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en Nachmittag verbrachte Mya in Rollick’s Internet Café nur einige Straßen von Rorys Haus entfernt. Sie trank dort einen Kaffee nach dem anderen und recherchierte im Netz. Raps Ansprache hatte ihr zugesetzt und obwohl er ihr geraten hatte, die Informationen nicht weiter zu hinterfragen, wollte sie wissen, was es mit der Nuestra Familia und der Green Army auf sich hatte.
Aufmerksam durchstöberte sie Zeitungsartikel und fand Anhaltspunkte zu den Verbrechen, die kürzlich in Salinas stattgefunden hatten, und die man den Anhängern der Gangs zuschrieb: Fünf tote Green-Army-Mitglieder im letzten Monat, die aus einem vorbeifahrenden Wagen erschossen worden waren, sowie drei zufällige Zivilopfer. Im Monat zuvor gab es neun Tote, die allesamt die roten Farben der Nuestra Familia trugen. Alles spielte sich im Gebiet von Chinatown ab und die Medien spekulierten, dass es sich um einen Bandenkrieg handelte, dessen Beweggründe vermutlich die Vorherrschaft über das Waffen- sowie das Heroin- und Meth-Geschäft waren. Es hieß, dass vermehrt Mitglieder der Green Army in die Salinas Region drängten, um die bis dahin dort ansässige Nuestra Familia abzulösen, deren Macht seit der FBI-Operation
vor einigen Jahren schrumpfte. Ganz so wie Rap es angedeutet hatte.
Mya vertiefte ihre Suche und fand heraus, dass der Green Army Motorcycle Club etwa 2.000 Mitglieder umfasste. Gegründet wurde er in den 1960er Jahren von ehemaligen IRA-Kämpfern und unterteilte sich mittlerweile in zwanzig Chapter in zwölf Ländern. Der Patch auf ihrer Kutte zeigte einen grinsenden Totenkopf, dem ein Kleeblatt aus dem Mundwinkel hing. Die Farben des Clubs waren schwarz und grün und das amerikanische Justizdepartement führte den Club auf seiner Liste für organisierte Verbrechen und brachte sie mit der RIRA, der Real IRA, einer irischen Terrororganisation, in Verbindung. In den letzten Jahren war besonders das Chapter aus dem Contra Costa County wegen illegalen Waffen- und Drogenhandels, Schutzgeld-Erpressung und Prostitution in die Schlagzeilen geraten.
Mya lehnte sich zurück und starrte aus dem Fenster. Sie war nicht sonderlich verwundert über die Entwicklung von Rap und Exx, wusste sie doch, dass ihre beiden Freunde stets krumme Sachen gedreht hatten, um an Geld zu kommen. Aus den Erzählungen war ihr bekannt, dass sie bereits als Zehnjährige nachts auf den Feldern der Mexikaner Erdbeeren gepflückt und diese dann in der Nachbarschaft verkauft hatten. Ein gefährliches Unterfangen, das ihnen auch den Tod hätte einbringen können. Später klauten sie Autos, die sie an Kriminelle vertickten, die damit Überfälle begingen, und handelten im kleinen Rahmen mit LSD. Das brachte ihnen einige Jahre im Preston Jugendgefängnis ein. Es war der beschissenste Ort, um einzusitzen, und hatte die beiden nur noch mehr auf die schiefe Bahn gebracht. Anschließend waren sie von Waffen besessen gewesen und ja, sie hatten diese auch benutzt. Mya schloss die Augen.
Sie sah das widerwärtige Gesicht ihres Pflegevaters vor sich, spürte seine groben Hände auf ihrem Körper und roch seinen üblen Atem. Entsetzt schlug sie die Augen wieder auf und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte sie ausgespuckt, um zu verdeutlichen, dass sie den Tod dieses Mannes nicht bereute, auch wenn sie seitdem nicht mehr derselbe Mensch war. Sie fragte sich, wen Rap und Exx noch getötet hatten und ob diese Leute ebenso schlecht gewesen waren.
