M
ya saß vor dem Wohnwagen und starrte in die Ferne. Der endlose Wind heulte und wirbelte Sand auf. Es war heiß. Sie trug nur ein Tanktop und Shorts, suchte Schutz unter den vertrockneten Bäumen, deren Äste zu dürr waren, um wirklich Schatten zu spenden. Seit Stunden harrte sie bereits aus, sehnte sich nach einer Dusche und etwas zu trinken. Rap und Exx waren am Vormittag aufgebrochen, um einige Dinge zu erledigen. Sie sagten ihr nicht, was sie vorhatten und ließen Mya einfach zurück. Es ärgerte sie, derart übergangen zu werden. Ihr Mietwagen stand noch immer in der Stadt, während sie hier draußen vor sich hinvegetieren musste. Ihr Mund fühlte sich bereits völlig ausgedörrt an. Exx besaß keinen Kühlschrank, kein fließendes Wasser, keine Toilette. Niemals hätte sie gedacht, dass er derart spartanisch hauste, doch Rap hatte ihr erklärt, dass er seine Zeit meist im Clubhaus des Green Army OMC verbrachte. Das war nicht, was Mya erwartet hatte. Im Grunde wusste sie überhaupt nicht, was sie erwartet hatte. Ernüchterung überkam sie und sie sah zum wiederholten Mal auf die Uhr. Es war kurz vor vier am Nachmittag.
»Verdammt!« Sie sprang auf und legte sich die Hand vor die Augen, um besser gegen die Sonne sehen zu können. Doch alles, was sie erblickte, waren trostlose Einöde, Büsche, Gestrüpp und Hügel am Horizont, die sich aus der flirrenden Steinwüste erhoben. Wütend trat sie gegen einen Stein, dann hielt sie inne, um zu lauschen. Exx hatte ihr gesagt, dass sie vorsichtig sein musste. Parkranger patrouillierten gelegentlich in dieser Gegend. Manchmal auch Jäger, die illegal die Truthähne im Naturreservat schossen. Doch es war nichts Außergewöhnliches zu hören, sie hatte sich getäuscht.
Sie setzte sich wieder und griff nach ihrem Handy. Es gab nicht einmal Strom, um es zu laden, doch der Balken zeigte an, dass der Akku noch zur Hälfte voll war. Vor lauter Langeweile durchwühlte Mya ihre Fotos und blieb an einem Bild von Benjamin hängen. Sie verlor sich in seinem Lachen und merkte, dass sie ihn vermisste. Das überraschte sie. Bei ihm hatte sie nie jene Verbundenheit gefühlt, die sie mit Rap und Exx verband. Nicht jene sexuelle Anziehungskraft, nach der sie sich sehnte wie nach einer Droge. Doch in all dem Chaos der letzten Tage stand Benjamin für Normalität. Für ein Leben außerhalb von Brutalität und Gewalt. Sie hatte geglaubt, zurückgekommen zu sein, um mit ihrer Vergangenheit abzuschließen, aber inzwischen verstand sie, dass sie zurückgekommen war, um herauszufinden, in welche Welt sie gehörte.
Gedankenverloren scrollte sie weiter durch die Fotos. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie oft sie Benjamin innerhalb des letzten Jahres fotografiert hatte. Sie betrachtete ihn im Smoking, den er zum Wohltätigkeitsball seiner Firma getragen hatte. Im Jogginganzug während einer Ruderregatta. In Trekkingschuhen, als sie an einem verlängerten Wochenende in Wales eine Wanderung gemacht hatten. War das tatsächlich ihr Leben gewesen? Mya seufzte. Sie spürte den Hauch von Unbeschwertheit, den sie mit Benjamin genossen hatte.
Habe ich mich zu wenig bemüht, fragte sie sich. Habe ich ihm vielleicht gar keine Chance gegeben, weil ich Rap und Exx noch immer liebe? Doch welche Art von Liebe war das? Sie sah auf und starrte auf den schäbigen Wohnwagen, vor dem sie saß. Dann wählte sie spontan Benjamins Nummer. Es war dumm und egoistisch. Sie wusste es, aber sie wollte seine Stimme hören.
