M
ya kam zu sich. Kurzzeitig war sie orientierungslos, doch dann erfasste sie Panik. Sie glaubte, ihre Augen nicht öffnen zu können, bis sie bemerkte, dass man ihr eine Art Sack über den Kopf gezogen hatte. Sie rang nach Luft, sah verschwommene Gestalten, hörte Lachen und spanische Worte. Der Schmerz setzte ein und sie unterdrückte ein Stöhnen. Ihre Arme fühlten sich an, als gehörten sie nicht länger zu ihr. Ihre Hände waren über ihrem Kopf gefesselt und sie spürte keinen einzigen ihrer Finger. Taube Kälte zog sich durch ihren gesamten Körper. Wenn sie sich bewegte, konnte sie die Kette hören, an der sie hing. Ihre Beine berührten gerade so den Boden. In ihrem Kopf hämmerte es und das getrocknete Blut in ihrem Gesicht spannte. Sie erinnerte sich. Norteños waren schwer bewaffnet in ihr Motelzimmer gestürmt, während sie dabei gewesen war zu packen. Irgendwer hatte ihr einen Schlag auf den Kopf versetzt. Nun war sie hier.
»Sieh nur, die Schlampe kommt wieder zu sich, Ese
!«
Mya erstarrte augenblicklich und bemühte sich, ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen. Aber sie fühlte sich schutzlos. Schweiß brach ihr aus den Poren, ihr Herzschlag
verselbstständigte sich. Sie spürte, dass ihr Shirt den Bauch entblößte und ihre Hose weit über ihren Hüften hing. Niemals zuvor war sie sich derart ausgeliefert vorgekommen.
»Zeigt mir ihr Gesicht. Ich will sie sehen.« Die Stimme mit dem mexikanischen Akzent klang bedrohlich. Alles in Mya zog sich zusammen. Sie hörte Schritte, spürte Hände an ihrem Körper. Instinktiv trat sie nach ihren Peinigern, bis ihr jemand in den Magen schlug.
»Halt still, du Miststück.«
Sie würgte, kämpfte gegen die Übelkeit, welche Grausen und Schmerz verursachten, an, bis sie sich schließlich doch übergab. Spucke lief ihr übers Kinn und sie hörte Gelächter.
»Maldición
, die Schlampe kotzt. Das ist widerlich, Ese
!« Jemand riss ihr grob die Haube vom Kopf und Mya blinzelte gegen das Licht an. Die Haare hingen ihr über die Augen, aber allmählich gelang es ihr, sich zu orientieren. Sie befand sich in einer Halle, einer Art Werkstatt. Überall standen Autos und Motorräder herum, Reifen lagerten in den Ecken und es roch nach Öl und Benzin.
»Sag hallo!« Erneut boxte ihr jemand in die Seite. Mya stöhnte auf.
Ein junger Kerl kam auf sie zu. Er war eindeutig Mexikaner, trug ein rotes Stirnband über den nach hinten gegelten Haaren. Ein goldener Zahn blitzte in seinem Mund auf, als er höhnisch grinste, und auf seinem Hals prangte das Tattoo eines Sombreros mit einer Machete. Lässig schob er die Ärmel seines schwarzen Kapuzenpullis nach oben, entblößte zahlreiche weitere Tattoos auf seinen Armen und Handgelenken. Die Cowboystiefel machten markante Geräusche auf dem betonierten Boden und verschwanden beinahe völlig unter seinen weiten Hosen. Er blieb stehen, musterte sie eingehend. Mya bemühte sich, das plötzlich aufkommende Zittern ihrer Muskeln zu unterdrücken.
»Weshalb bist du dürr wie ein Kojote? Iren tun sich beim Ficken wohl gerne weh.« Er fiel in das Lachen seiner Kumpel mit ein. Als er verstummte, taten es auch die anderen.
»Seit wann machst du deine mageren Beine schon für den Mann meiner Cousine breit?«
Mya schüttelte den Kopf. »Das tue ich nicht«, erwiderte sie beinahe tonlos.
