Eleven
» M einst du, es geht ihr gut?« Rory lehnte den Kopf zurück, ohne das Haus aus den Augen zu lassen. Nur noch eine Stunde bis zum Sonnenaufgang. Bald hatten sie es geschafft.
»Sie lebt«, murmelte Travis neben ihm. Seit ihrer Entscheidung der letzten Nacht gab sich sein Bruder wortkarg. Es hatte Rory erstaunt, was Travis angedeutet hatte. Dinge, von denen er nichts geahnt hatte. Noch immer schwankte er zwischen der Enttäuschung darüber, dass sein Kumpel solche Geheimnisse vor ihm hatte, und der Erleichterung, dass diese Geheimnisse Mya am Ende vermutlich das Leben retteten.
Er drehte den Kopf und musterte Travis. Sein bester Freund saß am Steuer des schwarzen Firebird, den sie so geparkt hatten, dass die Motorhaube mit dem Logo des Clubs nahezu in einer Hecke verschwand. Das Kinn berührte fast seine Brust, doch Rory wusste, dass er hellwach war. Das waren sie beide. Sie waren angespannt wie ein schussbereiter Colt. Es war riskant, hier zu sein, so wie alles andere, was sie in den letzten achtzehn Stunden getan hatten. Etwas weiter die Straße runter parkte der schwarze Sedan mit den Bundesbeamten, die das Haus ebenfalls observierten. Sie hatten den Firebird längst bemerkt, doch Rory vermutete, dass dieser Marella Anweisungen gegeben hatte, sie in Ruhe zu lassen.
»Du solltest mir endlich sagen, was du da für eine Scheiße unterschrieben hast!« Rory deutete auf das Handy, das zwischen ihnen im Auto lag.
Travis hob den Kopf. Sein Gesicht lag im Dunklen, doch Rory spürte die Wut, die von seinem Kumpel ausging.
»Was interessiert es dich? Es ist mein Arsch, der über glühenden Kohlen hängt. Du bist raus, ebenso wie Mya«, zischte er.
Rory schüttelte den Kopf. »Nein, Bro, komm mir nicht so. Du kannst mich nicht länger da raushalten. Gib mir eine Möglichkeit, dir zu helfen.«
»Du kannst mir nicht helfen, verdammt!« Sie starrten einander an.
»Es ist alles cool«, lenkte Travis nach kurzer Zeit ein. »Es war damals meine Idee, der Green Army beizutreten und das Geschäft in Salas aufzuziehen. Jetzt ist es auch meine Aufgabe, das nicht zu versauen.«
Rory verschränkte die Arme vor der Brust. »Darf ich dich was fragen?«
»Hm?«
»Bist du der Green Army wegen mir beigetreten? Um mir Schutz im Gefängnis zu besorgen?«
Die nachfolgende Stille war Rory Antwort genug, dennoch bohrte er nach: »Du hast gesagt, die Braunen gehen dir auf den Sack, du willst selbst etwas bewegen. War’s wirklich so?«
Travis grunzte. »Du denkst zu viel über die Vergangenheit nach, Bro. Lass es sein, spielt alles keine Rolle mehr.«
»Hey, wir sind zusammen aufgewachsen, Mann. Lass mich nicht hängen.«
»Das tue ich nicht!«, brauste Travis auf. »Du hast verdammt nochmal darum gebettelt, dass wir Mya retten und jetzt lass mich mein Ding durchziehen. Ich habe dich damals schon gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören. Warst geblendet von ihrer engen Muschi und ihren großen, hilflosen Augen. Und jetzt sieh uns an! Alles, was wir uns aufgebaut haben, ist dabei, den Bach runterzugehen. Ich scheiß auf die Vergangenheit, aber ich brauche dich, um das zu überstehen. Hast du mich verstanden?«
»Dann sag mir endlich, was du für einen Deal mit diesem Marella gemacht hast!«
»Ich habe meine Seele dem Teufel verkauft, Bro.« Travis schlug mit der Faust auf das Lenkrad. »Sag mir, dass sie das wert ist.«
Rory sah zu dem Haus hinüber, das hundertste Mal in dieser Nacht. »Sie ist es wert.«