»Mya?« Er hörte sich verschlafen an. »Was ist los?«
»Gar nichts. Ich ...« Sie brach ab.
»Bist du in Schwierigkeiten?«
»Nein.« Es klang nicht ehrlich und Mya schlug ihre Stirn gegen den Stamm des dürren Baumes, unter dem sie saß.
»Du rufst mich an, um zu schweigen?« Seine Besorgnis verwandelte sich in Empörung. Mya konnte es hören.
»Ich habe dir nie erzählt, wie es sich anfühlt, in einem Kinderheim aufzuwachsen.«
Er atmete hörbar aus. Vermutlich fragte er sich, was zum Teufel mit ihr los war. Da er nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Es kommt der Punkt, an dem man begreift, dass man anders ist als normale Kinder. An dem man feststellt, dass man niemals mit seinen Eltern auf den Spielplatz gehen oder in den Urlaub fahren wird. Man fühlt sich einsam und verstört. Man begreift, dass man zwar kein Waisenkind ist, aber dass sich die eigenen Eltern nicht für einen interessieren. Dass sie lieber Drogen nehmen, als sich um ihr eigen Fleisch und Blut zu kümmern. Das ist das Schlimmste. Und trotzdem wartet man. Jeden Geburtstag hofft man, dass überraschend Mama und Papa zur Tür reinkommen. Doch das passiert nicht und das Warten nimmt kein Ende. Es frisst dich innerlich auf. Als ich älter wurde, kam ich in die Pflegefamilien. Ich wurde zu wildfremden Menschen gebracht, damit das Heim wieder jüngere Kinder aufnehmen konnte. Das mag zunächst nicht schlimm klingen, aber dieses verdammte Heim war der einzige Ort, den ich kannte. Ich hatte Angst, dass mich meine Eltern nicht finden würden, wenn ich von
dort wegging. Nächtelang hatte ich Panik. Ich mochte meine Pflegefamilien nicht. Keine einzige von ihnen. Manchmal denke ich, sie gaben mich bereits auf, kaum dass sie mich sahen. Ich war verschlossen und abweisend. Kein Kind zum Liebhaben. Deshalb haben sie mich alle wieder weggegeben, wie einen bissigen Hund. Ich war nicht erwünscht und habe mich nie an irgendwelche Regeln gehalten. Warum auch? Mir hat ja auch nie jemand Sicherheit gegeben und mir gesagt: Du darfst leben, und ich pass auf dich auf! Ganz im Gegenteil. Den meisten war mein Leben egal. Besonders meinen leiblichen Eltern. So ist das bis heute. Vielleicht sind sie sogar tot. Ich weiß es nicht. Und inzwischen versuche ich mir einzureden, dass es mir gleichgültig ist.« Mya bemühte sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen. Sie war aufgewühlt.
»Wow, ich hatte ja keine Ahnung.« Benjamin zögerte. »Das sind heftige Neuigkeiten nachts um halb eins.«
»Tut mir leid.«
»Das muss es nicht! Ich bin nur verwirrt. Ich meine, warum erzählst du mir das jetzt? In all der Zeit während unserer Beziehung hast du das Thema totgeschwiegen.« Er zögerte. »Liegt es an diesen Freunden von dir?«
»Sie waren die Einzigen, die mir je Sicherheit gegeben haben«, erwiderte Mya leise.
»Hm.« Benjamin klang erneut verärgert. »Und was habe ich damit zu tun?«
»Ich will, dass du verstehst.«
»Warum, Mya?«
Ihr fiel keine vernünftige Antwort darauf ein und Benjamin lachte resigniert auf. »Du hast gesagt, ich soll es nicht unnötig kompliziert machen und jetzt stößt du plötzlich eine Tür auf, die mich nach unserer Trennung nichts mehr angehen sollte. Was ist los?«
»Ich musste an dich denken.«
»Hast du ein schlechtes Gewissen, weil du diese Typen vögelst?«
Mya hielt die Luft an. Sie hätte nicht gedacht, dass Benjamin seine Ahnung aussprechen würde.
