Five
A m nächsten Morgen fuhr Mya zum Polizeirevier in Salinas, um ihre Aussage zu machen. Es war Montag und sie war erst einen Tag zurück in ihrer alten Heimat, aber es fühlte sich an, als wäre sie bereits seit Wochen hier.
Benjamin hatte erneut versucht, sie zu erreichen, doch Mya war nicht an ihr Handy gegangen. Sie wusste einfach nicht, was sie ihm sagen sollte. Er hatte einen Schlussstrich unter ihre Beziehung gezogen und egal, was sie ihm erzählte, es würde ihn nur einmal mehr verletzen. Sein Leben in London war ein anderes, war es schon immer gewesen. Niemals zuvor war Mya dieser Unterschied so deutlich bewusst geworden wie nach ihrer Rückkehr nach Salinas.
Auf dem Weg zum Polizeirevier sah sie einige Jugendliche auf den Straßen, die allesamt rote T-Shirts und die charakteristischen Kappen mit dem weißen N trugen. Jeder normale Tourist wunderte sich vermutlich, warum in Kalifornien so viele Leute Fans der Nebraska Cornhuskers Football-Mannschaft waren, aber Mya wusste es besser. Das weiße N auf rotem Grund passte perfekt zu den Norteños, der Straßengang, die im Namen der Nuestra Familia unterwegs war. Sie standen jetzt mittlerweile an jeder Ecke und bewachten ihr Revier.
Mit einem mulmigen Gefühl fuhr Mya auf den Parkplatz vor dem Salinas Police Department. Sie hatte keinen Termin vereinbart und fragte sich augenblicklich, ob Walts Cousin noch dort arbeitete. Ihr Blick schweifte über das einstöckige weiße Gebäude mit dem blau abgesetzten Zierstreifen unterhalb des Flachdachs. Sie atmete tief durch, schloss das Auto ab und ging hinein. Im Inneren empfing sie eiskalte Luft. Die Klimaanlage arbeitete auf Hochtouren. Mya fröstelte und sah sich um.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein Beamter hinter dem Tresen gleich neben dem Eingang und sah sie aufmerksam an.
Mya holte das offizielle Schreiben aus ihrer Umhängetasche und reichte es dem Polizisten. »Ich bin wegen einer Aussage hier«, erklärte sie.
Er überflog den Brief und zog die Augenbrauen nach oben. »Ich bin nicht vertraut mit dieser Angelegenheit, aber ich werde nachfragen. Wenn Sie bitte hier warten würden?«
Mya nickte und setzte sich. Sie sah den Polizisten durch das Büro laufen und mit diversen Kollegen sprechen. Alle sahen zu ihr hinüber und Myas Nervosität wuchs.
Dann kehrte der Beamte zu ihr zurück. »Es tut mir leid, aber dieses Anliegen entzieht sich unserer Hoheit. Sie müssen sich im Sheriff’s Office melden. Das steht hier unten im Kleingedruckten. Es befindet sich in der Natividad Road. Wissen Sie, wo das ist?«
»Ja, das weiß ich.« Mya stand auf und nahm den Brief zurück. »Vielen Dank!«
Sie verließ das Gebäude und hatte dabei das Gefühl, als würden ihr das gesamte Department hinterherblicken. Rasch setzte sie ihre Sonnenbrille auf, sperrte das Auto auf und fuhr davon.
Eine Viertelstunde später, auf der anderen Seite der Stadt, direkt neben dem Gefängnis, parkte Mya den Wagen erneut. Sie fragte sich, was Exx gerade tat, bevor sie den Blick von dem inzwischen vertrauten Gebäudekomplex abwandte und in das Sheriff’s Office ging.
Dort wiederholte sich die gesamte Prozedur bis Mya schließlich in ein Büro geführt wurde. Sie wartete eine halbe Stunde, dann trat eine untersetzte Dame in beige-brauner Uniform ein, die einen dermaßen kräftigen Händedruck besaß, dass Mya zusammenzuckte.