Schon kurz nach ihrer Ankunft in Salinas vor zehn Jahren hatte Mya gelernt, dass die Stadt aus verschiedenen Schichten bestand und jede von ihnen ihre eigene Sprache und ihre eigenen Regeln hatte. In Salinas schien es an der Tagesordnung zu sein, dass man Gesetze brach. Es gab eine brutale Subkultur, die für all jene Sinn machte, die darin lebten. Wer nichts hatte, der nahm sich eben, was er kriegen konnte und ließ es sich auch nicht wieder wegnehmen. Aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen hatte Mya verstanden, warum sich die Dinge so entwickelten, wie sie es taten. Sie rebellierte selbst gegen das System, das sie beständig in neue Pflegefamilien gab, ohne sich die Mühe zu machen, hinter deren Fassade zu blicken. Aus diesem Grund war Mya nur zu gerne bereit gewesen, das Gesetz in ihre eigenen Hände zu nehmen als es soweit war.
Aber während der letzten Jahre, in denen sie fernab von Salinas in einem völlig anderen Umfeld gelebt und Menschen wie Benjamin kennengelernt hatte, fragte sie sich immer öfter, wie es dazu hatte kommen können. Und sie begann, ihr eigenes Gewissen zu fürchten, das ihr beständig vorwarf, dass sie womöglich mit einem Mord davonkam.
Ungeduldig winkte Mya die Bedienung heran, bezahlte für die drei Stunden am Computer und die fünf Cappuccino, die sie getrunken hatte. Es war kurz nach drei Uhr am Nachmittag und
Mya stieg wieder in ihr Auto. Sie musste das Kleeblatt komplett machen!
Mit diesem Entschluss
fuhr Mya zum Monterey County Gefängnis. Sie parkte vor den lehmfarbenen Gebäuden mit den langgezogenen Fenstern und blickte auf den großzügig, in Rollen angebrachten S-Draht über dem massiven Absperrungszaun. Niemals zuvor war sie in einem Gefängnis gewesen.
Mit selbstbewusstem Gesichtsausdruck ging Mya zur Anmeldung und gab an, dass sie gerne Travis McAlister besuchen würde. Die Wärterin am Empfang tippte den Namen in ihren Computer, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie nickte. Mya füllte ein Formular aus und folgte einem anderen Wärter den Gang hinunter. Dabei stieg ihr die unangenehme Mischung aus Desinfektionsmitteln, rostigem Stahl und alten Socken in die Nase. Sie ließ die vorgeschriebene Personenkontrolle in Form von Abtasten sowie Metalldetektor über sich ergehen und wurde schließlich in einen Besucherraum geführt, dessen Luft so stickig war, dass Mya husten musste. Der Wärter bedeutete ihr, zu warten und sie setzte sich an einen der Tische. Außer ihr war nur eine mexikanische Familie anwesend. Die Kinder spielten Fangen und die Frau redete kontinuierlich auf den bulligen Mann in Gefängniskleidung ein, der ihr gegenübersaß.
Mya beobachtete das Paar eine Weile lang, bevor sie auf den Tisch starrte, dessen Oberfläche fettig glänzte. Es kam ihr vor, als könnte sie all die tragischen Geschichten, die sich in diesem Raum abgespielt hatten, förmlich spüren. Sie hörte das Schlagen von schweren Eisentüren und das Klackern von Riegeln. Mya glaubte, von der Realität in eine der so beliebten CSI-Serien
katapultiert worden zu sein, die nun an ihr vorüberzog. Wie eine unbeteiligte Zuschauerin beobachtete sie die Dinge, die hinter den Fenstern des Besucherraums vor sich gingen. Die Schlüssel, die jeder Wärter an einem Bund bei sich trug, sahen unnatürlich groß aus. Sie wirkten für Mya beinahe belustigend, so als gehörten sie nicht in diese Welt, sondern in einen Comic, wie etwa zu Caspar, dem Geist.
Das Gefühl bereits Stunden zu warten machte sich in Mya breit, als die Tür plötzlich aufging und jemand über den Zementboden schlurfte. Mya drehte den Kopf und erblickte Exx. Ein Aufseher führte ihn hinein und seine Augen fanden die ihren. Er zögerte augenblicklich, aber der Wärter schob ihn voran. Mya spürte, wie Exx sie fixierte, während er immer näher kam. Die Intensität seiner Ausstrahlung nahm sie einmal mehr gefangen. Geschmeidig setzte er sich zu ihr an den Tisch und wartete, dass der Wärter ihm die Handschellen abnahm. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Sein Bart war länger, als sie ihn in Erinnerung hatte, und er trug sein Haar zu einem unordentlichen Knoten gebunden.