»Darüber willst du nicht reden, was?« Es klang gehässig. »Ich lerne gerade eine Seite von dir kennen, die mir nicht gefällt. Du magst deine Gründe gehabt haben, nach Salinas zurückzukehren, aber je länger du fort bist, desto mehr wird mir bewusst, wie wenig ich dich kenne. Vielleicht können nur deine sogenannten Freunde dir geben, was du brauchst. Wenn das so ist, dann lass mich einfach in Ruhe.«
»Ich wollte nicht ...«
»Hör auf, dich zu rechtfertigen!«, unterbrach er sie. »Wir haben uns getrennt. Ich habe dich vor die Wahl gestellt und du hast entschieden. Wenn dir was an mir liegt, dann komm zurück und rede mit mir. Über alles. Keine Geheimnisse mehr. Womöglich haben wir dann noch eine Chance. Ich habe keine Lust mehr, zu betteln. Wenn du mich in deinem Leben willst, dann lass es mich wissen. Ansonsten brauchst du nicht mehr hier aufzutauchen.«
Seine barschen Worte trafen sie, auch wenn sie es nicht anders verdient hatte. »In Ordnung«, flüsterte sie.
»Mach’s gut, Mya«, verabschiedete er sich und legte auf. Es war das erste Mal, dass er sie abwies. Sie kannte ihn nur verständnisvoll, aber offensichtlich hatte sie den Bogen überspannt.
»Mit wem hast du telefoniert?«
Mya wirbelte herum und presste das Handy gegen ihre Brust. Exx sah sie forschend an, sie hatte nicht gehört, dass er zurückgekommen war. Er warf ihr ein eingeschweißtes Sandwich zu, das sie instinktiv auffing, und stellte einige Flaschen Wasser auf den Boden.
»Wäre ich ein Norteño, wärst du jetzt tot.«
»Wie bist du hergekommen?«
»Mit dem Bike. Es steht ein Stück weiter die Straße runter. Den Rest bin ich zu Fuß gegangen. Das Motorengeräusch lässt sich zu leicht verfolgen.« Er verengte die Augen. »Mit wem hast du telefoniert? Mit dem Sheriff?«
»Mit einem Freund aus London.«
»Einem Freund?« Er grinste. »Fickt ihr?«
»Das geht dich nichts an.«
Er setzte sich neben sie auf den staubigen Boden. »Warum bist du nur nach Salas zurückgekehrt, Mya? Du hättest bei deinem Stecher im hübschen London bleiben sollen.«
Sie wollte ihm eine kleben, hielt sich aber zurück. Sie kannte Exx. Kein Mann konnte sie so dermaßen wütend machen wie er. Und so dermaßen erregen.
»Wo ist Rap?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Bei der Irren.«
Mya runzelte die Stirn. »Du meinst Lisa?«
»Ich meine Rorys irre Frau Lisa, richtig. Ich denke, er muss es ihr heute Nacht ein paarmal besorgen, um sie ein wenig zu beruhigen.«
»Warum bist du dermaßen ekelhaft?«
Exx verzog den Mund. »So bin ich nun einmal.«
»Okay.« Mya sprang auf. »Du willst nicht reden, auch gut. Dann bring mich in die Stadt. Ich brauche eine Dusche und eine Toilette.«
»Negativ.« Exx sah zu ihr auf. »Du bleibst innerhalb meines Radars, solange ich es sage. Erst wenn du mir deine Flugnummer und deine Abflugzeit sagst, werde ich dich von hier fortbringen. Direkt zum Flughafen.«
Mya schnaubte. »Arschloch!«
»Hast du dir selbst eingebrockt.«
»Ich muss scheißen, verdammt!«
Exx lachte. »Schwing deinen blassen englischen Arsch ins Gebüsch, Schätzchen! Aber pass auf die Schlangen auf.«
Sie trat nach ihm und wirbelte dabei Sand auf. »Verflucht!« Er rieb sich die Augen und griff blitzschnell nach ihrem Fußgelenk. Mya versuchte, sich zu befreien, doch er war stärker.
