M
ya starrte auf den Fernseher. Es lief eine Nachmittagsserie, doch sie nahm nichts davon wahr. Seit zwei Tagen saß sie in dem Motelzimmer und wartete. Die Unruhe in ihrem Inneren nahm zu. Exx hatte gesagt, dass die Polizei sie vermutlich innerhalb von 24 Stunden freiließ, aber bisher hatte sie nichts von ihren Freunden gehört. Sie hatte kein Handy, kein Geld und keinen Ausweis. Das Essen, das Rap ihr gekauft hatte, war zum Großteil aufgebraucht. Sie saß an diesem schäbigen Ort fest und drehte langsam durch.
Im Fernsehen war über einen Einsatz der Polizei- und Zollbehörde des Ministeriums für innere Sicherheit, kurz ICE, berichtet worden. Man hatte einige Mitglieder des berüchtigten OMC Green Army geschnappt. Die Medien spekulierten über einen Waffenhandel mit den Triaden, aber niemand wusste etwas genaues. Die Polizei in Salinas war weiterhin in Alarmbereitschaft und beruhigte die Bürger, dass sie alles unter Kontrolle hatten. Des Weiteren meldeten sich die lokalen Politiker zu Wort, die sich betroffen zeigten, dass neben den genannten Gangs auch die Nuestra Familia wieder an Stärke gewann. Sie forderten von den zuständigen Behörden, dass den
Bandenkriegen endlich ein Ende bereitet werden musste, um die Einwohner von Salinas zu schützen und der Region ihren guten Ruf wiederzugeben.
Mya kaute an ihren Fingernägeln. Was geschah mit ihr, wenn Rap und Exx nicht zurückkamen? Sie wollte nicht daran denken, dass ihnen etwas zugestoßen war, denn in den Nachrichten war nicht von Opfern während den Verhaftungen die Rede gewesen. Dennoch bereitete es ihr Unbehagen, dass ihre Freunde sie so lange hängen ließen. Das war nicht ihre Art. Irgendetwas war geschehen und die Ungewissheit darüber verursachte ihr Bauchschmerzen. Wieder einmal sprang sie auf und sah nach draußen. Die Autos auf dem Parkplatz vor ihrem Fenster standen noch genauso da wie eine Stunde zuvor und auf der angrenzenden Straße floss der übliche Verkehr. Es wurde Abend. Sie stöhnte. Noch eine Nacht in diesem Zimmer würde sie nicht ertragen. Ständig wachte sie auf, lauschte auf Geräusche und sah Paqui vor sich, der sie foltern wollte. Sie wurde noch verrückt, wenn das so weiterging!
Mya lief auf und ab. Seit dem Morgen schwankte ihre Stimmung beständig zwischen Panik, Hoffnung und Verzweiflung. Sie überlegte, wie lange sie noch warten sollte. Wen sie am besten verständigte, wenn sie sich entschloss, nicht weiter hier herumzusitzen. Auf wen konnte sie zählen? Seit Rap ihr erzählt hatte, dass dieser stellvertretende Staatsanwalt sie wie einen Köder benutzt hatte, um an Informationen zu dem Waffendeal zu gelangen, war ihr Vertrauen in das Rechtswesen erschüttert. Aber um ausreisen zu können, brauchte sie ihren Pass. Sie brauchte ihre Kreditkarten und wollte ihr Handy zurückhaben. Doch all diese Dinge hatte sie zuletzt im Safe House gesehen. Sie fuhr sich hilflos durch die Haare. Ihre Situation erschien aussichtslos. Ohne die Hilfe von Rap und Exx war sie aufgeschmissen. Am liebsten hätte sie geweint, aber sie wusste, dass ihr das auch nicht mehr weiterhalf.