»Hey«, begrüßte sie ihn schüchtern, nachdem der Aufseher gegangen war.
»Mya.« Die Art, wie er ihren Namen aussprach, verursachte ihr eine Gänsehaut. Er war völlig ruhig und ohne jegliche Gefühlsregung.
Darin waren ihre beiden Freunde gut geworden, dachte Mya bei sich. Sie hatten gelernt, ihr Innerstes selbst komplett abzuschotten.
»Wie geht es dir?« Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden.
»Der gleiche Scheiß, nur ein anderer Tag.«
Mya nickte und wunderte sich, dass er keine Fragen an sie hatte. Ein peinliches Schweigen breitete sich aus.
»Rap hat mir erzählt, dass du hier bist«, versuchte sie, ein Gespräch in Gang zu bringen.
Exx’ Gesicht zeigte keinerlei Regung. Nach einer Weile erwiderte er: »Du warst nicht mutig genug, auf Wiedersehen zu sagen, aber du hast immerhin den Mumm, erneut hallo zu sagen. Das hatte ich nicht erwartet.«
»Ich weiß.« Mya blinzelte nervös. »Ich bin hier, weil ich eine Aussage machen muss. Es geht um das Verschwinden meines Pflegevaters.«
Ohne seine Stimmlage oder Sitzhaltung zu verändern, sagte Exx: »Du weißt, wo du hier bist, Mya. Diese Unterhaltung endet jetzt.«
Ihr Blick streifte die Kameras und die Aufseher im kleinen Überwachungsraum neben der Tür. Sie verstand. »Wir müssen nicht darüber reden. Ich wollte dich einfach nur sehen, das ist alles.«
»Weshalb?«
Mya schluckte. Exx war eine noch härtere Nuss als Rap. »Weil ich wissen wollte, wie es dir geht.«
Er zog eine Augenbraue nach oben. »Hervorragend wie du siehst.«
Die Unterhaltung erstarb erneut. Mya rutschte auf ihrem Stuhl herum, während Exx sie nicht aus den Augen ließ.
»War’s das?«, fragte er nach einer Weile und sah sich nach dem Wärter um.
Myas Hände krampften sich ineinander. Sie wollte eine Chance bekommen. »Orange-weiß-gestreifte Klamotten stehen dir echt überhaupt nicht«, bemerkte sie deshalb hilflos, um zu verhindern, dass Exx einen der Sicherheitsbeamten rief, um wieder abgeführt zu werden.
Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen und die dunklen Augen wurden für einen kurzen Moment weicher.
»Scheiße, Mya, ich hatte dich komplett aus meiner Erinnerung gestrichen. Es ist nicht gut, dass du wieder da bist.«
»Das höre ich heute nicht zum ersten Mal.«
»Hm.« Sein eindringlicher Blick ging ihr durch und durch. »Du solltest aufhören, in der Vergangenheit zu wühlen. Alles ist anders und das ist gut so. Hätten wir damals so weitergemacht, wären wir Drei dem Untergang geweiht gewesen.«
»Rap hat genau das Gegenteil behauptet.«
»Weil er schon immer daran geglaubt hat, dass man Dinge ändern kann. Aber alles, was dir im Leben passiert, bereitet dich nur auf das vor, was du zu tun hast. Ist es nicht so, Mya?«
Seine Worte schnürten ihr die Kehle zu. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie.
»Doch, du weißt es. Du bist gegangen, um nicht gemeinsam mit uns abzustürzen, und das war richtig. Das alles hier ist gegen deine Natur, sieh das endlich ein.«
»Ich kann aber nicht aufhören an euch zu denken.«
»Dann bist du dümmer, als ich angenommen habe.« Die Unnahbarkeit kehrte in seine Mimik zurück und ließ Mya frösteln.
»Ich bin gekommen, um meine Aussage zu machen und ich werde euch nicht hängenlassen. Wir haben das gemeinsam angefangen und wir werden es gemeinsam beenden«, erklärte sie bestimmt, doch Exx reagierte nicht.