Er verdrehte ihr Bein und zwang sie zu Boden. Herrisch beugte er sich über sie. »Du hast es noch nicht verstanden«, zischte er. »Im Gegensatz zu Rory habe ich kein Mitleid mit dir.«
Seine Nähe machte sie an und sie dachte an die letzte Nacht zurück. Es war, als hätten Rap, Exx und sie all die vergangenen Jahre nachholen wollen. Ihr Innerstes brannte noch immer von ihren zahlreichen stürmischen Spielchen und doch war sie schon wieder bereit für ihn. Sein Atem auf ihrem Gesicht ließ ihr das Blut pulsierend in den Unterleib schießen. Seine Augen fanden die ihren. Sie wirkten brutal, aber Mya hatte keine Angst.
»Ich werde dich nicht ficken«, knurrte er. »Das weißt du ganz genau.«
Mya unterdrückte ein Stöhnen. Sie dachte an die Worte, die er ihr stets ins Ohr flüsterte, wenn sie es taten. Er war verdammt gut im Dirty Talk, doch im Gegensatz zu Rap hatte Exx noch nie mit ihr geschlafen, wenn sie allein gewesen waren. Seine Loyalität gegenüber seinem besten Kumpel war unerschütterlich. Oder brauchte er den besonderen Kick, den ihm nur Raps Anwesenheit geben konnte?
»Ich meine es ernst.« Er sprang auf die Beine und gab ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, ihm zu folgen. »Ich zeige dir, wo du dich waschen kannst.«
Mya schnupperte automatisch unter ihren Achseln, doch Exx hatte sich bereits abgewandt und verschwand im Gebüsch. Kopfschüttelnd folgte sie ihm. »Was für Schlangen gibt es hier?«
»Hast du etwa Angst?« Er drehte sich amüsiert zu ihr um.
Mya verneinte halbherzig, passte jedoch ganz genau auf, wohin sie trat. Nebenbei packte sie das Sandwich aus und schlang es herunter. Sie hatte schrecklichen Hunger.
Keine fünf Minuten später blieb Exx stehen. »Dein Pool«, sagte er mit boshaftem Unterton.
Sie rümpfte die Nase und betrachtete die trübe Wasserstelle, die sich vor ihr ausbreitete. »Ist das dein Ernst?«
»Besser wird’s nicht.« Er setzte sich, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und sah sie herausfordernd an.
»Du willst mich vergraulen, habe ich recht?«
»Du sagtest, du brauchst eine Dusche. Das hier ist das Beste, was ich zu bieten habe.«
Mya ging an den Rand des Tümpels und blickte auf die Schlieren im Wasser. »Löse ich mich auf, wenn ich da reinsteige?«
Er lachte verhalten. »Ich denke nicht. Aber lass den Mund zu. Da sind gelöste Salze aus dem Boden drin. Sind nicht besonders gesundheitsförderlich.«
»Warst du schon mal da drin?«
Er nickte. »Ist nicht so schlimm wie’s aussieht.«
Mya holte tief Luft und schlüpfte aus ihren Shorts. Dann zog sie sich das T-Shirt über den Kopf und streifte ihren BH ab. Exx ließ sie nicht aus den Augen.
»Kommst du mit?«, fragte Mya und schob sich den Slip über die Taille. Sie wusste, dass ihre Nacktheit ihn erregte und er in seinen Jeans, den schweren Boots und dem karierten, ärmellosen Hemd schwitzen musste. Doch er schüttelte den Kopf.
Langsam stieg sie in den Tümpel. Das Wasser war warm. Zu warm. »Verdammt«, entfuhr es ihr. »Das ist ja wie ein Bad in einem Geysir!«
»Wenn du Luxus willst, dann flieg endlich zurück nach London.«
»Du wiederholst dich. Das wird langweilig.« Sie ließ sich rückwärts hineingleiten und ignorierte den modrigen Geruch, der sie augenblicklich umgab. »Wieso willst du mich unbedingt loswerden?«
Exx saß am Ufer und starrte zu Boden.