»Miss Mya Munroe, habe ich recht? Ich bin Sheriff Coroner Judith T. Mason. Es freut mich, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben.«
Mya musterte die Frau, deren Gesicht scheinbar nur aus Augen zu bestehen schien. Niemals zuvor hatte Mya jemanden getroffen, dessen Augäpfel dermaßen aus den Höhlen traten, wie es bei Sheriff Mason der Fall war.
»Freut mich ebenfalls«, erwiderte Mya und bemühte sich, ihr Gegenüber nicht allzu intensiv anzustarren. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Sheriffs-Stern, der unübersehbar auf Judith Masons linker Brust prangte.
Diese studierte die Unterlagen, die sie mitgebracht hatte. Über ihnen kreiste ein Ventilator und Mya fragte sich, warum es im Sheriff’s Office keine Klimaanlage zu geben schien.
»Sie sind hier wegen der Aussage bezüglich Walt Chandler. Ist das richtig?«
»Das ist richtig.«
Die Glubschaugen widmeten sich weiterhin der Akte und Mya versuchte, ihren Fuß ruhig zu halten, der nervös auf und ab wippen wollte. Es dauerte weitere fünf Minuten, bevor sich Judith Mason aufrecht hinsetzte und Mya aufmerksam ansah. »Sind Sie damit einverstanden, dass ich Ihre Aussage aufzeichne?«
Mya fragte sich, ob sie nicht vielleicht doch einen Anwalt hätte konsultieren sollen und fühlte sich augenblicklich von ihrer eigenen Naivität überrollt.
»Das ist in Ordnung«, erwiderte sie schließlich und redete sich ein, dass sie nichts zu verbergen hatte. Dennoch spürte sie, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach.
»Gut.« Sheriff Mason holte ein Aufzeichnungsgerät aus der Schublade, schaltete es ein und nannte Ort, Datum und das Aktenzeichen. Dann wandte sie sich wieder an Mya.
»Ich werde zunächst Ihre Personalien abfragen. Nur der Vollständigkeit halber. Sagen Sie bitte Ja, wenn die Angaben stimmen und Nein, wenn etwas davon falsch ist.«
»Okay.« Mya räusperte sich.
»Ihr Name ist Mya Eloise Munroe und Sie wurden am 28. Juni 1990 in Castroville geboren. Ihre Eltern sind Frances Munroe und Rene Carnero, beide minderjährig und drogenabhängig bei ihrer Geburt. Sie verbrachten die ersten Jahre bei den Schwestern der ›Liebenden Hirten‹ in San Francisco, bevor sie 1996 zu ihrer ersten Pflegefamilie, den Athertons, nach Sacramento kamen. Richtig soweit?«
»Ja.« Mya zog sich der Magen zusammen. Ihre Kindheit so kurz und prägnant zusammengefasst zu bekommen, war befremdlich.
»Aufgrund der Scheidung der Athertons übernahm Sie 1999 die Familie Fawley, ebenfalls aus Sacramento, wo Sie bis zum Frühjahr 2001 blieben. Wegen einiger Differenzen kamen Sie dann zurück zu den ›Liebenden Hirten‹ nach San Francisco, bevor im Sommer 2005 schließlich die Familie Chandler in Salinas Ihre Vormundschaft übernahm. Nach dem Verschwinden von Walt Chandler im Jahr 2007 siedelten Sie im Februar 2008 zur Familie Young nach Lompoc über, mit der Sie kurz vor Erreichen Ihres achtzehnten Lebensjahres nach Portland im Bundesstatt Maine umzogen. Irgendwelche Fehler bis hierhin?«
»Nein, die Angaben sind korrekt.« Mya schluckte.
Sheriff Mason nickte. »Dann haben wir das geklärt. Kommen wir nun zu Ihrer Zeit im Hause der Chandlers. Sind Sie bereit, Mya?«
»Ja, das bin ich.«
»Gut. Wie Sie dem Schreiben entnehmen konnten, geht es um das Auffinden des Leichnams von Walt Chandler im Juli 2017 am Highway 101 einige Meilen südlich von Paso Robles. Wie bereits erwähnt, verschwand Ihr ehemaliger Pflegevater im November 2007 unter noch ungeklärten Umständen. Seine sterblichen Überreste wurden inzwischen eindeutig identifiziert und die forensischen Untersuchungen ergaben, dass er vermutlich an den Folgen von mehreren Schussverletzungen starb. Eine Kugel durchschlug seinen frontalen Gehirnlappen, zwei weitere trafen vermutlich Herz und Lunge. Sind Sie mit diesen Untersuchungsergebnissen vertraut?«
»Nein!«, entfuhr es Mya und Sheriff Mason blickte auf.