Der Mann mit dem Stirnband legte den Kopf schief. »Alyssa ist da anderer Ansicht. Sie meinte, ihr hättet schon früher gefickt. Bevor ihr gemeinsam Walt Chandler ausgeschaltet habt.«
Mya schluckte. Ihr Mund fühlte sich völlig ausgetrocknet an. Alles schmeckte bitter. Mühsam presste sie die Frage hervor, die sie schon die ganze Zeit beschäftigte: »Wer bist du?«
Erneut brandete das Lachen auf, bevor es wieder erstarb. »Du stellst hier keine Fragen, puta
!« Ein Tritt gegen ihr Schienbein untermalte seine Worte. »Also, noch einmal: Seit wann besorgst du’s dem Mann meiner Cousine?«
»Gar nicht. Früher haben wir’s getan. Aber nicht mehr seit ich zurück bin.«
»Soll ich nachsehen?« Blitzschnell fuhr seine Hand zwischen ihre Beine und Mya schrie auf. Wut überlagerte kurzzeitig ihre Angst. Sie spannte sich an, ignorierte den stechenden Schmerz in ihren Armen und versetzte dem Kerl einen Kick. Sie brachte ihn zum Straucheln, doch ehe sie sich versah, schlug er sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Ihr Kopf flog herum, sie verlor die Balance. Hilflos baumelte sie an ihren Fesseln, während sie das Gefühl hatte, die Arme würden ihr ausgerissen werden.
»Lass den Scheiß, puta
!«, zischte der Mexikaner. »Sonst muss ich dir wehtun. Und wir schlagen Frauen nur sehr ungern.« Er griff an ihren Hosenbund und unterbrach ihr Getaumel. Sie spürte seine Finger an ihrem Slip. Er strich über ihr Schambein. Mya verzog angewidert den Mund.
»Du scheinst mich nicht zu verstehen«, flüsterte er gefährlich leise. »Ich wiederhole mich nur höchst ungern. Das ist deine letzte Chance. Seit wann fickst du dieses Arschloch Rory?«
»Ich ficke ihn nicht!«, spie sie dem Kerl entgegen. »Ich ficke seinen Freund Travis.«
Der Mexikaner lachte auf. »Ihr tut es zu Dritt, habe ich gehört. Stehst du drauf, es von mehreren Männern besorgt zu bekommen?«
Mya glaubte, sich erneut übergeben zu müssen. Mühsam würgte sie die aufsteigende Galle hinunter. »Das war einmal«, entgegnete sie heiser. »Rory schaut gerne zu. Das ist alles.«
»Holt er sich nebenbei einen runter?«
»Ja.« Sie hustete. Niemals würde sie ihren Freund verraten, selbst wenn sie ihn dabei als Schlappschwanz hinstellen musste. Das Gelächter der Männer hallte durch die Werkstatt.
Der Mexikaner zog grinsend seine Hand aus ihrer Hose. »Der Ire ist eine Schwuchtel. Hab ich schon immer gewusst.« Er kam noch näher an sie heran. So nah, dass sie sein Aftershave und das Haaröl riechen konnte. »Mein Name ist Paqui«, sagte er. »Es freut mich, dich kennenzulernen. Wir werden eine spannende Zeit miteinander verbringen.«
»Was willst du von mir?« Mya erstickte beinahe an ihren Worten. Sie fürchtete, dass er wusste, wessen Tochter sie war. Das Ausmaß des Leids, das ihr dann bevorstand, wollte sie sich nicht ausmalen.
»Das wirst du schon noch sehen.« Er drehte sich um und ging. Von hinten wurde ihr die Haube über den Kopf gezogen und ihre Welt verschwamm aufs Neue.
Mya schwankte
zwischen Momenten der Verzweiflung und dem gnädigen Wegdriften in den Schlaf. Sie wusste nicht, wie lange sie schon gefesselt an diesem Ort hing, noch welche Tageszeit es war. Sie sah die Umrisse der grellen Neonröhren an der Decke ihres Gefängnisses, die den Blick unter der Haube nur wenig erhellten. Ihre Arme fühlten sich abgestorben an, sie fror, zitterte, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Wenn sie einschlief, knickten sie unter ihr weg und rissen sie aus ihrem Dämmerzustand. Manchmal wollte sie vor Zorn schreien, manchmal vor Resignation weinen. Sie tat keines von beidem und biss sich stattdessen die Innenseite ihrer Backen blutig, so sehr kämpfte sie darum, nicht durchzudrehen. Irgendwann während ihrer Bemühungen, sich aufrechtzuhalten, band man sie los. Sie spürte es kaum, ebenso wenig wie ihren anschließenden Sturz. Ohne sich abzufangen schlug sie hart auf dem Boden auf, prellte sich ihre Knie, die Schulter, das Gesicht. Erschöpft blieb sie liegen, bevor sie an den Fesseln hochgezerrt wurde.