Travis ächzte und setzte sich bequemer hin. »John Marella hat im Knast damit begonnen, mich zu erpressen. Er sagte, er wüsste, dass ich etwas mit dem Mord an Walt Chandler zu tun habe. Er wollte über die Green Army Zugang zu den Geschäften mit den Triaden erhalten. Offenbar ermittelt der MI5 in England parallel gegen unseren Waffenlieferanten, die Real IRA. Die wollen das Netz zuziehen.«
Rory horchte auf. »Die haben keine Beweise gegen dich«, sagte er. »Sonst hätten sie dich nicht freigelassen.«
»Weiß ich selbst«, knurrte Travis. »Aber dann kamen sie mit Mya und ihrem bescheuerten Vater um die Ecke. Marella meinte, er würde sie einbuchten und der Familia stecken, wer sie ist, damit die ihre Blutrache verüben können. Ich hatte keine andere Wahl.«
»Was hast du getan?«
»Ich habe ihnen von dem Deal mit der RIRA erzählt, dachte, ich komme damit durch und bekomme Mya frei. Marella hat so getan, als sei er zufrieden, meinte, Mya könnte das Land verlassen, aber dann ...«
»Er hat der Nuestra Familia gesteckt, wer Mya ist, um dich noch mehr zu erpressen und dir weitere Informationen zu entlocken«, mutmaßte Rory.
»So ist es. Er wusste, dass ich mehr weiß.« Travis sah aus, als müsste er sich beherrschen, um nicht laut loszubrüllen. »Dieses Arschloch hat mich gelinkt!«
»Er hat Myas Leben aufs Spiel gesetzt.« Rory ballte die Hände zu Fäusten.
»Er hat gepokert. Wäre ich nicht erschienen, um ihm einen neuen Deal vorzuschlagen, wäre Mya auf jeden Fall drauf gegangen. Wir vielleicht auch, wenn wir eigenhändig versucht hätten, sie zu retten.«
»Was soll das Handy?« Rory starrte das altmodische Modell an, als wäre es Sondermüll.
»Ist Bestandteil des Deals. Damit überwachen sie mich. Sie wissen, wo ich bin und ich muss mich alle vier Stunden melden. Wenn sie Wind davon bekommen, dass ich sie auffliegen lasse, zerreißen sie den Vertrag.«
»Und was steht da drin?«
»Dass sie Mya in Schutzhaft nehmen, bis sie im Flugzeug sitzt. Dass die Green Army aus dem RICO Fall herausgenommen wird. Und dass mein Name nicht preisgegeben wird. Dafür verrate ich ihnen Zeitpunkt und Ort der Waffenübergabe an die Triaden. Man wird die anwesenden Green Army Mitglieder festnehmen, aber das war’s. Der Club wird nicht zerschlagen. Die Bundesbehörden schnappen sich die Triaden und auf dem internationalen Weg den Händlerring der RIRA.«
»Scheiße.« Rory lockerte sein angespanntes Genick. »Wenn wir auffliegen, sind wir tot. Dem Club versiegt damit auf einen Schlag ein Großteil seiner Einnahmequellen. Das wird Cringe misstrauisch werden lassen. Wir sind nicht lange genug dabei, um uneingeschränktes Vertrauen zu genießen, und bei der Reichweite dieser Operation muss ihm klar sein, dass jemand aus seinen eigenen Kreisen geplaudert haben muss.«
»Ist mir bewusst.« Travis stützte den Ellbogen auf seinem Oberschenkel ab. »Das ist das Risiko, das ich eingehen musste. Mya oder wir. Wenn Cringe uns wirklich verdächtigt, dann sind wir nicht mehr zu retten. Dann gehen wir nicht durch das Gesetz unter, sondern durch die Hand eines Green Army Mitglieds.« Sie wechselten einen Blick miteinander. »Und jetzt sag mir nochmal, dass wir gerade das Richtige tun.«
Rory atmete tief durch. Er konnte sich nur vage vorstellen, was Mya durchgemacht hatte. Sie hatte nicht geahnt, was ihr bevorstand, als sie vor einer Woche hier eintraf. Noch nicht einmal er selbst hatte geahnt, was auf ihn zukam.