»Entsetzen Sie diese Details? Tut mir leid, ich bin schon fertig.« Sie legte die Papiere wieder zurück auf den Stapel und blätterte in weiteren Unterlagen. »Ihrer Aussage aus dem Jahr 2007 entnehme ich, dass Ihr Pflegevater freitags immer zum Bowling mit seinen Freunden fuhr. Offenbar war das auch am Tag seines Verschwindens der Fall, nur dass er nie im Bowlingcenter eintraf. Sie gaben weiterhin an, dass Sie an diesem Abend nicht zuhause waren, sondern sich im Studio 13 ein Tattoo haben stechen lassen. Diese Aussage wurde von uns überprüft und bestätigt. Nachdem aber nun der Leichnam von Walt Chandler aufgetaucht ist, haben wir den Fall wieder aufgerollt.« Sheriff Mason sah Mya an und schloss die Akte. »Ich bin mir im Klaren darüber, dass etwas mehr als zehn Jahre zwischen dem Verschwinden von Walt Chandler und dem heutigen Tag liegen, aber können Sie mir sagen, ob Sie sich zusätzlich zu Ihren damaligen Angaben an irgendwelche ungewöhnlichen Ereignisse aus dem Jahr 2007 erinnern, Mya? Sie haben damals ausgesagt, Ihr Pflegevater sei kein netter Mensch gewesen und Sie könnten nicht ausschließen, dass er Feinde gehabt hat, auch wenn Sie keine benennen konnten. Ist das noch immer Ihre Meinung?«
»Ja, das ist sie.«
»Nennen Sie mir bitte Gründe dafür!«
»Er war ...« Mya stockte. Sie wusste nicht, welche Details sie erzählen durfte und welche sie womöglich verdächtig machen würden. Die riesigen Augen des Sheriffs durchbohrten sie. »Er war ein gemeiner Mistkerl«, entfuhr es ihr.
»Erklären Sie mir das bitte etwas näher.«
»Er war aufbrausend. Ungeduldig. Leicht reizbar. Er tat alles aus Berechnung.«
Sheriff Mason runzelte die Stirn. »Ist das so? Ich hörte, er war sehr gläubig.«
»Wenn er das war, dann hat Sarah für ihn mitgebetet. Er ging niemals zur Kirche.«
»In den Unterlagen der Jugendbehörde steht, die Familie Chandler erziehe ihre Pflegekinder gemäß dem christlichen Glauben. War das nicht so?«
Beinahe hätte Mya aufgelacht, aber sie beherrschte sich. »Diese Aussage galt nicht für Walt Chandler«, antwortete sie.
»Das heißt, er lebte nicht nach den christlichen Werten?«
»Ganz gewiss nicht!«
»Was meinen Sie damit?«
»Dass Walt innerhalb seiner Familie leicht die Hand ausrutschte.«
»Hat er sie je geschlagen?«
Mya bemühte sich, dem Blick von Judith Mason standzuhalten. »Ja, das hat er.«
»Warum haben Sie uns das nicht bereits kurz nach seinem Verschwinden erzählt?«
»Ich habe mich nicht getraut. Walt hatte einen Cousin bei der Polizei, der alle seine Ausrutscher unter den Tisch fallen ließ. Wie hätte ich annehmen sollen, dass mir jemand glaubt?«
Sheriff Mason machte sich einige Notizen. »Hat er seine Frau Sarah ebenfalls geschlagen?«
Mya überlegte, ob sie Sarah damit in Schwierigkeiten bringen konnte und zögerte.
»Könnten Sie bitte meine Frage beantworten?« Sheriff Mason deutete auf das Aufzeichnungsgerät.