Sie sank zurück aufs Bett. Im Fernseher dudelte die Schlussmelodie der Serie, es folgte ein Werbeblock. Mya wünschte sich, das makellose Model der Zahnpasta-Werbung zu sein, für das es nichts anderes gab als strahlendweiße Zähne. Sie summte den eingängigen Jingle mit, als sie plötzlich das Knattern eines Motorrads hörte. Augenblicklich schoss sie senkrecht in die Höhe und stellte sich ans Fenster. Exx! Erleichterung durchflutete sie und sie riss die Tür auf.
Er fuhr ein altes Motorrad mit Beiwagen und parkte es in einiger Entfernung. Dann stieg er ab, nahm einen Rucksack aus dem Seitenwagen und näherte sich. Mya bemühte sich, ihm nicht entgegenzurennen.
»Hey, ist das der Schrotthaufen, den ihr in eurer Hütte zusammengeschraubt habt?«, rief sie ihm entgegen. »Ich wusste gar nicht, dass der noch existiert.« In dem Moment bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck. Er kam näher, fixierte sie, als ob er ihr etwas antun wollte. Ehe sie reagieren konnte, packte er sie am Arm und stieß sie zurück ins Zimmer. Dann knallte er die Tür hinter ihnen zu, legte das Schloss vor und riss die Vorhänge mit einem Ruck vors Fenster. Anschließend zog er seinen Jethelm vom Kopf und warf ihn auf den Tisch neben dem Bett.
»Ich bin so froh, dass ihr wieder da seid!« Mya fühlte sich befreit. Die Anspannung der letzten Tage fiel von ihr ab. »Wo wart ihr denn?«
»Ich bin gekommen, um dich nach Los Angeles zu bringen.« Exx klang wie ein Roboter und hielt ihr den Rucksack hin. »Das sind deine persönlichen Sachen.«
»Wo ist mein Koffer?« Mya nahm den Rucksack an sich und lugte hinein.
Exx zuckte mit den Schultern. »Das muss reichen.«
»Was ist passiert? Ist alles okay?«
Er drehte sich von ihr weg. »Wir sollten so bald wie möglich aufbrechen.«
Mya spürte ein eigenartiges Ziehen in ihrem Magen. »Wo ist Rap? Ist er mit dem Auto gefahren?«
»Er ist tot.«
Der Satz hing in der Luft und es war, als nähme er Gestalt an. Er legte seine Hände um Myas Hals und würgte sie, doch sie wehrte sich. Ungläubig lachte sie auf. »Lass den Scheiß, Exx! Ich habe die Nachrichten geschaut. Da war nicht von Opfern die Rede. Es ging unblutig zu Ende, hieß es.«
Er reagierte nicht.
»Warum machst du mir Angst?« Sie warf den Rucksack achtlos aufs Bett und trat zu ihm. »Sag mir, wo er ist.«
Exx bewegte sich nicht. Er stand nur still da, drehte ihr den Rücken zu, hielt den Kopf gesenkt. Das Ziehen in ihrem Magen nahm zu, ebenso wie der Druck in ihrem Hals. »Das ist nicht wahr«, flüsterte sie und wiederholte es dann lauter: »Das ist nicht wahr! Sag mir, dass das nicht wahr ist!«
Noch immer war Exx keine Reaktion zu entlocken und Mya begann mit den Fäusten auf seinen Rücken einzuschlagen. »Rap ist nicht tot!«, schrie sie dabei. »Er ist nicht tot!«
Ehe sie sich versah, drehte sich Exx um und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Myas Mund klappte zu. Fassungslos starrte sie ihren Freund an, hielt sich die Wange.