»Komm mit, dumme Schlampe!«
Sie stolperte hintendrein, folgte dem Typ, den sie nur schemenhaft erkannte und der sie hinter sich herzog. Er schleuderte sie auf einen Stuhl, von dem sie beinahe wieder heruntergekippt wäre, wenn er sie nicht festgehalten hätte. Routiniert verschnürte er ihre Hände hinter der Lehne und zog ihr mit einem Ruck die Haube vom Kopf. Mya sah ihn an. Es war nicht Paqui, sondern einer seiner Leute. Er war pummlig und die Augen in seinem runden, bartlosen Gesicht blickten kalt und ausdruckslos. Sie wusste, er würde sie ohne mit der Wimper zu zucken erschießen, sollte er den Befehl dazu erhalten.
»Trink!«, sagte er und hielt ihr eine Wasserflasche hin, in der ein Strohhalm steckte. Mya begann zu saugen. Sie hatte nicht gewusst, wie groß ihr Durst gewesen war, bis sie das Wasser in
ihrer Kehle fühlte. Gierig schluckte sie, bis sie kaum noch Luft bekam.
»Genug!« Paqui schob sich in ihr Blickfeld, drängte den Pummligen zur Seite. Mit zusammengekniffenen Augen ging er vor ihr in die Hocke. »Was weißt du über die Geschäfte der Green Army?«, wollte er wissen.
In Myas Kopf kreisten die Gedanken. Sie war so am Ende, dass sie nicht mehr wusste, was sie sagen durfte und was besser nicht.
»Ich weiß nichts«, entgegnete sie schwach. »Nur das, was in der Zeitung steht.« Sie bemühte sich um Konzentration. »Die Green Army und die Nuestra Familia führen einen Bandenkrieg um die Vorherrschaft über das Waffen- und Heroin-Geschäft.«
Paqui kicherte. Es klang irre. »Das weißt du also aus der Zeitung?« Er zückte ein Messer und hielt es ihr unter die Nase. »Und was flüstern dir die Iren, wenn du ihre Schwänze lutscht? Was weißt du?«
»Wir reden nicht, wir ficken.«
»Was weißt du?«, wiederholte er und sie spürte, wie das Messer ihre Wange ritzte.
Myas Bewusstsein kehrte mit einem Schlag zurück. Ihr Herz schlug so hart in ihrer Brust, dass es wehtat. »Ich schwöre, dass ich nichts weiß!«
»Ich glaube dir nicht.« Heißes Blut lief über ihr Gesicht, vermischte sich mit dem getrockneten.
»Bitte nicht!«, flehte sie. »Travis und Rory reden mit mir nicht über solche Dinge.«
Paqui hielt inne und der pochende Schmerz in ihrem Gesicht machte Mya hellwach. »Ich bin keine Old Lady
«, beteuerte sie. »Ich bin erst seit einigen Tagen wieder in der Stadt und der einzige Grund, warum ich zurückgekommen bin, ist, um eine Aussage zum Mordfall von Walt Chandler zu machen.«
»Hast du der Polizei gesagt, wer’s war?« Paqui bewegte das Messer in Richtung Myas Auge.
»Nein.« Sie wich automatisch zurück, doch es gab kein Entkommen.
»Weil du deine Freunde nicht verraten willst, habe ich recht?«
Mya nickte automatisch und das Messer zuckte, ebenso wie sie selbst.
»Weshalb sollte ich dir dann glauben?« Er hielt inne. »Du bist loyal. Bist extra hierher zurückgekommen, um deinen Freunden ein Alibi zu verschaffen. Ich habe gehört, ihr habt euch an dem Tag von Walts Verschwinden alle dasselbe Tattoo stechen lassen.« Er lächelte aufgrund von Myas erstauntem Blick. »Ich weiß alles, Süße. Wir haben überall unsere Informanten.« Er ließ das Messer sinken, griff nach ihrem T-Shirt und zerschnitt es mit einer raschen Bewegung. Mya schrie auf.