»Ja, das hat er«, erwiderte Mya.
»Was ist mit seinen leiblichen Kindern und den zwei anderen Pflegekindern?«
»Das weiß ich nicht«, wich Mya aus.
»Sie meinen, Sie haben das nicht mitbekommen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»In Anbetracht der häuslichen Situation war ich nicht oft zuhause. Nur, wenn es nötig war.«
»Wo waren Sie, wenn Sie außer Haus waren?«
»Ich habe mich mit meinen Freunden in der Gegend herumgetrieben. Mal da, mal dort.«
»Wer waren Ihre Freunde?«
»Was hat das mit dem Verschwinden von Walt zu tun?«, hakte Mya nach und wurde mit einem kritischen Blick bedacht. Ihr rutschte das Herz in die Hose.
»Wer waren Ihre Freunde?«, wiederholte Sheriff Mason.
Mya nannte einige Namen, die ihr einfielen, ließ die von Rap und Exx jedoch außen vor.
»War Travis McAlister auch einer Ihrer Freunde?«, erkundigte sich Sheriff Mason unbeirrt.
»Ich kannte Travis, ja.«
»Sie kannten ihn? Was heißt das?«
»Er ging mit mir auf dieselbe High School.«
»Hatten Sie eine Beziehung mit ihm?«
»Nein«, log Mya und schaffte es, Judith Mason dabei weiterhin in die Augen zu sehen.
»Laut der neuesten Aussage von Walt Chandlers Ehefrau Sarah kamen Travis McAlister und sein Freund Rory Dawley recht häufig zu ihrem Haus, um Sie abzuholen. Sarah gab auch an, dass Walt Angst vor den Beiden hatte. Er muss einmal gesagt haben, dass es ihn nicht wundern würde, wenn sie ihm eines Tages auflauerten, um ihn fertig zu machen.«
»Weshalb hätten sie das tun sollen?« Mya verspürte Wut gegen Sarah. Kaum war ihr Mann tatsächlich tot und nicht länger vermisst, schon plapperte die dumme Kuh drauflos. Dabei hatte sie es Mya und ihren Freunden zu verdanken, dass ihr tägliches Martyrium endlich endete.
Sheriff Mason verzog den Mund. »Die Fragen stelle ich, Mya. Deshalb sagen Sie mir doch bitte, in welcher Beziehung Sie zu Travis und Rory standen.«
»Wir waren Freunde.«
»Jetzt also doch. Nun gut, und denken Sie, dass es einer der Beiden oder womöglich Beide gemeinsam auf Walt abgesehen hatten?«
»Nein.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
»Weil es keinen Grund dazu gab.«
»Sie haben angegeben, dass Walt sie geschlagen hat. Vielleicht wollten sich Ihre Freunde rächen?«
»Walt hat auch seine eigene Ehefrau geschlagen. Wer sagt Ihnen, dass Sarah nicht ebenfalls Grund zur Rache gehabt hätte?«
Sheriff Mason lächelte nachsichtig. »Sie dürfen mir glauben, wir ziehen alle Möglichkeiten in Betracht. Allerdings sitzen Sie jetzt hier und wie ich Ihrer Akte entnehmen kann, waren Sie in Ihrer Jugend kein Kind von Unschuld. Mehrmaliger Ladendiebstahl, Hausfriedensbruch, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Körperverletzung.«
»Das meiste davon wurde wegen Geringfügigkeit nicht weiter verfolgt«, stellte Mya klar.
»Auch das kann ich sehen, aber es sagt mir, dass Sie Probleme hatten, Mya, und ich möchte wissen, ob diese Probleme mit Walt Chandler zu tun hatten.«
»Wenn Sie meine Akte gelesen haben, dann wissen Sie, dass meine sogenannten Auffälligkeiten nicht erst begannen, als ich nach Salinas kam. Ich hatte Probleme, doch gewiss nicht erst wegen Walt Chandler. Das habe ich Ihnen bereits 2007 gesagt und schon damals hat es niemanden interessiert. Pflegekinder werden in diesem Staat einfach herumgereicht. Man sieht in ihre Akten und macht sich ein Bild von ihnen, aber nach den Gründen fragt nie irgendjemand«, erwiderte Mya verbittert.
