz gab den Takt vor. Mya fragte sich augenblicklich, ob ihre leiblichen Eltern noch lebten. Sie wusste, sie war ihnen als Baby einst weggenommen worden. Es seien minderjährige Junkies gewesen, hieß es, vollgepumpt mit Heroin. Ein kleines Wunder, dass Mya ohne bleibende Schäden davongekommen war. Sie sollte Gott danken, hatten ihr die Schwestern in dem christlichen Kinderheim gesagt, in dem sie ihre ersten Jahre verbracht hatte. Doch Mya war nicht gläubig, war es nie gewesen. Sie weigerte sich, an eine gütige Macht im Himmel zu glauben, die zuließ, dass so viele schreckliche Dinge auf der Welt geschahen.
In Momenten wie diesen wünschte sich Mya jedoch, ihre Wurzeln zu kennen. Von wem hatte sie ihre Haarfarbe geerbt, ihre blauen Augen, ihre zierliche Figur? Gab es womöglich Verwandte, die gar nichts von ihrer Existenz wussten? Das, was die meisten Menschen als selbstverständlich hinnahmen, war für Mya ein schwarzes Loch. Sie kannte die Namen ihrer leiblichen Eltern, die ihr mitgeteilt worden waren, als sie volljährig geworden war. Es wäre ihr längst möglich gewesen, einen Antrag bei den Behörden zu stellen, um sie ausfindig zu machen, doch Mya fürchtete die Wahrheit mehr als die Ungewissheit. Was war, wenn sie sie gar nicht kennenlernen wollten oder Mya
nicht gefiel, was sie über ihre Eltern herausfand? Ihre Feigheit führte dazu, dass ihre Abstammung weiterhin ungeklärt blieb und Mya in dieser Welt wie ein einsames Atom umherwandern ließ, das sich beständig danach sehnte, sein zugehöriges Element zu finden.
Nachdem sie Prunedale passiert hatte, beschleunigte Mya wieder auf die zugelassene Höchstgeschwindigkeit. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie kam an der Northridge Mall vorbei, in der sie als Jugendliche bisweilen Dinge gestohlen hatte, die sie sich nicht hatte leisten können. Zweimal war sie dabei festgenommen worden. Eine Tatsache, die ihren Pflegevater zum Gürtel hatten greifen lassen. Es folgten das Walmart Supercenter, das Laurel West Shopping Center und schließlich die großen Farmflächen zu ihrer Linken.
Salinas war die einzige Stadt, die Mya kannte, die ein riesiges Gebiet an landwirtschaftlicher Nutzfläche in ihrer Mitte beherbergte. Eine 450 Morgen umfassende Anbaufläche für Salat, Erdbeeren und Brokkoli, die vom Krankenhaus, dem Gefängnis, einigen Rodeo-Flächen, einem Trailer-Park und den typischen Mittelklasse-Häusern umrahmt wurde. Seit jeher war dieses Farmland in der Hand mexikanischer Familien, die mit einer der größten Gangs des Landes in Verbindung gebracht wurden.
Mya nahm die Ausfahrt Market Street, bog links ab und folgte der Straße in östlicher Richtung. Kurz darauf bog sie wieder links in die Kern Street ab. Sie stoppte bei In-N-Out-Burger, bestellte sich einen doppelten Cheeseburger, Pommes Frites und einen Erdbeermilchshake, bevor sie weiter zum Motel 6 fuhr, das sich linker Hand der Straße befand. Dort angekommen stellte sie den Motor ab und atmete tief durch. Sie war zurück.
Nachdem sie eingecheckt hatte, schaltete sie als erstes den Fernseher an, kaum dass sie auf ihrem Zimmer war. Sie
fürchtete sich vor der Stille. Anschließend setzte sie sich auf das Bett, kreuzte die Beine und aß den mitgebrachten Burger, ohne darauf zu achten, was auf dem Kanal lief, den sie gewählt hatte. Dann ging sie duschen. Sie ließ sich Zeit dabei und genoss das heiße Wasser, das ihren Körper aufweichte. Doch am Ende saß sie wieder auf dem Bett und ihre Gedanken fuhren Karussell. Am liebsten hätte sie sich ins Auto gesetzt, um herumzufahren. Ganz so wie sie es als Jugendliche oft getan hatte. Im Auto hatte sie sich stets frei gefühlt. Aber nach all der Zeit, die vergangen war, wusste sie nicht, wohin sie hätte fahren sollen.