»Ich habe gerade meine Familie verloren«, sagte er ruhig. »Nach all dem, was ich gehört habe, blieb Lisa keine große Wahl. Mal abgesehen davon, dass sie schon immer ein Miststück war, hat ihr Cousin sie vermutlich gezwungen, mich zu verraten. Vielleicht wäre das ohne Mya nicht passiert. Vielleicht doch. In einigen Wochen. Wer weiß das schon? Ich war verdammt dumm zu glauben, dass ich Salas verarschen kann. Dass ich gegen die Familia gewinne. Niemand tut das. Weder das FBI noch die Green Army. Wir sollten hier verschwinden, Bro.«
Travis lachte leise. »Mya ist ziemlich gut darin, dir Scheiße in dein Hirn zu pflanzen«, erwiderte er. »Wo willst du denn hin?«
»Kanada.«
»Um dort glücklich zu werden bis ans Ende deiner Tage?«
Rory schluckte den aufkeimenden Zorn hinunter. »Vielleicht sollten wir sie mitnehmen.«
Travis sah ihn an, als sei er verrückt geworden.
»Was ist?«, verteidigte er sich automatisch. »Wir Drei gehören zusammen. Warum sonst sitzen wir hier und passen auf, damit die braunen Hurensöhne sie nicht ein weiteres Mal in die Finger bekommen?«
»Sie hat ein Leben, Mann!« Travis schüttelte aufgebracht den Kopf. »Willst du ihr das versauen? Sie hat es beinahe geschafft und nun kommst du mit deinen bescheuerten Ideen um die Ecke und nimmst ihr all das, was sie sich aufgebaut hat.« Er schnaubte. »Sie hat einen Freund.«
Die Neuigkeit gefiel Rory nicht. Er schluckte hart. »Was ist das für ein Typ?«
»Ich weiß es nicht!« Travis klang genervt. »Er ist nett, hat einen guten Job. Sie wohnen in den Hampstead Heights. Klingt nobel oder nicht?«
»Das hat sie dir erzählt?«
»Ja, und ich denke, dass sie ihn wirklich mag. Also versuch erst gar nicht, sie in irgendetwas hineinzuziehen. Was immer zwischen uns besteht, es muss hier und heute enden, Bro!«
Rory starrte erneut das Haus an. Er hatte keine Angst um sein Leben, sondern einzig um das von Mya. Die Vorstellung, dass sie in einigen Stunden zurückfliegen würde, machte ihn wahnsinnig. Er wollte sie nicht verlieren, nicht nach alldem, was zwischen ihnen geschehen war. Das mochte egoistisch sein, doch sie konnten die Sache mit den Triaden durchziehen und dann abhauen, nachdem sie aus der Haft entlassen wurden. Es war möglich. Sie mussten es nur versuchen.
»Hör auf, darüber nachzudenken!« Travis stieß ihn in die Seite. »Du bist der größte Schwachkopf, den ich kenne.«
Ein Blitz durchzuckte die Nacht. »Fuck!« Rory reagierte instinktiv. Neben ihm zückte Travis ebenfalls seine Waffe.
»Wär zu schön gewesen, wenn die Braunen sich ruhig verhalten hätten.«
Die Bundesbeamten im Sedan auf der anderen Straßenseite zogen die Köpfe ein, doch der Trupp der Norteños hatte sie bereits im Visier.