»Er ist tot«, wiederholte er. Seine Stimme war so schneidend wie ein Messer. »Der Triaden Boss hat ihn aufgeschlitzt und ihm anschließend eine Kugel in den Kopf gejagt. Er ist so tot, wie man nur sein kann, wenn einem das Hirn wegspritzt und die Eingeweide rausquellen. Es hat ihn nur niemand gefunden.«
»Tot«, stammelte sie verstört und spürte, wie sich der Druck in ihrem Hals löste und den Weg für bittere Tränen freimachte. »Tot!«
»Hör auf damit!« Exx packte sie an den Haaren und hielt sein Gesicht dicht vor das ihre. »Ich schwöre, ich prügel dich windelweich, wenn du das ständig wiederholst oder anfängst,
hier rumzuflennen.« Der Ausdruck in seinen Augen war so grausam, wie Mya ihn noch nie bei ihrem Freund gesehen hatte. Zum ersten Mal hatte sie Angst vor ihm. Mit aller Gewalt drängte sie die Tränen zurück. »Ich habe verstanden«, flüsterte sie und war erleichtert, dass er sie losließ.
»Wir fahren jetzt«, sagte er rau. »Pack alles ein, was du brauchst.«
Mya sah sich unschlüssig um. Die Nachricht lähmte sie, sie konnte an nichts anderes mehr denken. Das Wort Tot
hallte wie ein Echo durch ihren Kopf. Sie sah das Bett an, dachte an den Sex zurück, den sie dort vor einigen Tagen mit ihren Freunden gehabt hatte, spürte Raps Küsse, seine Hände. Die Erinnerung ließ sie straucheln. Sie bemühte sich, nicht zusammenzubrechen. Ein Laut entrang sich ihrer Kehle, der wie der Schrei eines Tieres im Todeskampf klang. Rasch legte sie sich die Hand vor den Mund, doch Exx befand sich bereits wieder in seiner starren Haltung. Mit zitternden Fingern durchwühlte sie den Rucksack, fand ihren Pass, ihren Geldbeutel mit den Kreditkarten und ihr Handy. Es hatte sich vollständig entladen. Mya zog eine Sweatjacke hervor und streifte sie sich über. Dann packte sie den Rest der Dinge ein, die Rap für sie gekauft hatte, bevor er und Exx aufgebrochen waren. Wasserflaschen, Obst, Cracker, Zimtbrötchen und Twizzlers wanderten in den Rucksack. Mya ging ins Bad, holte dort Zahnbürste und Zahnpasta sowie das Shampoo mit dem Apfelduft, das Rap für sie ausgewählt hatte.
»Wie lange sind wir unterwegs?«, fragte sie, um irgendetwas zu sagen, das sie von dem Schmerz in ihrem Inneren ablenkte.
»Wir fahren nicht auf dem Highway, nehmen kleinere Routen und halten uns an die Touristenstädte, damit wir nicht so auffallen. Vielleicht zwei Tage.«
»Dein Motorrad wird auffallen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ohne Kutte bin ich einfach nur ein Kerl, der mit seinem Oldtimer durch Kalifornien cruist.«
»Die Nummernschilder?«
Er sah auf, als wunderte es ihn, dass sie ihm diese Frage stellte. »Sind von meinem alten Bike. Aber glaub mir, niemand wird uns kontrollieren. Nicht einmal die bescheuerten Mexikaner wollten sie mitnehmen. Sie stand unberührt in Raps Garage. Niemand kennt die Knucklehead.«
Aber Mya kannte sie. Und sie wusste, dass der Oldtimer einst der Schatz von Rap und Exx gewesen war. Krampfhaft unterdrückte sie die Erinnerungen.
»Lass uns fahren«, sagte sie und schulterte den Rucksack. Exx sperrte die Tür auf und trat hinaus, während Mya das Licht löschte. Noch einmal sah sie sich in dem Zimmer um, das die letzten Tage ihr Gefängnis gewesen war. Sie hatte es verlassen wollen, doch nun fürchtete sie sich davor.
»Komm endlich«, knurrte Exx ungeduldig.
Sie folgte ihm hinaus und atmete tief durch. Ich hätte niemals zurückkommen dürfen, schoss es ihr durch den Kopf, vermutlich würde Rap dann noch leben.
Angespannt beobachtete sie, wie Exx zur Rezeption ging. Kurze Zeit später kam er wieder hinaus, nahm einen weiteren Helm, der wie eine halbe Walnuss aussah, vom Lenker, reichte ihn ihr und startete die Maschine.