»Hast du noch dein Tattoo? Das mit dem Kleeblatt?«, hakte sie nach, um ihm eine Reaktion zu entlocken.
Er sah sie unverwandt an. »Ja, das habe ich noch. Lustigerweise ist es vielfältig einsetzbar, weißt du. Mein Club benutzt es und hier im Knast steht es für die Anhänger der Aryan Brotherhood. Ein wahrer Glücksgriff, dieses Kleeblatt.«
Die arische Bruderschaft war Mya ein Begriff. Sie bezeichnete eine Gang, die hauptsächlich in Gefängnissen existierte und mit den Ansichten des Nationalsozialismus
sympathisierte. Es ärgerte sie, dass Exx ihr gemeinsames Symbol für derartige Vereinigungen missbrauchte.
»Das bist du nicht«, sagte sie bestimmt. »Ich kenne dich.«
Abrupt veränderte sich seine Stimmung. Die angespannte Ruhe schlug in Aggression um. »Hör auf damit, Mya«, presste Exx zwischen den Zähnen hervor. »Du kanntest mich gerade einmal drei Jahre. Du hast also keine Ahnung, wovon du redest. Das Schlechte wohnt in uns allen. Es kommt immer nur darauf an, ob man dagegen ankämpfen will oder es sich zunutze macht, um sich seinen Teil der Welt zu erobern.«
Mya spürte Tränen aufsteigen, bereits zum zweiten Mal an diesem Tag, und bemühte sich vergeblich, sie fortzublinzeln.
»Du solltest jetzt gehen.« Exx hob die Hand, um den Wärter heranzuwinken. Wortlos ließ er sich die Handschellen anlegen, erhob sich und wurde abgeführt.
Mya sah ihm hinterher und wischte die Tränen fort. Erst, als ein Aufseher sie auffordernd ansah, stand sie ebenfalls auf, um ihm zu folgen. Wie in Trance ließ sie sich durch die Gänge führen, nahm Jacke, Handtasche und Handy an sich, die sie aus Sicherheitsgründen hatte zurücklassen müssen, und kehrte dem Gefängnis den Rücken.
Draußen angekommen, lehnte sie sich gegen ihr Auto, um durchzuatmen. Sie fühlte sich ausgelaugt. Ihr Wiedersehen mit Rap und Exx hatte ihr vor allem eines vor Augen geführt: Ihre Gefühle für die Beiden hatten sich nicht verändert. Obwohl die Freunde sich bemüht hatten, sie zu verschrecken und trotz der Jahre, die ins Land gegangen waren, wusste Mya, dass ihr Band noch bestand. Das Kleeblatt gab es noch, denn es war einst aus Begierde und Blut geschmiedet worden.
Bei Sonnenuntergang saß
Mya auf der Motorhaube ihres Wagens und starrte in die Ferne. Sie befand sich auf dem einsamen Parkplatz kurz vor dem Toro County Park südlich von Salinas. Hierher hatte sie ihren Pflegevater an einem regnerischen Frühsommerabend gelockt. Mya fröstelte. Seit jenem Tag war sie nicht mehr hier gewesen. Kurz nach ihrer Ankunft war sie einige Zeit über das Gelände gestreift und es erschien ihr plötzlich, als wäre alles erst gestern geschehen.
Ihr Pflegevater Walt Chandler war ein fauler, jähzorniger und ungepflegter Mann gewesen, der tagein tagaus in einem fleckigen Unterhemd und ausgebeulten Militärhosen vor dem Fernseher saß. Er brüllte seine Frau Sarah an, die ihm nichts recht machen konnte, und zog sich den Gürtel aus der Hose, wenn er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte. Kam wichtiger Besuch ins Haus, wie etwa die Fürsorge, dann wurde aus Walt, dem Fiesling, Walt, der Schleimer. Mehr als einmal musste Mya miterleben, wie ihr Pflegevater ohne mit der Wimper zu zucken die Wahrheit verdrehte und sein Gegenüber mit seinem falschen Charme bezirzte. Es war widerlich.
Noch viel widerlicher war allerdings, was Walt tat, wenn seine Frau Sarah sonntags zur Kirche ging und die drei leiblichen Kinder mit sich nahm. Dann nämlich fühlte er sich bemüht, Mya das Wort Gottes beizubringen, das sie sich weigerte zu erlernen.