»Ich habe Marella gewarnt, verdammt!« Travis öffnete die Fahrertür und ließ sich hinausgleiten. Rory hörte das dumpfe Fauchen der Schalldämpfer. Sich mit einem Exekutionskommando der Mesa, den obersten Köpfen der Nuestra Familia, anzulegen, war als würde man versuchen, durch ein Minenfeld zu rennen. Man musste Glück haben, um das zu überleben. Rory öffnete ebenfalls seine Tür und duckte sich zwischen Auto und Hecke. Travis fand sich hinter ihm ein.
»Wie viele siehst du?«, fragte er.
»Zwei rechts und links vom Sedan. Scheiße!« Er sah Blut gegen die Windschutzscheibe spritzen. »Sie haben einen der Agenten ausgeschaltet.«
Weitere Schüsse, dieses Mal ungedämpft, hallten durch die Nacht.
»Der andere versucht sich zu wehren.« Rory sah, dass der Beamte durch die rückwärtige Scheibe seines Autos feuerte. »Wird ihm nicht helfen.« Wie um seine Worte zu untermauern, verstummten die Schüsse.
»Das war’s.« Travis fluchte und Rory nahm nun das Haus ins Visier, wo sich die Tür einen Spalt breit öffnete, bevor sie wieder von innen verriegelt wurde.
»Eine einzige Beamtin zum Schutz von Mya. Dieser Vize-Staatsanwalt ist ein echter Optimist«, knurrte er und beobachtete die dunklen Gestalten, die geduckt über die Straße rannten.
»Ich zähle sieben.« Travis schob sich an ihm vorbei. »Wir schießen erst, wenn sie nahe genug heran sind und wir sie sicher ausschalten können. Wenn die erst wissen, wo wir sind, dann war’s das auch für uns.«
Rory nickte. »Du hast gewusst, dass sie kommen, oder?«
»Hab’s geahnt. Marella ist ein Arschloch. Die Ermittlungen sind für ihn ein Karrieresprung. Wenn der RICO Fall durchgeht, dann steigt er garantiert auf. Außerdem hat er die vertraglich zugesicherten Maßnahmen getroffen. Für jemanden, der nicht gerade auf der roten Liste der Nuestra Familia steht, ist diese Schutzhaft ausreichend.«
»Nehme an, dass ihm niemand nachweisen kann, wie er an deine Unterschrift gekommen ist.« Rory verzog angewidert den Mund. »Den Kerl würde ich gerne tot sehen.«
»Der ist es nicht wert!« Travis bedeutete ihm, den Mund zu halten und Rory behielt das Haus im Blick.
»Die teilen sich auf«, flüsterte er und sah Travis das Handy zücken. Er verstand. Sein Kumpel versuchte, Hilfe anzufordern. Vielleicht trug die Nachricht vom Tod der beiden Beamten dazu bei, dass Verstärkung geschickt wurde. Er hörte das leise Gemurmel seines besten Freundes, dann bemerkte er dessen undurchdringliche Miene.
»Marellas Laufbursche gibt es weiter.« Er schnaubte. »Die Beamtin im Haus schlägt hoffentlich ebenfalls Alarm. Die hat sicher schon gecheckt, dass ihre Unterstützung vor dem Haus für immer außer Gefecht gesetzt wurde.«
»Wir können nicht länger warten!« Rory wurde nervös, als er zwei Norteños vor der Tür bemerkte. Mit zwei gezielten Schüssen knackten sie das Türschloss.
»Okay, wir teilen uns ebenfalls auf.« Travis trat den Rückzug an. »Ich pirsche mich von hinten an das Haus heran und du übernimmst die Vorderseite.«
»Alles klar.«
»Viel Glück, Bro!« Sie besiegelten ihr Vorhaben mir der Ghettofaust, bevor sich jeder von ihnen auf den Weg machte. Travis verschwand mit einem kaum hörbaren Rascheln im Gebüsch, während Rory erneut seine Glock checkte. Seine Nerven lagen blank, so viel stand fest. Es war bei Gott nicht das erste Mal, dass er sich einer gefährlichen Situation aussetzte, aber das erste Mal, dass es dabei um einen Menschen ging, der ihm mehr bedeutete als sein Leben. Dieser Gedanke setzte ihm zu. Obwohl er wusste, dass Travis recht hatte und es nur vernünftig war, dass Mya nach Hause flog, war ihm ebenso bewusst, dass es verdammt schwer werden würde, sie gehen zu lassen, wenn er sie erst einmal wieder in seinen Armen hielt.