»Setz dich hinter mich«, forderte er sie auf. »In dem Beiwagen liegt Rorys Zelt.«
Mya setzte den Helm auf und schwang sich hinter ihn auf den kurzen Sitz. Sie musste sich eng an ihn drücken, um überhaupt Platz zu finden. Ihre Hände zitterten, ihr gesamter Körper vibrierte im Einklang mit der startenden Maschine. Außerhalb von Exx’ Wahrnehmung erlaubte sie sich ein Schluchzen. Es ging im knatternden Motorengeräusch unter. Sie rollten auf die Straße, fuhren in Richtung Süden. Mya barg den Kopf an Exx’ Schulter.
Nach knapp zwei
Stunden bog Exx vom Highway 1 ab und fuhr auf einen Feldweg, der mit einem Schlagbaum abgesperrt war. Feuerwehrzufahrt des Limekiln Nationalparks
prangte in großen Buchstaben auf dem Schild. Er umfuhr die Absperrung, rumpelte mit dem Motorrad durch einige Schlaglöcher und nahm dann eine Abzweigung, um parallel zum Highway tiefer in den Wald zu fahren. Der Weg führte bergauf und irgendwann konnte Mya zwischen den Bäumen die Küstenlinie von Big Sur erkennen. Im letzten Licht des Abends leuchteten die Berge rot, Himmel und Ozean tiefblau. Mya schluckte Tränen hinunter und sammelte sich, als Exx schließlich auf einer Anhöhe anhielt und den Motor abstellte.
Mya stieg ab, schüttelte ihre verkrampften Beine aus und setzte den Helm ab. »Wir übernachten hier?«
Exx nickte und machte sich wortlos daran, das Zelt aufzustellen. Mya sah ihm dabei zu und vermied es, ihm weitere Fragen zu stellen. Sie fürchtete, dass die Ranger des Nationalparks sie womöglich finden könnten, denn Zelten war nur auf den ausgewiesenen Plätzen erlaubt, aber Exx schien das nicht zu stören. Nachdem er fertig war, setzte er sich vor das Zelt, starrte auf den immer finster werdenden Horizont und schwieg. Mya fröstelte. Sie holte ihren Rucksack, wühlte darin herum und zog sich einen weiteren Pullover über. Dann setzte sie sich neben Exx.
»Möchtest du etwas essen?« Sie hielt ihm einen Cracker hin.
Er brummte verneinend und verfiel wieder in Schweigen. Mya lauschte auf das entfernte Meer. Der Wind trug ihr das Rauschen der Brandung und das Schreien der Möwen zu, die auf der Suche nach Felsen waren, um dort die Nacht zu verbringen.
»Rede mit mir«, flüsterte sie nach einer Weile in die unerträgliche Stille hinein. »Ich werde nicht weinen, aber erzähl mir, was passiert ist.«
Sie hatte erwartet, dass Exx wieder ausrasten würde und spannte automatisch ihre Muskeln an, aber er tat es nicht.
»Ich konnte es nicht verhindern«, hörte sie seine raue Stimme. »Es ging so verdammt schnell.«
Sie rutschte näher an ihn heran, spürte seine Wärme und die Verzweiflung, die er mit Wut und Aggression zu überdecken versuchte. Mürrisch schob er sie von sich, aber Mya gab nicht nach. Schließlich ließ er ihre Nähe zu.
»Billy, der Triaden Boss, wusste Bescheid. Er wusste, dass Paqui dich entführt hatte, er kannte sogar deinen Namen. Und er wusste, dass Rory vor einigen Tagen nachts bei dir im Motel war, und dass du vom ICE gerettet wurdest. All das brachte ihn zu der Annahme, dass Rory einen Deal mit den Behörden gemacht haben muss. Vermutlich wusste Billy sogar, dass der Deal verraten wurde. Oder er hat gepokert. Auf jeden Fall war er sich sicher. So sicher, dass er Rory einfach abgeschlachtet hat.« Exx brach ab. Mya tastete nach seiner Hand, doch er stieß sie weg.