»Scht!« Paqui legte ihr die Klinge an die Lippen. »Ich will mir nur ansehen, was euch verbindet.« Er schob den Träger ihres BHs zur Seite und sein Lächeln vertiefte sich. »Alyssa hatte recht. Du bist hübsch und dumm. Damit kann euch jeder in Verbindung bringen.« Er fuhr mit dem Messer die Konturen des Tattoos nach. Myas Atem ging schneller. »Jetzt weiß ich auch, dass sie versuchen werden, dich zu retten.« Er lachte. Leise erst, dann immer lauter bis es die gesamte Halle erfüllte und Mya einen Schauer über den Rücken jagte.
»Du bist seit langem meine wertvollste Geisel.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. »Rene Carnero hat wahrlich eine vielseitige Tochter.«
Mya hielt die Luft an. Er wusste es! Sämtliche Härchen stellten sich auf, sie spürte die Panik ihren Nacken emporkriechen.
»Ja, ich weiß es. Ich weiß alles. Du wirst für die Tat deines Vaters bezahlen, meine Schöne. Wir werden dich Stück für Stück vor deinen Freunden ausbluten lassen. Das wird die beste verdammte Orgie deines Lebens.«
»Bitte nicht!« Mya lief eine Träne über die Wange, was Paqui nur noch mehr zum Lachen brachte.
»Dein Vater war ein gottverdammtes Stück Scheiße! Die Familia hat alles für ihn getan und er hat uns verraten. Ist uns bisher noch nicht gelungen, deine Mutter zu finden, aber nun haben wir ja dich. Und mit dir diese irischen Wichser. Es wird mir eine Freude sein, euch alle Drei umzubringen und eure Kadaver auf dem Hof der Green Army in Gilroy zu entsorgen. Vielleicht hört dieser beschissene Club dann endlich auf, in unserem Revier zu wildern.«
»Nein«, flüsterte Mya, blind vor all dem Horror, der sich vor ihrem inneren Auge abspielte. Stumme Schluchzer schüttelten ihren Körper.
»Du kannst nichts daran ändern, kleine puta
.« Er legte den Kopf schief. »Wir könnten es schneller beenden, wenn du uns etwas über die Geschäfte der Green Army erzählst.«
»Ich weiß nichts. Wirklich!« Mya hörte den hysterischen Klang ihrer Stimme. »Ich will gehen. Bitte lasst mich gehen!«
Paqui verzog den Mund. »Du darfst gehen. In mehreren Teilen. Von was möchtest du dich zuerst trennen? Finger? Ohren? Nase?«
Mya erbebte, die Tränen flossen nur so über ihr Gesicht.
»Weine nicht, das hilft dir nicht weiter. Wenn deine Freunde eintreffen, dann soll die Party beginnen und keiner will eine verheulte Schlampe sehen.« Er stand auf. »Bald seid ihr für immer vereint, ist doch romantisch. Dein Blut vermischt mit ihrem Blut, welch tragische Liebe. Den Zeitungen gefällt so ein Scheiß. Ihr werdet berühmt. Fünf Minuten in den Abendnews, was für ein Abgang!« Er stand auf und gab dem pummligen
Mexikaner ein Zeichen. Dieser nickte und stülpte Mya erneut die Haube über den Kopf. Zurück im konturlosen Dunkel wimmerte sie ihr Leid hinaus, bis ihr Aufpasser ihr mit einem Schlag auf den Kopf zu verstehen gab, dass sie Ruhe geben sollte.
Mya schrak hoch,
als sie die Stimmen hörte. Alle redeten durcheinander. Spanische Flüche und Wortfetzen überlagerten das Geräusch von Waffen, die entsichert wurden. Sie versuchte, sich zu orientieren. Kurzzeitig war sie eingenickt und wusste nicht, was vor sich ging. Schon spürte sie den Lauf einer Pistole an ihrem Kopf und das Adrenalin fuhr ihr kribbelnd durch den Körper.
»Rápido!
« Jemand löste das Seil und zerrte sie in die Höhe. »Los, geh!«
Hilflos strauchelte sie neben dem Mann her, das kalte Eisen an ihrer Schläfe. Sie hatte Angst zu fallen, ihre Hände waren noch immer in ihrem Rücken gefesselt, ihre Beine schienen nicht mehr zu ihr zu gehören.