Sheriff Mason schürzte nachdenklich die Lippen. »Ich verstehe Ihren Groll, doch nun haben wir eine Leiche, Mya. Ihnen ist hoffentlich bewusst, was das bedeutet. Wir ermitteln nun nicht mehr wegen des Verschwindens einer Person, sondern wegen Mordes. Es sieht so aus, als wäre Walt regelrecht hingerichtet worden und da verstehen wir keinen Spaß. Die Verbrechensrate in Salinas ist während der letzten Jahre stark angestiegen. Diese Tatsache verunsichert nicht nur die Polizei vor Ort, sondern mittlerweile auch die Bundesbehörden. Im Jahr 2007 war Ihr Pflegevater einfach nur ein Mann, der spurlos verschwand und den niemand wirklich leiden konnte, aber 2018 ist er unter Umständen eines der Opfer, die auf das Konto von Travis McAlister gehen. Ihre beiden Freunde, Travis und Rory, sind größere Fische, als Sie sich vielleicht vorstellen können, Mya. Machen Sie nicht den Fehler, sie beschützen zu wollen.«
Sie ließ die Worte wirken und Stille senkte sich über den Raum.
»Travis und Rory waren an jenem Freitag den ganzen Tag mit mir zusammen. Wir waren zuerst in der Hütte im Wald nahe des Toro County Parks und später im Studio 13«, durchbrach Mya das Schweigen. »Wir haben uns alle das gleiche Tattoo stechen lassen. Ein Kleeblatt oberhalb des Herzens. Das können Sie gerne überprüfen.«
»Sie müssen sehr gute Freunde gewesen sein, wenn sie sich das gleiche Tattoo stechen ließen.« Sheriff Mason nickte bedächtig. »Wir werden das nachprüfen. Ist es müßig zu fragen, warum Sie nicht bereits damals erwähnten, dass sie mit ihren Freunden an jenem Tag im Studio 13 waren?«
»Es erschien mir nicht wichtig und es hat mich niemand gefragt. Sagte der Tätowierer nicht, dass wir zu dritt da waren?«, fragte Mya unschuldig.
»Nein.« Sheriff Mason wirkte gereizt. »Gibt es sonst noch etwas, dass Sie mir sagen wollen?«
»Nein, ich habe alles gesagt.«
»Dann hätte ich noch eine Frage: Haben Sie Travis und Rory seit Ihrer Ankunft gesehen?«
Mya erstarrte. Bis gerade eben hatte sie sich sicher gefühlt, doch nun bewegte sie sich auf dünnem Eis. Jeder konnte zumindest überprüfen, dass sie Exx gestern im Gefängnis besucht hatte. Sie durfte nicht lügen.
»Ja, das habe ich«, antwortete sie mit fester Stimme.
»Ich stelle es mir aufregend vor, zwei Freunde von der High School nach Jahren wiederzusehen. Sie hatten sich sicher viel zu erzählen«, entgegnete Sheriff Mason mit unergründlichem Blick. Dann stand sie auf. »Es hat mich gefreut, Mya. Wann fliegen Sie wieder nach Hause?«
»Nächsten Samstag.« Mya stand ebenfalls auf und schüttelte der Frau mit den Augen groß wie Kronkorken die Hand.
»Wir kontaktieren Sie, sollten wir weitere Fragen haben«, sagte diese und begleitete Mya zur Tür. »Bis dahin wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt in Salinas.«
»Danke.« Mya ging beherrscht über den Flur. Sie fühlte sich, als wäre sie einen Marathon gelaufen.
Kaum hatte Mya das Büro des Sheriffs verlassen, setzte sie sich ins Auto und fuhr los. Sie verließ die Stadt und folgte dem Monterey Salinas Highway in Richtung Küste. Salas, wie die Bewohner Salinas nannten, erdrückte sie zusehends. Überall stieß sie auf Spuren ihrer Vergangenheit, die ihr Gewissen auf den Prüfstand stellten. War es richtig, was sie getan hatte? War die Welt ohne Walt Chandler eine bessere geworden oder hatte sie sich durch seinen Tod zum gleichen Monster gemacht, das er gewesen war?