»Woher hatte er die Informationen?«, fragte sie.
»Diese Typen haben überall ihre Informanten. Doch sie haben das Wissen falsch zusammengesetzt. Es hätte mich treffen sollen, verflucht! Rory hätte einfach nur sein vorlautes Maul halten müssen. Aber er hat alles auf sich genommen, um mich zu schützen ...« Seine Faust bohrte sich in den sandigen Boden. Mya ergriff sie und hielt sie fest. Er schnaubte, versuchte sich zu befreien. »Hör auf damit!«, zischte er. »Ich kann das jetzt nicht ertragen.«
Mya ließ nicht locker. »Es ist meine Schuld«, sagte sie gepresst und war froh, es endlich aussprechen zu können. »Nur wegen mir ist er nun tot.«
Seine Faust öffnete sich, umklammerte ihre Hand. Es tat weh, doch Mya presste die Zähne zusammen. Erneut saßen sie schweigsam nebeneinander und krallten ihre Finger mit Gewalt ineinander.
»Das Schwein hat ihn aufgeschlitzt. Ich schwöre, Mya, es ging zu schnell.« Exx’ heftiges Atmen übertönte den Wind. »Er hat ihn neben unserer Hütte hingerichtet.«
Myas Lippen bebten. Die Bilder in ihrem Kopf ließen sie schaudern. Sie stellte sich die Schmerzen vor, die Rap gehabt haben musste. Ob er gewusst hatte, dass er dort sterben würde? Sie hämmerte mit ihren freien Hand gegen ihren Kopf, um die furchtbaren Gedanken zu vertreiben. Doch sie quälten sie, wurden in der zunehmenden Dunkelheit zu furchterregenden Gespenstern.
»Als die Polizei von allen Seiten auf unsere Hütte zukam, sind alle geflohen. Aber ich habe ihn nicht alleine lassen können. Ich habe ihn zu den Schächten der Schwarzbrenner gezerrt und blieb dort mit ihm, bis alles vorüber war.«
»Du bist bei ihm geblieben?« Mya bekam Gänsehaut. »Wie lange warst du dort?«
»Die ganze Nacht. Bis zum nächsten Morgen. Ich konnte einfach nicht weg.«
»Und sie haben dich nicht gefunden?«
»Nein. Die Beamten waren hinter den flüchtenden Green Army Jungs und den Triaden her. War eine wilde Verfolgungsjagd. Nur ein Team kam zur Hütte. Sie haben die Kiste mit Waffen sichergestellt und sind dann wieder abgezogen. Die nutzt ihnen wenig, wenn sie nichts anderes in den Händen haben.«
»Was ist mit Rap?« Ihr versagte beinahe die Stimme.
»Ich habe ihn bei unserer Hütte begraben.«
»Aber ...« Mya zögerte. »Hättest du das nicht melden müssen?«
»Weshalb?«, fuhr er sie an. »Damit er ein anständiges Grab bekommt, seine Frau und seine Kinder um ihn weinen können und die Nuestra Familia drauf spuckt? O nein, ich liefere meinen Bruder ganz sicher nicht aus. Er liegt dort, wo er hingehört. Vermutlich wird er eines Tages gefunden. Aber dann ist es mir längst gleichgültig.«
»Wie meinst du das?«
Der Druck seiner Hand verstärkte sich und sie glaubte, ihre Finger würden brechen.
»Was ist mit Marella? Und mit eurem Abkommen?«, hakte sie nach, ignorierte den Schmerz.
»Es gibt ein neues Abkommen.«
»Wie sieht das aus?«
»Das ist unwichtig.« Er wandte ihr den Kopf zu und sah sie an. Im Dunklen erkannte sie seine Augen kaum. Sachte legte sie eine Hand an seine bärtige Wange.