Energisch öffnete sie die Schublade neben dem Bett, schob die obligatorische Ausgabe der Bibel zur Seite und langte nach dem örtlichen Telefonbuch. In London hatte sie sich nicht getraut, im Internet nach Rap und Exx zu suchen. Sie fürchtete, etwas über sie zu lesen, das sie daran gehindert hätte, den Weg in ihre Vergangenheit anzutreten. Doch sie musste nach Salinas. Der Sog, der sie zurückbrachte, war stark. Viel stärker, als ihre Vernunft. Egal, was aus Rap und Exx geworden war, sie musste es vor Ort herausfinden.
»Bitte, bitte!«, flehte sie und blätterte hektisch durch die Seiten. Was war, wenn keiner der beiden mehr in der Gegend lebte?
Ihre Finger flogen über das Verzeichnis. Es gab keinen Eintrag für einen Travis McAlister. Mya biss sich enttäuscht auf die Unterlippe. Bei Exx lief sie schon einmal ins Leere. Nervös setzte sie ihre Suche unter dem Buchstaben D fort. Rory Dawley.
»Rap, wo bist du?«, flüsterte Mya und ihr Blick heftete sich auf einen Eintrag in der Mitte der Seite. Dawley, R. jun., Nacional St., Salinas
. Sie tippte die Telefonnummer in ihr Smartphone und starrte auf die Taste mit dem grünen Telefonhörer. Nach einigen Minuten, in denen Mya sich fühlte, als würde in ihrem Inneren ein Erdbeben stattfinden, löschte
sie die Telefonnummer wieder. Ziffer für Ziffer. Sie konnte Rap nicht anrufen. Was hätte sie ihm auch sagen sollen?
Stattdessen gab sie seine Adresse in ihr Handy ein und lachte überrascht auf. Der Routenplaner gab an, dass Raps Wohnort nur fünf Minuten von ihrem Motel entfernt lag. Mya atmete tief durch. Sie würde dorthin fahren. Aber nicht heute. Sie redete sich ein, dass sie etwas Schlaf finden musste und warf ihr Handy auf das Nachtkästchen.
Nach einer unruhigen Nacht,
in der sich Mya in ihrem Bett herumgewälzt hatte, erwachte sie am nächsten Morgen bereits um kurz nach sieben. Erneut schaltete sie den Fernseher an, zappte durch die Programme und versuchte, sich einen Plan für den Tag zurechtzulegen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie war zu aufgeregt, um klar denken zu können.
Um neun stand sie endlich auf, ging ins Bad, zog sich an und besorgte sich in der Rezeption des Motels einen Becher Kaffee. Anschließend setzte sie sich ins Auto und fuhr los. Sie brauchte den Routenplaner nicht mehr, um zu wissen, wo Rap zu finden war. Nun, da sie selbst durch die Straßen cruiste, kam die Erinnerung zurück. In der Nacional Street hatte einst Raps Onkel gelebt. Sie sah das kleine, unscheinbare Haus mit den weiß umrahmten Fenstern vor ihrem inneren Auge. Es befand sich unweit des Central Parks.
Mya ließ sich Zeit, fuhr Umwege und betrachtete die Stadt, die sie vor zehn Jahren verlassen hatte. An diesem Tag herrschte typisches Wetter für Salinas. Der heraufziehende Küstennebel fing sich in den Gabilan-Bergen und hüllte sie in ein softes Licht, während die Sonne bereits auf die Straßen hinunterbrannte. Der Asphalt flirrte, obwohl es noch nicht Mittag war.
Mit einem gehetzten Herzschlag, den sie nicht einmal spürte, wenn sie zu schnell gejoggt war, bog Mya von der Central Avenue in die Nacional Street ein und wurde langsamer. Sie sah das Haus. Es war unverkennbar das von Raps Onkel. Lebte der Freund ihrer Jugend jetzt dort?
Ein schwarzer Ford Pick-Up stand in der Einfahrt. Mya hielt am Straßenrand und starrte das Haus einige Minuten lang an. Dann sah sie ihn. Rap. Er trat aus der Haustür und Myas ganzer Körper begann zu zittern. Sie beobachtete, wie er die Fahrertür des Pick-Ups öffnete und reagierte sofort. Rasch schaltete sie den Motor ihres Wagens aus und stieg aus. Sein Blick streifte sie, bevor er sich auf den Fahrersitz schwang. Mya wollte etwas rufen, aber dann bemerkte sie, dass er wieder ausstieg. Prüfend sah er zu ihr hinüber. Mya erwiderte seinen Blick. Tapfer ging sie auf ihn zu, auch wenn sie glaubte, die Knie würden unter ihr nachgeben.