Mya hatte das Gefühl, über all diesen Grübeleien langsam verrückt zu werden. Deshalb suchte sie Abstand. Sie fuhr nach Monterey und von dort den 17 Mile Drive die Küste entlang. Irgendwann ließ sie ihr Auto stehen und ging an einen der Strände hinunter. Sie roch das Meer, hörte die Wellen und legte sich auf den Rücken in den Sand, um tief durchzuatmen. In dieser Welt zwischen Golfplätzen, Naturwundern und schicken Villen kamen ihr die Vorgänge in Salinas unbedeutend vor. Sie fühlte sich wie eine jener Hausfrauen, die abends beim Kochen den Fernseher einschalteten und zwischen Zwiebel schneiden und Salat putzen die neuesten Nachrichten verfolgten. Drei Tote hier, fünf Verletzte dort, zwei Schießereien, ein Einbruch. All das zog tagtäglich an den Unbeteiligten dieses Staates vorüber, ohne dass sie sich Gedanken darüber machten. Besorgnis überkam sie erst, wenn die Kriminalität sich an den Grenzen ihrer direkten Nachbarschaft abspielte.
Mya spürte den Sand, den ihr der Wind ins Gesicht trieb, und seufzte. Sie kannte beide Welten. Die der Unbedarften, die auf der Sonnenseite des Lebens standen, und die der Gestrauchelten, die bereits als Kinder Dinge hörten und sahen, die sie blind für die Sonne machten. Wohin gehörte sie?
In diesem Moment klingelte ihr Handy und ohne auf das Display zu sehen, wusste Mya, dass es Benjamin war. Dieses Mal ging sie ran.
»Hey, ich bin’s. Wie geht es dir? Ich hab mir Sorgen gemacht. Du bist nie rangegangen und hast auch nicht zurückgerufen.« In seiner Stimme war ein Anflug von Panik zu hören.
»Es geht mir gut«, beruhigte ihn Mya. »Ich musste einige organisatorische Dinge erledigen und war heute Vormittag bei der Polizei, um meine Aussage zu machen.«
»Wie lief es? Geht es dir gut?«
Mya lachte und hoffte, dass sie Benjamin damit die Sorgen nehmen konnte. Es behagte ihr nicht, wenn er seine Furcht um sie derart offen zeigte, denn sie war nicht gut darin, die Starke zu spielen. Nicht nach diesem Verhör und all den Dingen, die ihr durch den Kopf gingen.
»Es ist alles in Ordnung«, zwang sie sich zu sagen.
»Da bin ich erleichtert! Ich hatte diese irrsinnige Vorstellung, dass man dich festnehmen würde.«
»Nein, es lief bestens. Und nun sitze ich am Strand von Monterey und genieße den Blick auf das Meer.«
»Hast du deine Freunde schon gesehen?«
Mya schwieg. Sie verstand nicht, warum Benjamin es förmlich darauf anlegte, sich selbst Schmerzen zuzufügen.
»Tut mir leid«, fügte er sofort hinzu. »Ich bin ein solcher Idiot!«
Das war er, doch sie wollte es ihm nicht auch noch unter die Nase reiben. »Hör zu«, erwiderte sie. »Es ist nicht einfach für mich, wieder hier zu sein. Du bist etwas Besonderes, Benjamin, und es tut mir leid, was ich dir mit dieser Geschichte antue. Aber mach es nicht unnötig kompliziert.«
»Du hast recht«, murmelte er geknickt. »Mach dein Ding. Ich werde dich nicht mehr anrufen. Versprochen.«
»Okay, mach’s gut.« Sie legte schweren Herzens auf.
Am liebsten hätte sie geschrien, um all ihren seelischen Ballast loszuwerden. Ihre Probleme wuchsen ihr über den Kopf und sie fand keine Lösung. Mya sprang auf und rannte los. Zurück in ihrer Vergangenheit war sie weiter weg von ihrer Zukunft als jemals zuvor.