»Ich bring euch um, ihr Scheißkerle!« Er stand auf, pirschte sich entlang der Büsche an das Haus heran und zielte auf die beiden Norteños. Der eine hob den Fuß, um die Tür einzutreten. In diesem Moment drückte Rory ab. Er traf ihn in den Hals und der Typ sackte zur sofort zu Boden, während sich sein Kumpel reflexartig duckte und Deckung suchte. Doch er hatte seine Rechnung ohne Rory gemacht. Sein zweiter Schuss saß ebenso präzise und pustete dem Norteño das Hirn weg. Der Kopf des Mexikaners wurde zurückgeschleudert und er fiel rückwärts von der Treppe. Rory sog fieberhaft Luft zwischen seinen Vorderzähnen ein und rannte über die offene Rasenfläche. Mit einem Kick stieß er den leblosen Körper des ersten Opfers zur Seite, stellte sich mit dem Rücken an die Hauswand und klopfte. Aus dem hinteren Teil des Gartens hörte er weitere Schüsse.
»Lassen Sie mich rein!«, zischte er. »Ich kann Ihnen helfen.«
Keine Reaktion. Er klopfte erneut, die Waffe erhoben, während sein Blick hektisch die Gegend absuchte. »Mein Name ist Rory Dawley. Ich bin ein Freund Ihrer Schutzbefohlenen.«
Dieses Mal rührte sich etwas. »Wer ist bei Ihnen?«, hörte er eine gedämpfte Stimme hinter der Tür.
»Mein Kumpel Travis McAlister. Wir kennen Mya von früher.«
Schweigen. Rory trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Die Schüsse hinter dem Haus nahmen zu. Er bemerkte Menschen an den Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Dies schien kein Viertel zu sein, in dem man wegsah. Das ließ ihn auf baldige Polizeiunterstützung hoffen. Die Tür sprang auf und er blickte in die Mündung einer Waffe. Automatisch hob er die Hände. »Sie sollten nicht lange nachdenken, Ma’am«, sagte er eindringlich. In diesem Moment traf eine Kugel die Holzverkleidung der Treppe. Splitter flogen umher und Travis rannte ums Hauseck.
»Rein da!« Er übersah bewusst die Waffe der Agentin und drängte alle in den Hausflur.
»Was soll das?« Die Frau in Uniform versetzte Rory einen gezielten Tritt in den Magen und er ging keuchend zu Boden. Travis knallte die Tür hinter ihnen zu.
»Hören Sie mir zu«, brüllte er die Agentin an. »Dort draußen sind ihre Feinde, okay?« Er sah sich um und Rory hob ebenfalls den Kopf, obwohl er kurzzeitig glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Dann sah er sie. Mya. Auf ihrem Gesicht lag blankes Entsetzen, bevor sie erkannte, wer vor ihr stand. »Exx!«
Sein Kumpel schlang die Arme um sie und Rory ergriff die Hand der Beamtin.
»Mein Name ist Kate Rosales«, murmelte sie und zog ihn auf die Beine. Es klang nicht nach einer Entschuldigung. »Wie viele sind dort draußen?«
»Ich habe zwei erledigt«, erwiderte er und ging zu Mya. Sie ließ Exx los und umarmte nun ihn. Für einige Sekunden erlaubte er sich das befreiende Gefühl, sie gesund bei sich zu wissen.