»Was zum Teufel?«, hörte sie ihn ungläubig rufen, während er sich erstaunt durch die blonden Haare fuhr, die er als lässigen Undercut trug. »Mya?«
Sie nickte und wollte am liebsten losrennen, um ihm um den Hals zu fallen, doch in diesem Moment lugte ein kleiner Junge durch die Haustür in Raps Rücken. Mya erstarrte.
Rap runzelte die Stirn und sie erkannte, dass er nicht so erfreut darüber war, sie zu sehen, wie sie es sich gewünscht hatte. Ihr Blick flog zwischen dem alten Freund und dem kleinen Jungen hin und her.
»Das ist eine ziemliche Überraschung«, sagte Rap schließlich und kam ihr entgegen. »Was tust du hier?«
»Ich war in der Gegend«, antwortete sie vage.
Dem kleinen Jungen folgte eine attraktive Frau, die sie kritisch beäugte. Das markant geschnittene Gesicht und die lange, dunkle Lockenmähne zeugten von ihren lateinamerikanischen Wurzeln.
Mya lächelte entschuldigend. »Ich wollte nicht stören«, murmelte sie und trat den Rückzug an.
Was hatte sie sich nur gedacht? Es war Sonntag, der Tag der Familie. Warum hatte sie geglaubt, dass Rap keine Familie hatte? Nur weil sie sich selbst beständig dagegen wehrte?
»Warte!« Rap war nun bei ihr und warf der Frau in seinem Rücken einen Blick über die Schulter zu. Diese hob selbstbewusst das Kinn und Mya starrte peinlich berührt zu Boden. Sie fühlte sich wie ein Eindringling.
»Es ist verdammt lange her.« Rap vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Willst du reden?«
Sie nickte zaghaft und er fixierte sie noch immer voller Erstaunen. »Komm mit!«
Obwohl das unangenehme Gefühl zunahm, folgte sie dem Freund ins Innere des Hauses.
»Ich bin Lisa, Rorys Ehefrau«, stellte sich die attraktive Latina vor, als Mya eintrat. Sie trug nun ein Mädchen auf dem Arm, kaum jünger als der Bub, den Mya bereits gesehen hatte.
Bevor Mya dazu kam, etwas zu erwidern, fügte Lisa hinzu: »Ich weiß, wer du bist. Wir waren auf derselben High School. Vermutlich erinnerst du dich nicht.« Ihr Blick ließ erahnen, dass sie sich sehr wohl erinnerte und dass es nichts Gutes war.
»Das hier sind Ruben und Katia.« Die Latina schob ihre Kinder vor sich, als seien sie kleine Trophäen.
Mya bemühte sich um Begeisterung. »Ihr seid so hübsch«, flüsterte sie, immer noch aufgewühlt von der Tatsache, dass Rap inzwischen Vater war.
»Das haben sie von ihrer Mutter geerbt!« Rap schob sich zwischen Mya und Lisa und gab seiner Frau einen Kuss. »Lässt du uns alleine?«, hörte Mya ihn auf Spanisch flüstern und Lisa rollte mit den Augen. Es war offensichtlich, dass sie nicht erfreut über den überraschenden Besuch war.
Dennoch nahm sie die Kinder bei der Hand und führte sie aus dem Haus. Bevor sie endgültig ging, warf sie Mya einen weiteren warnenden Blick zu und rief: »Ich gehe Einkaufen. Denk an unser Picknick heute Nachmittag, cariño
!«
Rap nickte und starrte Mya an, während die Tür hinter seiner Frau ins Schloss fiel. Sie verharrten, bis das Motorengeräusch des Ford Pick-Up verklungen war. Dann zog er Mya heftig in seine Arme.
»Willkommen in Salinas«, hörte sie ihn heiser flüstern.
Mya spürte Tränen hinter ihren geschlossenen Augenlidern, obwohl sie seit Jahren nicht mehr geweint hatte. Ihre Vergangenheit umgab sie plötzlich wie ein starkes Summen und sie war wieder das unsichere Mädchen, das bei ihren Freunden Trost und Halt suchte. Alles kam wie ein Bumerang zu ihr zurück. Jedes Gefühl, jede Sehnsucht und jede ihrer unzähligen Ängste. Viel zu schnell ließ Rap sie los und bot ihr in der Küche einen Sitzplatz an.