»Ich vermisse ihn«, murmelte sie. »Und ich kann mir nur vage vorstellen, wie du dich fühlst.«
»Hör auf, Mya.« Ruppig entzog er sich ihr, ließ ihre Hand los und wollte aufspringen. Sie hielt ihn zurück und seine Gegenwehr erfolgte nur halbherzig. Er wirkte erschöpft, so als hätte er seit Raps Tod nicht mehr geschlafen. Vermutlich hatte er das auch nicht.
»Ich bin nicht wie er«, murrte Exx. »Ich will das alles nicht.«
Mya zog ihn bestimmt zu sich heran und spürte, dass er nachgab. Er presste seine heiße Stirn an ihre Halsbeuge. Sachte legte sie ihr Kinn auf seinem Kopf ab und fühlte seine Arme, die er um ihre Hüften schlang. Sie atmete aus, drängte die Tränen nicht länger zurück. Lautlos flossen sie über ihr Gesicht und versickerten in Exx’ Haaren. Das Kleeblatt war auseinandergerissen worden und das schmerzte Mya dermaßen, dass sie aufstöhnte.
»Er wollte dich nicht gehen lassen«, sagte Exx in diesem Moment. »Er hat davon geträumt, dass wir in Kanada neu anfangen. Nur wir Drei.«
Mya biss sich heftig auf die Unterlippe, um in ihrem Zustand nicht zu überreagieren. Was für ein schöner Traum, schoss es ihr durch den Kopf. Aber eben nicht mehr als das.
»Ich hätte euch gehen lassen sollen.« Exx’ Worte machten es nicht besser.
»Hör auf!«, entfuhr es ihr heftig. Sie bekam durch ihre verstopfte Nase kaum noch Luft. »Du hast selbst gesagt, dass es mit uns nicht funktioniert hätte.«
»Das hätte es auch nicht.« Er sah auf und hob eine Hand, um ihr mit dem Daumen die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. »Ich hätte es versaut. So gründlich wie den Waffendeal.«
»Wir hätten es alle versaut«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Unsere Erwartungen aneinander waren zu unterschiedlich.«
Der Wind vermischte sich mit seinem Atem auf ihrem Gesicht. »Er hat dich geliebt.« Erneut peitschte er ihr die Wahrheit um die Ohren. Sie bohrte sich direkt in ihr Herz.
Mya schüttelte den Kopf. Sie glaubte, ihre Trauer nicht länger zu ertragen.
»Als du vor zehn Jahren gegangen bist, ist er durchgedreht. Er hat einen Mann auf der Straße zusammengeschlagen. Hat ihn übel zugerichtet. Der Richter hat ihn trotz seiner Vorstrafen glimpflich verurteilt, aber die fünf Jahre Gefängnis haben Rory zugesetzt. Die Insassen haben ihn geschlagen, misshandelt, gedemütigt. Als er wieder rauskam, war er gebrochen, auch wenn er sich das niemals hat anmerken lassen.«
»Warum tust du das?«, brach es aus Mya heraus. »Warum erzählst du mir das jetzt alles?«
»Weil du verdammt nochmal leiden sollst!« Exx presste seine Stirn gegen die ihre. »Du sollst wissen, was er für ein
Mensch war. Was er für dich ertragen hat und für mich. Wir beide sind für seinen Tod verantwortlich.«
Mya schluchzte auf. Die Wahrheit brannte sich in ihr Bewusstsein und sie war schlimmer als die Erkenntnis, dass sie Mitschuld an Walts Ermordung trug. Sie dachte, Exx würde sie nun schlagen, würde ihr befehlen, mit der Heulerei aufzuhören. Sie war bereit dafür. Tief in ihrem Inneren sehnte sie sich nach körperlichen Schmerzen, um die seelischen zu vergessen. Doch er tat es nicht. Schwer atmend lehnte er an ihr, seine Hände gruben sich in ihre Haare.