»Ich habe drei erwischt. Dann sind es noch zwei. Aber ich habe den Eindruck, dass es noch mehr sind. Haben Sie Verstärkung angefordert?« Travis überprüfte die Fenster. »Gibt es eine Möglichkeit, nach draußen zu sehen? Wir sitzen hier ja wie die Kaninchen in der Falle.«
»Ich habe Verstärkung angefordert.« Kate Rosales musterte sie noch immer misstrauisch. »Und die Fenster bleiben zu! Das ist Vorschrift.«
»Geht’s dir gut?« Rory beugte sich zu Mya hinunter und gab ihr einen Kuss auf den Haaransatz.
»Ja.« Ihre Stimme klang wie die einer Maus. Ihr Gesicht sah übel aus.
»Sind das Schnittwunden?«
Sie nickte und er presste seine Lippen aufeinander. Dafür würden diese Schweine büßen!
»Die werden versuchen, irgendwie hereinzukommen.« Travis lief den Gang hinunter. »Haben Sie noch weitere Schusswaffen?«
Kate Rosales zögerte und Rory hob eine Augenbraue. »Sagen Sie mir nicht, die lassen Sie sich einzig mit Ihrer SIG Sauer verteidigen. Den Agenten des ICE hätte ich mehr Feuerkraft zugetraut.«
Sie deutete mit dem Kinn in Richtung Küche. »Im Schrank neben dem Kühlschrank steht noch eine Remington.«
»Ich bin beeindruckt«, erwiderte Rory sarkastisch. »Das hilft uns enorm weiter.«
»Wer sind diese Angreifer?« Die Agentin schien noch immer unsicher zu sein, ob sie den Eindringlingen vertrauen konnte. Sie senkte ihre Waffe nur langsam.
»Nuestra Familia. Das hätten Sie sich nach dem Eingreifen des Einsatzteams doch denken können.«
Ihre Augen weiteten sich kurzzeitig und Rory wurde bewusst, dass man sie nicht ausreichend informiert hatte.
»Die Mesa verlangt nach Blutrache. Sind Sie mit derartigen Vorfällen vertraut?«
»Das bin ich.« Sie warf sich zur Seite, weil ein Schuss die Tür durchschlug.
Rory stellte sich schützend vor Mya und drängte sie zurück. Es folgten weitere Schüsse und Kate Rosales gab ihnen zu verstehen, sich in die hinteren Räume zurückzuziehen.
»Lassen Sie mich raten«, rief Rory gegen das Geballer an, »normalerweise stellt man Sie dann nicht alleine zum Personenschutz ab.«
»Nein, verdammt!« Kate Rosales rollte sich auf den Rücken und schoss ein ganzes Magazin auf die Tür. Blitzschnell ließ sie das leere hinausfallen und legte ein neues nach. Rory begann die Frau sympathisch zu werden.
»Wir müssen hier raus«, flüsterte ihm Travis zu. Sie nahmen Mya automatisch in ihre Mitte. »Wenn wir hierbleiben, ist das unser Todesurteil.«
»Sehe ich auch so.« Er sah Mya an. »Kennst du dich hier aus?«
Sie nickte zögerlich. »Dort hinten ist das Bad. Dort gibt es ein kleines Fenster, aber es ist ebenso verschlossen.«
»Dann sollten wir’s übers Dach versuchen.« Travis rannte voraus und Rory warf Kate Rosales einen Blick zu.
»Kommen Sie zurecht?«
Die Agentin nickte, doch ihr verbissener Gesichtsausdruck sprach eine andere Sprache. »Bringen Sie sie aus dem Schussfeld!«, rief sie. Das ließ sich Rory nicht zweimal sagen. Er nahm Myas Hand und zog sie mit sich. Der Beschuss nahm zu.
»Was ist mit den Beamten vor dem Haus?« Sie sah ihn an, doch er schüttelte den Kopf und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er drängte sie voran.