»Kaffee?«, fragte er.
»Gerne.« Mya beobachtete, wie er den letzten Rest aus der Maschine in eine der Tassen schüttete, die auf der Ablage darüber standen. Er reichte sie ihr. Sein Blick fand sie erneut und sie sah das Misstrauen darin. Er fuhr sich über seinen gestutzten Vollbart.
»Darf ich fragen, was du hier tust? Du warst zu lange fort, als dass du einfach hier auftauchst, weil du gerade in der Gegend bist.«
Die vergangenen Jahre hatten den Freund härter werden lassen. Seine blauen Augen waren argwöhnisch zusammengekniffen und sie bemerkte Narben an seiner Stirn und den Wangenknochen, die sie nicht kannte. Definierte Muskeln zeichneten sich unter dem schwarzen T-Shirt ab, das er trug, und auf seinen Armen, die er vor der Brust verschränkt hielt, prangten inzwischen zahlreiche Tattoos.
»Ich muss eine Aussage machen. Man hat die Leiche meines Pflegevaters gefunden.«
»Ich weiß.« Seine Kiefermuskulatur zuckte auffällig. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie dich finden würden.« Er zögerte. »Wo lebst du jetzt?«
»In London.«
»Das London in England?« Er lachte hart auf. »Das ist nicht gerade um die Ecke. Weshalb hast du dein sicheres Versteck verlassen?«
»Naja, ich dachte ...« Sie stockte. »Ich meine, ich wollte nicht ...« Mya gab auf und Raps Grinsen wurde tückisch.
»Du hast dich doch nicht etwa um uns gesorgt, Mya? Denn das kann ich mir kaum vorstellen, nachdem du eines Tages einfach verschwunden bist.«
»Man hat mich damals einer anderen Pflegefamilie zugeteilt. Ich musste Salinas verlassen!«
»Und du hast es nicht für nötig gehalten, uns das zu erzählen? Nach allem, was wir ...« Er brach ab. »Verdammt!« Unbeherrscht schlug er mit der Faust gegen das Eckregal zu seiner Rechten. Das Klirren von Geschirr war zu hören und Mya zuckte zusammen.
»Ich konnte es euch nicht sagen!«, platzte es aus ihr heraus. »Ihr wart meine Familie, aber was hätte aus uns werden sollen?«
»Etwas anderes, als anschließend aus uns geworden ist«, hielt er ihr wütend entgegen. »Wir Drei waren stark, Mya, wir hätten zusammen fortgehen können. Wir hätten einen Weg gefunden!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte euch nicht noch mehr zur Last fallen.«
»Denkst du das wirklich?« Er sah sie lauernd an. »Oder wolltest du nur deinen Arsch retten? Immerhin warst du beinahe volljährig. Du hättest abhauen können. Zurückkommen.«
Mya schwieg betroffen. Im Nachhinein hatte sie sich oft gefragt, warum sie still und heimlich verschwunden war. Ihr Leben war zu dieser Zeit so verwirrend gewesen, schmerzhaft bis in jede Faser ihres Körpers, und gleichzeitig so hoffnungsvoll und angefüllt mit Dingen, die sie niemals zuvor gefühlt oder getan hatte. Ihr Zentrum bestand einzig aus Rap und Exx, zwei Jungs an der Grenze zu einem gefährlichen Dasein, vor dem sie sich bisweilen gefürchtet hatte.