»Er hat alles auf sich genommen«, presste er hervor. »Er hat alle meine Taten gestanden und Billy Chen hat ihm dafür in den Kopf geschossen.«
»Ich will das nicht hören«, wimmerte Mya und schlug um sich, um sich von Exx und seinen Worten zu befreien. Doch er zog sie mit sich und sie fielen auf die Schlafsäcke im Zelt.
»Rory ging gerne zum Campen«, hörte sie seine heimtückische Stimme an ihrem Ohr. »Er hat gesagt, die Natur sei heilsam. Ich hätte ihn gehen lassen sollen, ebenso wie du.«
»Das habe ich! Ich habe euch beide verlassen!« Sie schrie es heraus, weil sie ihm nicht entkommen konnte. Er lag auf ihr, bezwang sie mit seinem Körper.
»Du bist zurückgekommen und hast eine verdammte Lawine ausgelöst, Mya. Das werde ich dir niemals verzeihen!«
»Und ich werde dir niemals verzeihen, dass du ihn in diese ganze Scheiße hineingezogen hast! Mit dem Motorradclub fing alles erst an. Ihr hättet einen anderen Weg finden können.«
»Ich musste ihn in dem verfluchten Knast Schutz verschaffen!«
Mya wand sich unter ihm, aber Exx hielt sie fest. Schließlich gab sie auf und wisperte: »Es ist gleichgültig. Er ist tot.«
»Er ist tot«, wiederholte Exx und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Rory ist tot.«
Ihre Lippen fanden sich, ruhten aufeinander. Mya atmete seinen Atem, fühlte seinen Schmerz wie ihren eigenen. Sie wehrte sich nicht länger und schlang die Arme um ihn, um Trost zu finden bei dem einzigen Menschen, der ihren Kummer verstand. Vorsichtig öffnete sie ihre Lippen und durchdrang mit ihrer Zunge die seinen. Er gab nach, nahm sie auf, umkreiste mit seiner Zungespitze sanft die ihre. Es fühlte sich anders an als sonst. Die Erregung schaffte es nicht, die Trauer zu überlagern. Mya schmeckte ihre eigenen Tränen. Dennoch wollte sie Exx nah sein. Ihre Hände fuhren unter sein Shirt, formten seine Muskeln nach. Als sie seine Wunde berührte, zuckte er kurz zusammen.
»Tut mir leid«, flüsterte sie in seinen Mund. Er verschloss ihn ihr sofort wieder mit einem Kuss. Es schien, als wolle er sich an ihr festsaugen.
Sie hatten keine Eile. Mya kam es vor, als fühlten sie sich zum ersten Mal. Sie löste den Knoten in seinem Nacken und seine Haare fielen auf ihr Gesicht. Es war wie ein schützender Vorhang. Seine Hände hielten noch immer ihren Kopf und sie versank in dem Moment. Unendlich langsam berührten sie sich, schlossen ihre Finger umeinander, lösten sie wieder, öffneten Knöpfe und Gürtelschnallen und zogen sich T-Shirts und Pullover aus. Immer wieder fanden sich ihre Lippen, sie verharrten, nackte Haut auf nackter Haut, während sie sich mit den Augen liebten ohne es auf körperliche Art zu tun. Es war anders als alles, was Mya je erlebt hatte. Es war ein schweigsamer, intensiver Rhythmus, der nicht von Lust getrieben war, sondern davon, den anderen zu trösten und ihm Halt zu geben. Mya spürte den kalten Wind, der in ihr Zelt wehte, als wollte er sie an den Tod erinnern. Doch Exx zog sie in seinen Schlafsack und entkleidete sie völlig. Sie spürten sich, ohne sich zu vereinigen. Sie berührten sich ohne das typische Begehren. Seine Hände glitten über ihren Körper wie die eines Künstlers, der etwas modellierte. Sein Mund küsste ihre Augen,
ihren Haaransatz, ihren Hals. Seine Beine umschlangen die ihren.