»Ist es wegen Rap?«, bohrte sie nach. »Was ist mit ihm passiert, als ich weggegangen bin? Du hast gesagt, er hätte sich ins Gefängnis geschossen und du konntest ihm nicht zur Seite stehen.«
»Ist nicht wichtig.«
»Warum willst du nicht darüber reden?«
»Warum hältst du nicht die Klappe?«
Mya durchschwamm den Tümpel. Je länger sie sich darin aufhielt, desto angenehmer wurde es. Langsam ließ sie sich zu Exx zurücktreiben und blieb bäuchlings am Ufer liegen, während sie das warme Wasser umspülte.
»Mein Freund in London heißt Benjamin. Wir leben zusammen in den Hampstead Heights und sind seit vier Jahren ein Paar ...« Sie stockte. »Wir waren
vier Jahre lang ein Paar. Bevor ich zu euch geflogen bin, haben wir uns getrennt. Er ist ein netter Kerl, hat einen guten Job ...«
Exx sah auf. »Und?«
»Es war kompliziert. Wegen euch. All die Jahre über wart ihr in meinem Kopf und in meinem Bett.«
»Dein Freund tut mir leid. Armes Schwein. Drei Schwänze sind einer zu viel.«
Mya schnaubte. »Du bist ein echter Arsch geworden!«
»Ich laber dich wenigstens nicht zu. Weshalb schüttest du dein Herzchen bei mir aus? Hast du dem Typen gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil du unsere Eier gelutscht hast?«
»Ich weiß es nicht ...« Sie brach ab. »Vergiss es!«
»Reden war nie unser Spezialgebiet, Mya. Das solltest du eigentlich wissen.«
»In was seid ihr da reingeraten? Was hat es mit dem Krieg der Familia und der Green Army auf sich?«
»Man sollte nie Fragen stellen, deren Antworten man nicht ertragen kann.«
»Ich bin nicht blöd, Exx. Das Internet steckt voller Informationen zu den Vorfällen in Salinas.«
Er zuckte die Schultern. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Welche Rolle spielst du in der Green Army? Bist du ein Unterhändler? Rap sagte, du hättest das Geschäft in Salas hochgezogen.«
Abrupt stand er auf. »Wenn du fertig bist, kannst du ja zurück zum Wohnwagen kommen. Du kennst ja den Weg.« Er verschwand zwischen dem Gestrüpp und Mya drehte sich auf den Rücken, um in den Himmel zu starren. Exx war ein harter Brocken. Gegen ihn mutete Rap wie Mutter Theresa an. Er war schon immer der Weichere der beiden gewesen. Der, der sie getröstet hatte, wenn sie verzweifelt war. Exx dagegen war der Macher. Sie schloss die Augen und sah ihn vor sich, wie er die Waffe hob, um Walt in den Kopf zu schießen. Keine Regung zeigte sich in seinem Gesicht, kein Mitleid. Er war so jung und schon ein Killer. Blut spritzte und Walts Kopf flog nach hinten. Erst dann schoss Rap ihm mitten in die Brust. Zweimal. Keuchend riss Mya ihre Augen wieder auf und fixierte eine winzige Wolke, die sich langsam in der sengenden Sonne auflöste.
Auch wenn es ihr unwahrscheinlich erschien, dass es je dazu kam, doch wie hätte sie Benjamin diese Sache erklären sollen? Wie beschrieb man Männer, die einen im einen Moment beschützten und in die Arme nahmen, während sie im nächsten Moment jemandem den Schädel wegpusteten? Dafür gab es keinen Vergleich und keinen sicheren Boden, auf den man sich stellen konnte, um ein derartiges Verhalten zu rechtfertigen. Vor dem Gesetz waren sie Mörder und Mya war zumindest
der Beihilfe schuldig. Dennoch war sie ihnen dankbar. Sie hatten getan, was sich Mya niemals getraut hätte und all diese intensiven Gefühle für Rap und Exx machten sie wahnsinnig. Es war jenseits jeder Vernunft. Sie fuhr sich verzweifelt mit den Fingern durch die nassen Haare und stieg aus dem Wasser. Ohne sich abzutrocknen, zog sie sich wieder an und ging zurück zum Wohnwagen. Exx saß auf der Stufe zum Eingang und leerte eine Wasserflasche. Verärgert warf er sie von sich, als Mya näherkam.