»Schneller!« Der Druck der Pistole verstärkte sich. Mya erlebte unterschiedlichste Empfindungen. Sie wünschte sich, er würde abdrücken, damit sie nicht gefoltert wurde oder mitansehen musste, was sie Rap und Exx antaten. Dann klammerte sie sich ans Leben, hoffte, dass alles gut ging, ein Wunder geschah, das sie rettete. Sie wollte beten, doch ihr fiel nichts ein. Vermutlich würde sie ohnehin nicht erhört werden, weil sie ihr Leben lang nicht gläubig gewesen war. Sie dachte an ihre Zeit im Kinderheim zurück, an ihre Pflegefamilien, an Benjamin. Was würde er sagen, wenn er sie so sah? Als Geisel einer mexikanischen Gang. Gefangen, weil sie zwei Mitglieder einer Motorradgang schützen wollte, die ihr einst
ihren Pflegevater vom Hals geschafft hatten. In Gefahr, weil sie die Tochter eines Mannes war, der die Mesa hingehängt hatte. Es war absurd. Zu unwirklich, um tatsächlich stattzufinden. Die Pistole an ihrer Stirn, die Kugel, die sie jederzeit töten könnte. Dann wäre es vorbei, ehe es überhaupt angefangen hatte. Ihr Leben verpfuscht, ein Rätsel, ein reißerischer Bericht in den Medien. Wieso war eine Frau aus London unter den Opfern? Was tat sie hier? Man würde ihre beschissene Existenz auf den Kopf stellen, die Tragik enthüllen, Benjamin interviewen. Oder es würde gar nichts passieren. Sie würde verschwinden, nie wieder auftauchen. Ein sinnloser Tod. Auf diese Weise wollte sie nicht gehen, doch es stand nicht in ihrer Macht. Die Ungewissheit brachte sie beinahe um den Verstand.
»Deine verfluchten Freunde sind Spitzel«, zischte Paqui in ihr Ohr und sie zuckte zusammen. »Ein Special Response Team ist auf dem Weg hierher. Ich schwöre dir, dass die hier nur deine Leiche finden werden!«
Spitzel? Mya schüttelte den Kopf. Das konnte sie nicht glauben. Nicht nach alldem, was Travis ihr heute erzählt hatte. Das machte alles keinen Sinn. Mya blieb stehen, doch Paqui gab ihr einen brutalen Stoß in den Rücken. Sie stolperte vorwärts. War das ihr Ende? Würde er sie nun auf der Stelle erschießen?
In diesem Moment gab es einen ohrenbetäubenden Knall und Mya wurde zu Boden geworfen. Sie hörte Schüsse, Schritte, Schreie. Hilflos robbte sie voran, fürchtete, jede Sekunde tödlich getroffen zu werden. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, wer die Waffe auf sie richtete. Die Maschinengewehrsalven nahmen zu, Mya schrie in Panik. Sie spürte, wie die Kugeln neben ihr einschlugen und doch war sie blind und gefesselt, unfähig davonzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Das war ihr Ende. Sie rang nach Atem und weinte, bewegte sich wie eine Raupe vorwärts, bis sie gegen etwas Weiches stieß. Sie hob den Kopf, roch Blut. Sie erkannte
eine Hand und spürte klebrige Feuchtigkeit an ihrer nackten Schulter. Dann wurde sie plötzlich nach oben gerissen.
»Nein!« Ein panischer Laut entrang sich ihrer Kehle, sie glaubte zu hyperventilieren.
»Keine Angst, Ma’am, wir haben sie.« Es war eine Stimme ohne mexikanischen Akzent. »Ich bringe Sie hier raus.«
Wie in Trance spürte sie Arme, die sich um sie legten, und sie stützten. Sie schluchzte auf, weil sie es nicht glauben konnte. Noch immer fielen vereinzelte Schüsse, doch zwischen sie mischten sich die Stimmen der Beamten: »Auf den Boden, Hände hinter den Kopf!«
Mya spürte frische Luft, hörte Durchsagen über Funkgeräte. Sie war nicht länger im Gebäude. Blaulicht flirrte vor ihren Augen, die Haube wurde ihr abgenommen. Es war bereits Nacht. Ein Mann mit dunklem Helm, Schutzbrille und Schutzweste über seiner schwarzen Jacke sah sie an. »Sind Sie verletzt? Geht es Ihnen gut?«
Sie nickte. Weitere Polizisten umringten sie, legten ihr eine Decke über die Schultern.