»Halte dich dicht hinter Travis«, forderte er sie auf. Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Erst mussten sie dieser Hölle entkommen, dann konnte sie sich gehenlassen. »Los, mach schon!« Energisch schob er sie in Richtung der ausziehbaren Leiter, die Travis gerade herunterholte.
»Die werden mich foltern«, wimmerte Mya und Rory griff sie bei den Schultern.
»Sieh mich an«, brüllte er. Sie blinzelte erschrocken. »Wir bringen dich hier raus, ist das klar? Du musst jetzt stark sein. Lass uns dir helfen.«
»Kommt schnell!« Travis erklomm die Leiter. Im Eingangsbereich nahm der Kugelhagel zu. Rory hörte Kate Rosales aufschreien.
Ohne zu zögern hob er Mya hoch, half ihr dabei, Halt auf der Leiter zu finden, und folgte ihr eilig. Spanische Worte hallten über den Flur.
»Sie kommen, Bro«, informierte Rory seinen Bruder, wohl wissend, dass der Dachboden auch ihr sicheres Grab sein könnte, wenn sie keinen Weg hinaus fanden.
»Hilf mir!« Travis stemmte sich gegen ein schräges Dachfenster. »Es ist klein, aber uns bleibt keine andere Wahl.«
Rory ging zu ihm. Er zerschoss die Sicherheitsverriegelung des Fensters und öffnete den Rollladen. Travis zerschlug das Glas mit dem Ellbogen. »Raus hier!«
Rory drehte sich zu Mya um. Das schwache Licht der Straßenlaternen erhellte ihr zerschundenes Gesicht. Verstört sah sie durch die Öffnung im Dachboden. »Die werden mich foltern«, wiederholte sie.
Rory ging zu ihr, bückte sich, um die Schlaufe der Leiter zu erreichen und riss sie nach oben. Die Leiter klappte sich ein und der Mechanismus schloss sich klickend. Er stand wieder auf. »Das werde ich nicht zulassen!«, sagte er und bugsierte sie zum Fenster. Er und Travis wechselten einen Blick. Mya war traumatisierter als erwartet und das machte die Sache nicht einfacher.
»Die werden schnell feststellen, wo wir uns befinden«, sagte Travis und zwängte sich mit dem Kopf voraus aus dem Fenster. Dann streckte er die Hände hinein, um Mya zu helfen. Wie eine wehrlose Puppe ließ sie sich emporziehen. Rory behielt die Leiter im Auge, bevor auch er auf das Dach entschwand. Die Bitumenschindeln knirschten unter seinen Sohlen. Sie legten sich hin und und sondierten die Lage.
»Ich sehe drei direkt unter mir«, flüsterte Travis.
»Die meisten sind inzwischen vermutlich im Haus.« Rory robbte zur straßenabgewandten Seite des Daches. »Hier hinten ist die Luft rein.« Mehrere Polizeisirenen begannen in der Ferne zu heulen. »Die Jungs sind spät dran. Was meinst du? Sollen wir warten?«
Travis schüttelte den Kopf. »Negativ. Wer weiß, was dann noch passiert.«
»Alles klar, Bro, dann lass uns abhauen.« Rory beobachtete die Umgebung erneut, dann schwang er die Beine vom Dach, ließ sich von der Regenrinne baumeln und sprang zu Boden. Im Haus hörte er Schüsse und wedelte mit den Armen. »Los!«
Mya wehrte sich. Sie wimmerte, doch Travis war erbarmungslos. Er schubste sie und Rory gelang es gerade noch, sie aufzufangen. Aufgelöst klammerte sie sich an ihn.
»Ist okay.« Er löste vorsichtig ihre Arme und beobachtete, wie Travis neben ihm landete. »Fertig?«
Sie erhoben ihre Waffen und nahmen Mya erneut in ihre Mitte.
»Zum Auto?« Rory kniff die Augen zusammen, um sich besser orientieren zu können.