»Ich brauche einen Whisky, verdammt.«
Sie ging vor ihm in die Hocke und berührte seine Knie. »Ich danke dir, dass du auf mich aufpasst, aber wenn ich wieder gehen soll, dann schuldest du mir Antworten.«
Er wich ihrem Blick aus. »Antworten sind gefährlich.«
»Euer ganzes beschissenes Leben ist gefährlich.«
»Das ist es!« Er wurde zornig. »Und du machst es nicht besser. Seit du zurückgekommen bist, entwickeln sich die Dinge nicht zum Positiven. Deine Anwesenheit bringt uns alle in Gefahr.«
»Weshalb?«
»Verdammt, Mya, du bist wie ein räudiger Straßenköter. Eine riskante Promenadenmischung.«
»Du sprichst in Rätseln.«
Er holte tief Luft, schien zu überlegen, was er ihr sagen konnte und was nicht. »Was weißt du über deine Eltern?«
Mya verengte die Augen. »Ich kenne ihre Namen, das ist alles.«
»Du hast nie versucht herauszufinden, wo sie sind? Ob sie noch leben?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Mya wich vor ihm zurück. »Weil ich ein Feigling bin. Ich habe auf sie gewartet, aber ich wollte nie herausfinden, warum sie
nicht kamen, um mich abzuholen.« Sie zögerte. »Weißt du etwas über sie?«
Exx nickte bedächtig. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob du es erfahren solltest.«
»Und deshalb machst du hoffnungsvolle Andeutungen? Was denkst du dir eigentlich?« Die Neuigkeit verunsicherte sie und machte sie gleichzeitig wütend. Aufgebracht boxte sie Exx in den Unterarm. »Du bist mir die Wahrheit schuldig!«
»Ich bin dir gar nichts schuldig, Mya.« Er sah aus, als ob er bereits wieder bereute, das Thema angeschnitten zu haben.
»Weiß Rap davon?«
»Nein«, knurrte er. »Ich weiß es selbst erst seit gestern.«
Mya spürte ihr Herz. Es galoppierte in ihrer Brust auf und davon, ebenso wie ihre Gedanken. All die Jahre, dachte sie, all die Jahre habe ich gehofft, etwas über meine Eltern herauszufinden, und nun war es so weit.
»Du musst es mir sagen«, flüsterte sie. »Ich kann dich nicht zwingen, aber du kennst mich. Du weißt, wie es mir in den Pflegefamilien erging. Wenn dir auch nur ein bisschen an mir liegt, dann erzählst du es mir.«
Exx warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Rene Carnero«, war alles, was er sagte.
Mya nickte. »Er ist mein Vater.«
»Er war dein Vater.«
Die Worte taten weh, obwohl sie nicht einmal die reale Person hinter dem Namen kannte. »Er ist tot?«
»Das ist er.«
Mya rang mit sich selbst. Sie spürte Erleichterung, weil sie nun Gewissheit hatte, warum ihr Vater nie nach ihr gesucht hatte. Andererseits wühlte sie die Erkenntnis auf, dass sie ihn nicht mehr nach seinen Gründen fragen konnte. Danach, warum er und ihre Mutter sich so gleichgültig ihr gegenüber verhalten hatten.
»Dein Vater war Kapitän der Nuestra Familia, aber er stellte sich gegen sie und wurde ein FBI-Informant.« Wieder eine Neuigkeit, die sie erst einmal sacken lassen musste. Mya bemühte sich, das Gehörte zu verarbeiten.
»Was ist mit ihm passiert?«
»Die Familia kam dahinter und hat ihn umgebracht. Auf nicht besonders angenehme Art, wie du dir vorstellen kannst.«
Mya schluckte. »Woher weißt du das?«, fragte sie heiser.