»Kommen Sie, wir müssen Sie untersuchen!« Sie wurde abgeführt, sah sich um und konnte all die Eindrücke nicht verarbeiten. Mindestens fünf gepanzerte Einsatzfahrzeuge mit der Aufschrift ICE Gang Unit
standen auf dem Gelände. Dazwischen ein Krankenwagen, zu dem sie nun gebracht wurde. Hilflos umklammerte sie die wärmende Decke.
»Setzen Sie sich!« Der Polizist verschwand und ließ sie in der Obhut eines Sanitäters. Der leuchtete mit einer Stabtaschenlampe in ihre Augen. »Fühlen Sie sich schwindlig?«
Mya schüttelte den Kopf und wehrte sich, als der Sanitäter sie von der Decke befreien wollte. »Ist okay«, sagte er. »Sie sind in Sicherheit. Alles wird gut.«
Sie brach in Tränen aus. Die Anspannung wich heftigem Zittern. Ihre Zähne schlugen wild aufeinander.
»Bleiben Sie ruhig«, hörte sie seine Stimme und registrierte, dass er sie sanft nach hinten legte und ihre Beine hochlagerte. »Atmen Sie tief ein und aus und sehen Sie mich an.«
Mya blinzelte. Sie sah alles verschwommen und spürte, dass er ihr eine Spritze setzte. Nach einer Weile normalisierte sich ihr Zustand wieder. Der Sanitäter nickte zustimmend und begann, die Wunden in ihrem Gesicht zu säubern. Währenddessen sprach er mit ihr, aber Mya bekam kaum etwas davon mit. Sie antwortete automatisch und suchte die Umgebung nach den zwei Menschen ab, nach denen sie sich am meisten sehnte.
»Miss Munroe.« Mya erkannte Sheriff Judith T. Mason, die zu ihr trat. »Wie geht es Ihnen?«
»Es geht mir gut«, erwiderte Mya zum wiederholten Mal. »Ich verstehe nur nicht ...«
»Sie wurden entführt.«
Beinahe hätte Mya aufgelacht. Die großen Augen des Sheriffs musterten sie. »Ich bin froh, dass Sie noch am Leben sind.«
»Woher wussten Sie ...« Mya gelang es noch immer nicht, in ganzen Sätzen zu sprechen.
»Wir bekamen einen Hinweis.« Judith T. Masons Gesicht wurde weicher. »Das ICE, die Behörde für innere Sicherheit, hat das übernommen. Sie hatten Glück im Unglück. Deren Leute werden Sie in ein Safe House bringen. Dort bleiben Sie über Nacht und morgen werden Sie zum Flughafen gefahren.«
»Ich darf nach Hause?«
»Das dürfen Sie. Mir war nicht bewusst, dass die Nuestra Familia es auf Sie abgesehen hat. Deshalb unterstehen Sie von nun an dem Schutz der Bundesbehörden. Kommen Sie nicht wieder nach Salinas zurück, Miss Munroe. Der Name Ihres Vaters bedeutet hier Ihr Todesurteil. Hätte ich das vorher gewusst, wären Sie niemals zu Ihrer Aussage hierher bestellt worden.«
Mya hörte die Worte, aber sie verstand nicht. Wo waren Rap und Exx? Weshalb kamen sie nicht? Und warum verfrachtete man sie in ein Safe House?
»Ich ...« Sie rieb sich die Stirn, um wieder klar denken zu können. »Brauchen Sie denn gar keine Stellungnahme von mir? Ich meine, was passiert mit den Leuten, die mich entführt haben?«
»Überlassen Sie das dem ICE. Diese Männer, die Sie in Ihrer Gewalt hatten, sind aktenkundig. Man wird sich um sie kümmern.«
»Um sie kümmern?« Mya schüttelte verständnislos den Kopf. »Die wollten mich umbringen!«
»Das ist uns bewusst, Miss Munroe, aber nun geht es um Ihre Sicherheit. Sie müssen raus aus Salinas.«
»Kann ich telefonieren?«
»Selbstverständlich.« Judith T. Mason langte in die Innentasche ihrer Jacke, zog ein Handy heraus und reichte es Mya. Diese setzte sich auf und starrte es an.