Das erste Mal passierte es, als Mya gerade einmal drei Monate bei ihrer neuen Familie war. Walt setzte sich zu ihr, legte seine Hand auf ihren Oberschenkel und flüsterte: »Der Herr schaut auf die Menschenkinder, dass er sehe, ob jemand klug sei und nach Gott frage.«
Mya verstand nicht, was er meinte und rückte von ihm ab. Sie hatte instinktiv gelernt, ihrem Pflegevater aus dem Weg zu gehen.
»Du gehst nicht zur Kirche, mein Kind, das ist nicht gut«, fuhr er fort und seine Augen wanderten über ihren Körper.
»Ich habe keine Lust dazu«, entgegnete sie trotzig und wollte aufstehen, doch er war schneller. Sein brutaler Griff, mit dem er sie am Arm festhielt, tat ihr weh.
»Wir sind ein gläubiges Haus«, knurrte Walt. »Wer bei uns lebt, der sollte das Wort Gottes kennen.«
Mya versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu winden, aber Walt war stärker.
»So spricht der Herr: Wenn du dich zu mir hältst, so will ich mich zu dir halten.« Seine Hand umschloss ihren Hals. »Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.«
»Lass mich los!« Mya hustete und würgte trocken.
»Ich werde dich Demut lehren, liebste Tochter, sei unbesorgt.« Sein Atem drang an ihr Ohr und Mya spürte, dass er seine andere Hand zwischen ihre Beine schob.
Sie versuchte, ihn zu beißen, trat und schlug um sich. Das Nächste, was sie wahrnahm, war ein harter Schlag gegen ihren Kopf. Als sie wieder zu sich kam, lag sie unter Walt, nackt und wehrlos, während er grunzte wie ein brunftiger Stier. Sie glaubte, innerlich zu zerreißen. Es war nicht das erste Mal, dass sie Sex hatte, doch das erste Mal, dass sie dazu gezwungen wurde und es fühlte sich entsetzlich an. Der Schmerz nistete sich tückisch in ihrem Unterleib ein und quälte sie mit jedem seiner Stöße. Ekel, Scham und Wut überkamen Mya. Sie wollte schreien, doch bevor ein Laut aus ihrer Kehle drang, drückte Walt erneut zu und Mya schwieg bis er fertig war.
Anschließend zog sie sich zitternd an, stürmte aus dem Haus und verkroch sich einige Straßen weiter unter einer Veranda. Dort weinte sie sich die Seele aus dem Leib. Die Polizei fand sie
in den frühen Morgenstunden. Sie wurde aufs Revier gebracht und verhört, doch der wachhabende Officer war Walts Cousin und Mya wurde sofort wieder in die Obhut ihrer Pflegefamilie gegeben. Keiner machte sich Gedanken über ihr geschwollenes Gesicht, die zerrissene Kleidung oder ihr verwirrtes Gestammel. Niemand ordnete eine Untersuchung an und Mya genierte sich zu sehr, um darauf zu bestehen. Einzig Sarah musterte sie besorgt, als Mya über die Schwelle trat, bevor ihre Augen in Walts Anwesenheit wieder jenen leeren Ausdruck annahmen, den Mya kannte. Von diesem Tag an ging Mya jeden Sonntag zur Kirche.
Aber Walt hörte nicht auf, ihr nachzustellen. Nur einen Monat später erwachte Mya nachts, als er sich zu ihr ins Bett legte. Sie wollte schreien, doch Walt reagierte sofort.
»Ich bringe dich um, wenn du einen Ton sagst!«, fuhr er sie an und Mya glaubte ihm seine Drohung aufs Wort.
Sie hatte inzwischen von den Nachbarn gehört, dass Sarah im letzten Jahr auf der Intensivstation gelegen hatte. Angeblich, weil sie über das Skateboard ihres Jüngsten gefallen war. Doch Mya wusste es besser. Kein Sturz konnte einem auf diese Weise das Nasenbein brechen, die Rippen, den linken Arm und die Finger der rechten Hand. Von den ausgeschlagenen Zähnen und den Malen am Hals, von denen die Leute sprachen, einmal ganz abgesehen. Aber Sarah war bei ihrer Version der Geschichte geblieben und die Polizei ermittelte nicht weiter.