»Von den falschen Leuten. Von denen, die mich damit erpressen wollen. Verstehst du nicht, Mya? Du bist die Tochter eines Verräters. Du sitzt hier in Salas wie der Zündfunke inmitten von Dynamit. Diese Information ist dein Todesurteil, wenn sie in die falschen Hände gerät.«
»Man erpresst dich damit?« Mya starrte ihm ins Gesicht. »Wer erpresst dich, Exx, und warum?«
»Das braucht dich nicht zu interessieren.« Er sah ihr in die Augen. »Wichtig ist nur, dass du gehst. Noch ist es nicht zu spät, aber schon in ein paar Tagen könnte es das sein.«
»Aber ich habe nichts getan! Ich kannte meinen Vater ja nicht einmal!«
»Das ist unwichtig. Du hast selbst erlebt, zu was die Norteños fähig sind, dabei hast du nur mit Alyssa gesprochen. Und selbst die hat Angst vor ihren eigenen Leuten. Diese Handlanger der Familia sind die Hyänen der Straße, kaltblütig und hinterlistig. Aber dein Vater hat die Mesa hingehängt. Wer die Köpfe der Familia hintergeht, dem droht Blutrache. Die vergessen nicht und es ist ihnen egal, ob du Rene Carnero kanntest. Fest steht, dass er ein Verräter war und deshalb stehst du als seine Tochter ganz oben auf ihrer Liste. Noch wissen sie das aber nicht und haben dich nur auf dem Kicker, weil du die Frau ihres Regiment Commanders belästigt hast und weil man dich mit uns in Verbindung bringt. Das ahnden sie mit einem Kopfschuss, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen. Du solltest dir wünschen,
dass es so bleibt, denn Verräter werden gefoltert, bevor man sie exekutiert.«
Mya atmete tief durch. Mehr noch als die Tatsache, dass sie sich in Lebensgefahr befand, beschäftigte sie die Entscheidung ihres Vaters. Er hatte sie im Stich gelassen, doch am Ende seines Lebens hatte er versucht, etwas richtig zu machen. Das hoffte sie zumindest. Ihre Gefühle fuhren Karussell.
»Wir könnten mit der Polizei reden«, warf sie ein und sah, dass Exx spöttisch den Mund verzog.
»Ist das dein Ernst?« Er lachte und rieb sich den Bart. »Dein neues Leben hat dich wirklich naiv werden lassen, Mya.«
»Ich habe Angst«, gab sie offen zu. »Um dich und um Rap. Um mich auch, um ehrlich zu sein. Mag sein, dass ich naiv bin, aber wenn ich in all der Zeit etwas gelernt habe, dann dass es möglich ist. Man kann neu anfangen. Ihr könnt das ebenso.«
»Nein.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ich wusste bereits als kleiner Junge, dass ich irgendwann durch eine Kugel sterben werde. Das Einzige, was ich mir je gewünscht habe, war, dass es schnell geht, wenn es so weit ist. Aber an der Tatsache zweifle ich nicht. Ich bin hier aufgewachsen und ich werde hier sterben. Wer so viel Blut an den Händen hat, der fängt nicht einfach in einem anderen Staat von vorne an. Diese Scheiße verfolgt dich und zieht dich mit sich, denn für Erinnerungen gibt es keine Delete-Taste. Das weißt du ganz genau, denn deshalb bist du zurückgekommen. Du konntest nicht vergessen und das können wir ebenso wenig.«
Mya schwieg und starrte auf ihre Hände. Sie glaubte, Walts Blut zu sehen, das an ihnen klebte.
»Wenn du Angst um uns hast und wenn dir noch immer etwas an uns liegt, dann flieg zurück nach England. Bitte!«, sagte Exx eindringlich. »Wenn wir anfangen müssen, dich vor dem Exekutionskommando der Mesa zu beschützen, dann gehen wir alle Drei dabei drauf.«
Mya hob den Kopf. »Ich kann nicht«, flüsterte sie. »Ich bin so durcheinander, seit ich wieder bei euch bin. Und ich weiß nicht, wie ich mein Leben in London ohne euch weitergehen soll.«
»Es geht genau um dieses eine Wort. Leben.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Denn das wirst du hier nicht. Du wirst in London leben oder in Salas sterben, such es dir aus.«
Mya spürte Verunsicherung. Sie hatte es gesehen, war vor den Norteños geflohen, hörte Exx’ Worte und dennoch mutete all das völlig irreal an. »Verdammt!«, entfuhr es ihr.