»Sie können Ihren Anwalt anrufen, falls Sie das wünschen«, erklärte der Sheriff.
Mya zögerte. Brauchte Sie einen Anwalt? Doch welchen sollte sie anrufen? Sie kannte keinen in der Stadt.
»Im Safe House warten Ihre persönlichen Gegenstände auf Sie. Vertrauen Sie mir. Die Bundesbehörden sorgen dafür, dass Sie morgen Ihr Flugzeug erreichen.« Judith T. Mason berührte sie am Arm. »Lassen Sie die Dinge in dieser Stadt hinter sich, Miss Munroe, und kommen Sie niemals zurück.«
Mya wog ihre Möglichkeiten ab, bevor sie dem Sheriff das Handy zurückgab. »In Ordnung«, sagte sie, lehnte sich gegen die Wand des Krankenwagens und schloss die Augen.
Eine Stunde
später saß sie auf dem Rücksitz eines unauffälligen schwarzen Sedan und starrte auf die Hinterköpfe der beiden Zivilpolizisten, die sie zum Safe House fuhren. Sie kam sich vor wie eine Schwerverbrecherin. Die Beamten sprachen kein Wort miteinander und Mya beschlich ein beklemmendes Gefühl. Sie dachte daran, was Rap ihr vor einigen Tagen im Motel gesagt hatte, bevor er ihr den Revolver gegeben hatte. Selbst die verdammte Polizei kämpft auf unterschiedlichen Seiten
. Und Paqui hatte durchblicken lassen, dass die Nuestra Familia überall ihre Informanten hatte. Mya behagte das nicht, sie glaubte, niemandem mehr vertrauen zu können. Selbst Rap und Exx ließen sie im Stich. Konnte es sein, dass sie tatsächlich Spitzel waren?
Sie sah aus dem Fenster, beobachtete die Straße, die sie zu einem unbekannten Ziel brachte. Bereits morgen würde sie im Flieger nach London sitzen. Sie würde in ihr Leben zurückkehren, das sich nun noch eigenartiger anfühlte als zuvor. Wie ein Pullover, den man verkehrt herum anzog. Ihr Weg nach Salinas hatte ihr nur noch mehr Ungereimtheiten beschert. Noch mehr Ängste. Sie war nicht bereit, in ihre Wohnung zu gehen und mit Benjamin zu reden. Es war nicht abgeschlossen. Ihre ganze beschissene Vergangenheit verfolgte sie mehr als jemals zuvor!
»Wir sind da.« Das Auto fuhr auf den Parkplatz eines einfachen Hauses mitten in Gonzales, der Nachbarstadt von Salinas. Weit hatte man sie nicht gebracht. Mya wagte sich kaum zu bewegen. Im unbeleuchteten Hauseinangang erschien eine Frau.
»Das ist Special Agent Kate Rosales. Sie wird sich um Ihre Sicherheit kümmern«, sagte einer der Beamten und stieg aus. Der andere drehte sich zu ihr um. »Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Munroe, wir wissen, was wir tun.«
Mya nickte und zuckte zusammen, als von außen die Tür des Wagens geöffnet wurde. Aus irgendeinem Grund glaubte sie, jeden Moment wieder eine Waffe an den Kopf gehalten zu bekommen. Sie stieg aus und bemerkte, dass ihre Knie noch immer wackelig waren.
Die Beamten nahmen sie in ihre Mitte und geleiteten sie zum Haus. »Miss Munroe, es freut mich.« Kate Rosales gab ihr die Hand. »Kommen Sie herein.« Sie sah sich misstrauisch um, gab den Beamten weitere Anweisungen und schloss die Tür hinter sich. Mya blieb unschlüssig stehen. Das Innere des Hauses war nur spärlich beleuchtet und möbliert. Sämtliche Fenster waren verriegelt, die Rollläden heruntergelassen. Mya rieb sich die Oberarme. Sie fror erbärmlich, obwohl man ihr inzwischen einen Pullover gegeben hatte. Kate Rosales drehte sich zu ihr um.