Schlaftrunken und mit klopfendem Herzen blieb Mya liegen und ließ ihren Pflegevater gewähren. Das ging noch fünf weitere Nächte so und Myas Nerven lagen blank. Am Ende der Woche ertappte sie Exx in der Schule dabei, wie sie sich hinter dem Gebäude übergab.
»Was ist bei dir daheim los?«, fragte er und Mya glaubte zu sehen, dass er bereits wusste, was sie bewegte. Sie war in den letzten Tagen jedem aus dem Weg gegangen und hatte
die blauen Male an ihren Handgelenken durch langärmelige Pullover zu verdecken versucht. Missbrauch war in Salinas nichts Außergewöhnliches.
Mya erwiderte nichts, wischte sich den Mund ab und fragte Exx nach einer Zigarette.
Er sah sie an, doch es lag kein Mitleid in seinem Blick. Eher so etwas wie Hass.
»Ist das schon öfters vorgekommen?«, erkundigte er sich und gab ihr Feuer.
Mya inhalierte den Rauch bis sie glaubte, daran zu ersticken, und schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht zugeben, dass sie zu schwach war, um sich gegen die Übergriffe zu wehren. In diesem Moment erscholl die Klingel, die den Unterrichtsbeginn signalisierte.
»Mein Kumpel und ich treffen uns heute in einer Hütte im Wald. Magst du mitkommen?« Exx musterte sie und Mya glaubte, er könnte ihr bis auf den Grund ihrer Seele blicken. Es erschreckte sie, doch sie merkte, dass sie nickte.
»Alles klar, dann bis später! Ich hole dich ab.«
Mya fragte sich, woher er wusste, wo sie wohnte, aber kaum war sie von der Schule zuhause, schon fuhr Exx in seinem verrosteten Dodge Ram vor ihrem Haus vor und stieg aus. Rap, der mitgekommen war, blieb im Wagen sitzen. Mya kannte ihn bisher nur vom Sehen.
»Wer ist das?« Walt schoss auf die Veranda und es war amüsant zu beobachten, dass er zu Exx aufblicken musste.
»Ich hole Mya ab«, sagte dieser mit gefährlichem Unterton, was Walt verunsichert blinzeln ließ.
»Zum Abendessen muss sie daheim sein«, insistierte Walt und trat einen Schritt zurück, während sich Exx nicht von der Stelle bewegte. Mya eilte zu ihm und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben wahrgenommen und beschützt.
Der Freund geleitete sie zum Auto. Als sie losfuhren, warf Mya einen triumphierenden Blick auf Walt, der wie vom Donner gerührt vor der Haustür stand, und wusste, dass sie ab sofort nicht mehr alleine war.
So ging das erste Jahr vorüber und Walts Übergriffe wandelten sich. Er schien zu wissen, wer Rap und Exx waren und sah davon ab, Mya weiterhin zum Sex zu zwingen. Es war nun ihre Hand, die ihm Vergnügen bereiten musste, wenn Sarah mit den Kindern außer Haus war. Mya sprach nicht darüber und starrte in den Fernseher, während sie Walt befriedigte. Jeder in dieser Stadt schien zwei Leben zu haben. Eines, das daheim stattfand und über das man schwieg, und eines, das man draußen mit seinen Freunden verbrachte. Sie lebte ausschließlich für das zweite.
Doch dann nahmen Sarah und Walt weitere Pflegekinder auf, zwei Mädchen mexikanischen Ursprungs im Alter von zehn und vierzehn Jahren, deren Eltern wegen Mordes hinter Gittern saßen. Es war Mya ein Rätsel, wie die Behörden einer Familie wie der von Walt ihr Vertrauen schenken konnten, aber nichtsdestotrotz taten sie es.
Schon beim ersten gemeinsamen Abendessen fiel Mya auf, wie Walt die Älteste der Beiden anstarrte und ihr Magen wurde zu einem harten Klumpen. Sie suchte Walt daraufhin freiwillig auf, um ihm die Hose aufzuknöpfen und hoffte, das würde ihn davon abbringen, Hand an Alyssa und Regina zu legen, aber sie täuschte sich. Bereits zwei Wochen später bemerkte sie, dass Alyssa Walt mit demselben Blick des Ekels musterte, der Mya nur allzu vertraut war.