»Wie hätten wir zu dritt leben sollen?«, suchte sie nach einer Erklärung. »Eine Frau und zwei Männer ...«
»Als hätte uns das in dieser abgefuckten Gesellschaft je gestört.« Rap verzog den Mund. »Du bist abgehauen, Mya, und egal, welchen Grund das hatte, du hättest nicht zurückkommen sollen. Eine Entscheidung zu treffen heißt in unserer Welt, sie durchzuziehen. Wie auch immer die Konsequenzen aussehen. Es hat dich jahrelang nicht gekümmert, wie es uns geht, und diese Gleichgültigkeit hättest du dir bewahren sollen.«
Mya schwieg. Sie wollte all das nicht hören. Stattdessen sah sie sich um und trank ihren Kaffee. Das Haus war klein, ganz so wie sie es in Erinnerung hatte, aber es war hübsch eingerichtet. Auf dem Tisch standen Blumen und alles sah sauber und ordentlich aus. Bis auf die Kinderspielsachen, die überall herumlagen. Mya deutete darauf. »Geht es dir jetzt nicht besser? Du bist Vater, das sollte dich stolz machen.«
Rap versteifte sich. »Ich saß lange im Knast und als ich rauskam, traf ich Lisa. Sie blickt auf drei Generationen aktiver Gangmitglieder zurück und wollte raus aus der ganzen Scheiße. So wie ich. Mein Onkel hat mir das Haus vererbt und seitdem versuchen wir, das Beste aus unserem Leben in Salinas zu machen.«
»Warum bist du hiergeblieben?«
»Vielleicht aus demselben Grund, aus dem du gegangen bist.«
Erneut starrten sie einander an und Mya hatte das Gefühl, als würde das Haus um sie herum zerbröckeln. Sie sah die alte Hütte im Wald vor sich, spürte Raps Hände auf ihrem Körper und hörte Exx’ vertraute Stimme in ihrem Ohr.
»Wo ist er?« Die Frage hing in der Luft und Mya wurde bewusst, dass sie bis jetzt nicht daran gedacht hatte, dass Exx auch tot sein könnte. Ihr stockte der Atem. »Hat er ebenfalls eine Familie?«, hakte sie nach, um den ungeheuren Gedanken zu verdrängen.
Rap ließ sie eine Weile schmoren, bevor er erwiderte: »Exx ist kein Familienmensch. Hast du das vergessen?«
Mya schüttelte den Kopf und hoffte, dass er weitersprechen und ihr endlich erzählen würde, was mit ihrem gemeinsamen Kumpel geschehen war. Doch Rap starrte aus dem Fenster.
»Lebt er noch?«, stellte sie schließlich die bange Frage.
Raps Aufmerksamkeit kehrte zu ihr zurück. »Er sitzt im Monterey County Gefängnis ein. Das ist eine lange Geschichte.«
»Erzähl sie mir.«
»Auf keinen Fall.« Er räumte demonstrativ ihre halbvolle Tasse vom Tisch. »Mach deine Aussage bei der Polizei und dann schieb wieder ab. Je weniger du weißt, umso besser für uns alle.«
»Gibt es etwas, das ich der Polizei sagen soll?« Sie sah ihn flehentlich an.
»Die Wahrheit?« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Dass meine besten Freunde diesen Drecksack von einem Pflegevater erschossen und ihn dann neben dem Highway entsorgt haben?«
Zum ersten Mal wirkte Rap amüsiert. »So ähnlich. Du solltest allerdings nicht unerwähnt lassen, dass du ihn wegen einer vorgetäuschten Autopanne auf einen abgelegenen Parkplatz gelockt hast.«
»Das meinte ich nicht!« Mya rieb sich die Stirn. Raps Verhalten war anstrengend. »Gibt es irgendetwas, das ich wissen müsste? Wurdet ihr bereits verhört?«
Er atmete genervt aus. »Du willst es nicht anders, oder?« Seine Stimme wurde lauter. »Du bist ganz geil darauf, wieder in dieses Scheißloch von Salinas zurückzukehren, habe ich recht? Soll ich es dir gleich hier auf dem Küchenboden besorgen, damit wir’s hinter uns bringen und du wieder fühlst, wie es damals war?«
»Blödes Arschloch!« Mya stand auf. »Ich will euch helfen, verdammt!«
Grob packte er sie am Arm und zerrte sie zu sich heran. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem ihren entfernt und Mya spürte die Wut, die er auf sie hatte. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, um negative Gefühle zu entwickeln.
»Ich weiß nicht, weshalb ich gegangen bin, aber ich bin zurückgekommen und ich werde nicht gehen, bevor ich nicht ein paar Dinge wieder gutmachen kann«, flüsterte sie.
Rap schüttelte den Kopf. Langsam erst, dann heftiger. »Ich will dich nicht mehr in meinem Leben«, sagte er gepresst.