»Sind Sie vertraut mit den Vorkehrungen in diesem Haus?«
Mya schüttelte den Kopf.
Kate Rosales sah sie an. Ihr Blick war scharf und sie schien nicht der Typ Frau zu sein, der besonders mitteilungsbedürftig war. Ihre glatten braunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie trug ein schwarzes T-Shirt über schwarzen Cargohosen, knöchelhohe Boots und ein Waffenholster, das zusätzlich am Oberschenkel befestigt war.
»Sie sind in einem Safe House des ICE, das bedeutet, dass Sie sich unter dem Schutz einer Bundesbehörde befinden. Sie müssen zu jeder Zeit meinen Anweisungen Folge leisten und dürfen nicht telefonieren. Aus diesem Grund haben wir Ihr Handy konfisziert. Sie erhalten es zurück, wenn Sie morgen abreisen. Für die Zeit Ihres Aufenthalts dürfen Sie sich frei im
Haus bewegen, allerdings würde ich Sie darum bitten, mir zu sagen, wohin Sie gehen. Lassen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit das Licht in den Räumen aus und schlafen Sie nach Möglichkeit auf dem Sofa, wo ich Sie sehen kann. Haben Sie Hunger?« Sie deutete auf die angrenzende Küche. »Bedienen Sie sich. Die Auswahl ist nicht groß, aber Sie können sich nehmen, was Sie wollen.«
Mya nickte. »Ist es okay, wenn ich dusche?«
»Natürlich.« Kate Rosales deutete mit dem Kinn den Gang hinunter. »Das Bad ist dort hinten. Ihre persönlichen Gegenstände stehen in der Küche.«
Mya lugte um die Ecke. Sie entdeckte ihren Koffer und öffnete ihn. Jemand hatte ihre Klamotten gepackt. Auch ihre Umhängetasche war da. Außer Pistole, Munition und Handy schien nichts zu fehlen. Sie konnte es kaum fassen. Erschöpft wühlte sie in ihrem Koffer, beförderte frische Unterwäsche, Shirt, Pullover und eine Jeans zutage und ging ins Bad. Obwohl Kate gesagt hatte, dass sie das Licht auslassen sollte, beschloss Mya, sich dem Befehl zu widersetzen. Sie sah sich um. Das Bad war winzig, die Fliesen schäbig und die Armaturen veraltet. Mya kümmerte sich nicht darum und beeilte sich, ihre Kleidung abzulegen. Vorsichtig hielt sie ihr zerschnittenes Shirt in die Luft, sah die Blutflecke und presste sich eine Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. Sie fühlte sich beschissen. Einsam und gefangen in einer absurden Situation, gepeinigt von den Erinnerungen der letzten Stunden, die wie Blitze durch ihren Kopf zuckten und sie den Horror erneut erleben ließen. Angeekelt ließ sie das Shirt zu Boden fallen und drehte das Wasser auf. In der Dusche lag ein Stück Seife, das nicht mehr ganz frisch aussah. Mya war es egal. Sie stellte sich unter den Wasserstrahl, genoss das heiße Wasser, das ihr beinahe die Haut verbrannte, und beobachtete, wie das getrocknete Blut sich auflöste und den Schaum verfärbte. Mehrmals schrubbte
sie sich mit der Seife ab, bis sie glaubte, ihre Haut müsste sich auflösen. Die Abschürfungen an ihren Handgelenken brannten ebenso wie ihre Wunden im Gesicht. Doch Mya ignorierte die Schmerzen. Sie waren nichts gegen all die verstörenden Gefühle in ihrem Inneren. Sie blieb unter dem Wasser, bis es kalt wurde. Anschließend stieg sie aus der Dusche, trocknete sich mit einem der rauen Handtücher ab, zog sich an und ging zurück in die Küche.
Kate Rosales saß am Tisch und trank einen Kaffee. »Möchten Sie auch?«, fragte sie.
Mya schüttelte den Kopf. »Ich werde mich hinlegen.«
»In Ordnung.«
Sie drehte sich um, ging zum Sofa und wickelte sich dort in eine der Decken. Unablässig verharrte ihr Blick auf Agent Rosales, bis das Bild schließlich verschwamm und Mya in einen traumlosen Schlaf sank.