»Was macht er mit dir?«, fragte sie das Mädchen daraufhin unverblümt, kaum dass sie unter sich waren.
Die Älteste zuckte zusammen, nur um dann in Tränen auszubrechen.
»Fasst er dich an?« Alyssa nickte. »Hat er Sex mit dir?« Das Mädchen erstarrte und presste die Lippen aufeinander, aber für Mya war das Antwort genug. Noch am selben Tag passte sie Walt in der Garage ab und hielt ihm ein Küchenmesser an den Hals, das sie kurz vorher entwendet hatte.
»Lass die Mädchen in Ruhe!«, zischte sie und sah, dass Walt grinste.
»Was soll das, du kleines Miststück? Glaubst du, du kannst mir Angst machen?« Mit einer blitzschnellen Bewegung, die Mya nicht hatte kommen sehen, wirbelte er herum, drehte ihr den Arm hinter den Rücken und entwendete ihr das Messer.
Der Schmerz war übermächtig, aber Mya wehrte sich nach Leibeskräften. »Du Scheißkerl! Du krankes Schwein, ich bring dich um!« Ihr Gebrüll schlug in ein plötzliches Aufheulen um, als ihr Gelenk knackte.
»Leg dich nicht mit Walt an«, murmelte der Pflegevater in ihren Nacken und sie spürte, dass er die Knöpfe ihrer Jeans öffnete.
»Nein!« Mya bäumte sich auf. Die Ungerechtigkeit und sein widerliches Verhalten machte sie zur Furie, aber Walt war stärker. Er drückte sie gegen die Werkbank und zerrte ihr die Jeans über die Knie.
»Du Flittchen, ich werde dir zeigen, was ich mit aufsässigen Weibern wie dir anstelle!« Sie spürte das Messer an ihrem Bauch. Er ritzte sie und zwang ihr mit seinen Knien die Beine auseinander. Dann drang er brutal in sie ein.
»Das ist für deinen Ungehorsam! Und das für deine falschen Freunde. Fickst du sie, du Luder? Ich werde dich lehren, was es heißt, die Falschen zu ficken!« Wieder und wieder stieß er zu, während die Klinge des Messers sie an Bauch, Brüsten und Armen ritzte. »Und wenn du jemandem davon erzählst, dann gnade dir Gott, du dreckiges Stück Scheiße! Ich werde dir die Eingeweide herausschneiden, hörst du mich?«
Mya schrie auf vor Schmerzen, bevor sie die Lippen fest aufeinanderpresste. Sie wusste, dass es Walt noch mehr antörnte, wenn sie wimmerte. Während er sein krankes Spiel fortsetzte, sammelte sich der Hass in ihrer Kehle. Walt verdiente den Tod und sie schwor sich, dass er ihn finden würde!
Am Abend desselben Tages fuhr sie zur Hütte ihrer Freunde. Sie hatte geduscht und ihre Wunden notdürftig versorgt, aber als sie aus dem Auto stieg und durch den Wald ging, war es unübersehbar, dass sie Schmerzen hatte. Ihr gesamter Körper tat ihr weh. Sie blutete, nicht nur aus den Schnittwunden. Tapfer hielt Mya die Tränen zurück, doch als sie Exx erblickte, schlug die Erinnerung des Nachmittags über ihr zusammen.
»Was zum Teufel ...?« Er starrte auf ihr T-Shirt, auf dem sich bereits wieder Blutflecke gebildet hatten.
»War das Walt?« Rap hob Mya hoch und trug sie ins Innere der Hütte. Sie konnte nicht sprechen, die unterdrückten Tränen nahmen ihr beinahe die Luft zum Atmen. Sie fühlte sich schmutzig, missbraucht, hilflos und gleichzeitig so zornig wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Schluchzend sah sie dabei zu, wie Exx vorsichtig ihr T-Shirt hochhob. Sein Gesicht verzog sich beim Anblick der Wunden. »Dafür wird der Dreckskerl büßen!«, murmelte er.
Rap stand daneben und lud seine Waffe. »Lass uns gehen«, sagte er zu seinem Kumpel.
»Nein«, entfuhr es Mya und sie hielt Exx am Arm fest. »Ich will es sehen. Wir machen es gemeinsam!«