»Dann sag mir, was ich tun soll und ich verschwinde.«
Er lockerte seinen Griff. »Du machst deine Aussage und gehst?«
Mya nickte und Rap wurde ruhiger. »Was ich dir jetzt erzähle, wirst du nicht weiter hinterfragen, hast du verstanden?«
Mya machte einen Schritt zurück und sah ihn auffordernd an. Er schien kurz zu überlegen, bevor er mit gesenkter Stimme zu sprechen begann: »Vor einigen Jahren startete das FBI eine Initiative, um die Nuestra Familia Organisation zu zerschlagen.«
Mya wusste, wovon er sprach. Salinas war seit jeher dominiert von mexikanischen Einwanderern, von denen die meisten einer mafiaähnlichen Gemeinschaft angehörten, die sich Nuestra Familia nannte. Es hieß, die Köpfe dieser Organisation
operierten aus dem Pelican Bay State Gefängnis in Oregon, von wo sie ihre Strukturen und Unterhändler in Salinas steuerten. Es ging dabei vornehmlich um den Handel mit Waffen und Drogen. Als Mya in Salinas gelebt hatte, hatte sie einiges davon mitbekommen. Man kam gar nicht umhin, die Jugendlichen zu übersehen, die der Gang angehörten.
»Das Ganze entwickelte sich langsam, gewann dann aber immer mehr an Fahrt. Einige Leute begannen zu plappern, wie das eben so ist. Viele der Mächtigen wurden ans Messer geliefert und das FBI jubelte. Doch die Gesetze der Straße folgen ihren eigenen Regeln. Wenn du den Kopf der Schlange abschlägst, dann kommen automatisch andere, die sich in das Machtvakuum reindrängen. Und wir Iren waren ganz groß darin.«
»Du warst in einer Gang?«
»In einem Motorrad-Club«, korrigierte Rap.
»Verstehe.«
»Das war die Idee von Exx. Es erschien ihm lukrativer als unsere täglich wechselnden Jobs. Außerdem gingen uns die Braunen mit ihrem ständigen Geballer und ihren Revieransprüchen auf die Nerven. Andauernd musste man aufpassen, nicht in die falsche Straße zu fahren oder nachts in einen ihrer Deals hineinzuplatzen. Als sie sich dann auch noch ausgerechnet unsere Hütte als Lagerplatz für ihre illegalen Waffen ausgesucht haben, wurde es Exx zu bunt. Er traf sich immer häufiger mit Mitgliedern der Green Army aus dem Contra Costa County. Irgendein Kumpel von ihm trug deren Kutte und Exx wurde ebenfalls Mitglied. Er versorgte die Jungs mit Informationen über die Situation in Salinas und begann mit deren Unterstützung, hier ein Geschäft aufzuziehen. Nach und nach übernahm die Green Army in dieser Region Anteile der schwächer werdenden Nuestra Familia. Natürlich wurde das nicht gerne gesehen, doch mehr sage ich dazu nicht. Exx sitzt momentan nur wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis,
aber logischerweise will man ihm noch zusätzliche Taten anhängen. Sollte herauskommen, dass er etwas mit dem Mord an deinem Pflegevater zu tun hat, dann stehen seine Karten schlecht, bald wieder auf freien Fuß zu kommen.«
»Was das Geschäft der Green Army schwächen könnte«, mutmaßte Mya.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Trägst du die Kutte noch?«
»Du sollst diese Informationen nicht weiter hinterfragen. Je weniger du weißt, umso besser.«
Mya presste die Lippen aufeinander und Rap murmelte: »Glaub mir, Mya, es ist sicherer so. Du bist zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt zurückgekommen.«
Sie musterte ihn und versuchte, in dem Mann, der ihr gegenüberstand, jenen Jungen wiederzuerkennen, den sie geliebt hatte. Und es vielleicht immer noch tat.
»Ich mag tausende Kilometer entfernt gelebt haben, aber habe euch nie vergessen«, entfuhr es ihr und Rap spannte kaum merklich seine Muskeln an.
»Du hättest es tun sollen.« Er gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass es Zeit war zu gehen.
Mya ging unschlüssig in den Flur und wünschte sich, er würde seine ablehnende Haltung ihr gegenüber ablegen. Aber hatte sie nicht genau das erwartet?
Rap begleitete sie zur Haustür und öffnete sie. »Pass auf dich auf, Mya«, verabschiedete er sich, ohne sie anzusehen.
»Du auch.« Sie drehte sich um und ging, obwohl es sie mehr Überwindung kostete als zuvor, als sie das Haus betreten hatte. Am liebsten hätte sie sich umgedreht, um zu sehen, ob er ihr hinterherblickte und ob sich auf seinem Gesicht irgendwelche Gefühle abzeichneten. Aber sie tat es nicht.