Travis überlegte kurz. »Ja, lass uns nachsehen, ob sie den Firebird entdeckt haben.«
Geduckt schlichen sie in den angrenzenden Garten, passierten die Hecken und blieben stehen, um auf die Straße zu spähen.
»Sieht gut aus.« Travis gab Rory ein Zeichen. »Ihr bleibt hier. Ich lasse den Motor an und rolle ganz langsam rückwärts bis zu euch. Ihr steigt über die Beifahrertür ein, okay?«
»Alles klar.« Rory legte seinen Arm um Mya und zwang sie, unten zu bleiben. Ihr Atem ging schnell, sie zitterte. Beruhigend strich er ihr über die Schulter. »Keine Angst, Kätzchen.«
Sie lehnte den Kopf gegen ihn und er realisierte, dass dies der Punkt in seinem Leben war, an dem er endgültig wusste, wer ihm wichtig war und wen er nie wieder verlieren wollte. Er drückte sie an sich, bevor ihn eine Bewegung in seinen Augenwinkeln aufschrecken ließ.
»Scheiße!« Travis hatte das Auto beinahe erreicht, als er plötzlich stehenblieb. Zwei Norteños stürmten auf die Straße. Spanische Wortfetzen flogen, bevor sie bei seinem Anblick kopflos zu schießen begannen. Travis zog den Kopf ein und Rory drückte Mya in die schützende Hecke. Nachdem die Schüsse kurzzeitig aufhörten, lugte er um die Ecke. Anscheinend war es Travis gelungen, ins Auto zu springen, doch die Mexikaner eröffneten erneut das Feuer auf ihn. Die Rückfahrleuchten des Firebird sprangen an und das Auto schoss mit quietschenden Reifen rückwärts. Ehe sich Rory versah, kam es neben ihm zum Stehen. Instinktiv riss er die Beifahrertür auf. Kugeln pfiffen an ihm vorbei. Er schob Mya ins Innere und Travis gab bereits wieder Gas, bevor er einsteigen konnte. Er verlor beinahe das Gleichgewicht, doch dann gelang es ihm, auf den Sitz zu hechten.
»Runter!« Travis drückte Myas Kopf nach unten, die fieberhaft versuchte, auf den Rücksitz zu krabbeln. Rory duckte sich ebenfalls. Durch die aggressive Beschleunigung des Autos wurde er nach vorne geworfen und schlug sich heftig die Stirn. Wieder quietschten die Reifen, dieses Mal, weil Travis das Lenkrad herumriss und den Wagen um seine eigene Achse driften ließ. Dann stieß er den Vorwärtsgang rein und gab Vollgas. Rory registrierte, dass die Scheibe neben ihm in tausend Stücke zersprang. Reflexartig hielt er die Waffe hinaus und ballerte blind drauflos. Der Firebird beschleunigte mit einem Aufheulen des Motors und sie rasten davon. Nach einigen Sekunden kam Rory aus seiner Deckung. Er sah zu Mya, die es mittlerweile geschafft hatte, auf den Rücksitz zu gelangen.
»Alles okay mit dir?« Er sah sie nicken und fixierte Travis. Der hielt sich die Seite. »Was ist, Bro? Bist du getroffen worden?«
»Streifschuss, denke ich«, stöhnte er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Im Rückspiegel erkannte Rory das unstete Blinken von Blaulichtern. »Verfolgen sie uns?«
Travis schüttelte den Kopf. »Die halten vor dem Haus.« Er schoss in hohem Tempo um eine Kurve und raste in Richtung des Highway 101. Außer Sichtweite der Streifenwagen schaltete er das Licht an.
Rory sah sich um. Die Front- und die Seitenscheibe waren zerschossen worden, in der Kühlerhaube prangten Löcher. »Zum Glück fährt das Baby noch«, sagte er. »Wenn Cringe den zu Gesicht bekommt, wird er uns lynchen.«
Travis sah ihn an und hob eine Augenbraue. »Die Braunen haben uns gesehen, Bro. Wir sind tot. So oder so.«