»Babe«, Exx griff nach einer ihrer Haarsträhnen, »mach kein Drama draus. Du bist einmal gegangen und du kannst es wieder tun. Gib Rory und mir eine Chance, unser verpfuschtes Leben noch weiter zu verpfuschen, ohne etwas zu tun, für das wir am Ende übel büßen müssen. Sei keine Last für uns.« Er grinste, doch es wirkte gequält.
Mya atmete tief durch. Was blieb ihr für eine Wahl? Sie wollte ihre Freunde nicht gefährden, das hatte sie nie gewollt. Und dennoch waren Gefühle etwas Hinterhältiges. Sie überlagerten die Vernunft und zeigten ihr all die Möglichkeiten, die Exx und Rap haben könnten, wenn sie nur wollten.
»Hör auf zu grübeln!« Er zog an ihrer Haarsträhne und schüttelte mahnend den Kopf. »Du wirst uns nicht ändern. Damals hast du Freunde wie uns gesucht und jetzt hilft uns weder Reue noch Optimismus noch Sex weiter. Wir sind wie wir sind und wir ändern uns nicht. Nicht einmal für dich, Mya. Sieh es endlich ein.«
»Ich weiß«, erwiderte sie geknickt und bemühte sich, das einzig Vernünftige zu sagen, das ihr einfiel. Es kam ihr nur schwer über die Zunge. »Ich werde gehen! Mein Flug ist für übermorgen gebucht, aber ich kann vielleicht eine frühere Maschine nehmen.« Der Satz zerriss sie beinahe.
»Sehr gut.« Exx sprang auf die Beine und Mya sah verdutzt zu ihm auf. »Du hast es ja eilig. Hast du das alles erfunden, um mich loszuwerden?«, fragte sie.
Er hielt inne und streckte ihr die Hand entgegen, um sie auf die Beine zu ziehen. Mya ergriff sie und wurde mit Schwung nach oben katapultiert. Sie schwankte leicht und Exx hielt sie fest. Er stand so dicht vor ihr, dass ihre Brüste seinen Oberkörper berührten.
»Ich lüge nicht«, sagte er mit rauer Stimme. »Die Wahrheit ist manchmal wie eine Ladung Schrot, sie durchlöchert dich, aber sie bringt dich nicht um. Und das ist das Gute daran.« Er küsste sie, hart und ungestüm. »Lebe, Mya, das ist mir lieber als dein Gehirn von den Straßen von Salas zu kratzen«, murmelte er in ihren Mund.
Sie klammerte sich an ihn, unfähig sich zu verabschieden. »Hätte das mit uns Drei funktionieren können?«
Exx brummte ablehnend. »In einem anderen Leben, auf einem anderen Planeten.« Er schob sie sanft von sich. »Ich fahre dich in die Stadt, damit du packen und deinen Flug umbuchen kannst.«
»Okay.« Sie hatte das Gefühl, als würde sie aus unsichtbaren Wunden bluten. Die wenigen Tage hatte sie sich an etwas geklammert, das nicht dazu bestimmt war, zu existieren. Es war, als würde man eine Seifenblase vor dem Platzen bewahren wollen. Irgendwann tat sie es. Es war unvermeidbar.
»Was ist, wenn man mir die Ausreise verweigert?«, wagte sie einen letzten Versuch. »Sheriff Mason meinte ...«
»Keine Sorge.« Exx wandte sich ab. »Es wird keine Probleme geben.«
Er sagte es mit solch einer Überzeugung, dass Mya sofort bewusst wurde, dass die ganze Sache größere Ausmaße hatte, als angenommen. Beunruhigt rieb sie sich die Oberarme. Sie hatte vor der Gefahr die Augen verschlossen und obwohl sie nun
entschieden hatte, abzureisen, beschlich sie plötzlich das ungute Gefühl, dass es bereits zu spät sein könnte und es keinen Weg Zurück gab.