»Es ist anders ohne ihn«, hörte sie ihn flüstern. »Wir haben es nie gemeinsam mit anderen Frauen getan. Du warst unsere Verbindung. Du hast uns zu dieser besonderen Einheit gemacht.« Seine Hand umschloss ihre Brust. »Er war der Bruder, den ich nie hatte, und er war so viel besser als ich.«
»Dann höre auf das, was er dir sagt.«
»Das tue ich.« Exx küsste sie, dieses Mal so intensiv, dass Mya die Luft wegblieb. »Es wird ein Ende dieser ganzen Scheiße geben.«
Sie klammerte sich an ihn. In diesem Moment wollte sie kein Ende, sondern einen Anfang. Sie wollte wieder an etwas glauben. Daran, dass Rap nicht umsonst gestorben war. Dass die Welt nicht nur schlecht war, sondern gut. Exx war das Leben. Er war hier bei ihr und sie fühlte sich mit ihm verbunden.
»Ich muss nicht fliegen«, raunte sie ihm zu.
»Doch, das musst du.« Er legte sich auf sie, milderte sein Gewicht ab, indem er sich auf den Ellbogen abstützte. Mya hob ihr Becken, doch Exx bewegte sich nicht weiter.
»Ich sagte, es wird ein Ende haben und dieses Ende sieht vor, dass du in Sicherheit bist. Das war sein Wunsch.«
»Aber mein Wunsch ...«
Er unterbrach sie, indem er seine Lippen auf die ihren presste. Sie schwieg, genoss aufs Neue seine Nähe. Sachte bewegte er sich, stieß mit der Spitze seines Penis gegen ihren Eingang. Ganz langsam drang er in sie ein und Mya hielt die Luft an.
»Das Kleeblatt gibt es nicht mehr«, murmelte er heiser und bewegte sich sachte vor und zurück. »Du gehörst uns nicht länger. Du bist frei. Leb dein Leben, Mya.«
Ihre Hände fuhren durch seine Haare, in der Dunkelheit sah sie das Schimmern seiner Augen. War es gerade mal zehn
Tage her, dass sie nach Salinas zurückgekehrt war? Ihre ganzen Probleme, die sie all die Jahre mit sich herumgeschleppt hatte, erschienen ihr mit einem Mal bedeutungslos. Walt war tot, er hatte es verdient und trotzdem war es Mord. Einer seiner Mörder war nun ebenfalls tot und der andere hielt sie in seinen Armen. Die Welt dort draußen mochte sie verurteilen, doch nur die wenigsten wuchsen in einem Umfeld aus Hass und Gewalt auf und konnten nachvollziehen, was aus Kindern wurde, die in solch einem Milieu groß wurden. Jede Meinung reichte nur so weit wie die eigenen Erfahrungen, und Mya hatte gelernt, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gab, sondern Milliarden von Grautönen.
Sie küsste Exx, ließ ihn seinen Rhythmus finden, in dem er sie aus- und erfüllte. Es war ebenso langsam wie ihr ganzes Vorspiel, aber nicht weniger intensiv. Es schien, als wollten sie jegliche Grausamkeit aussperren, indem sie ihre Körper sprechen ließen. Zärtlich und hingebungsvoll. Mya atmete ein, wenn er ausatmete. Sie hielt inne, wenn er ihr zu verstehen gab, dass er eine Pause wollte, und nahm seine Bewegungen in sich auf, wenn er sich gesammelt hatte. Mya hatte keine Ahnung, wie lange sie sich auf diese Art liebten, aber sie wollten nicht aufhören, denn sie wussten beide, dass es dann unwiederbringlich zu Ende war.
»Ich liebe dich nicht«, sagte er irgendwann und nahm ihr Gesicht erneut in seine Hände. Ihre Nasen berührten sich und er stöhnte, weil er es kaum noch aushielt. Sie spürte seinen Penis vor- und zurückgleiten und spannte ihren Beckenboden an. Es war ein kräftezehrendes Spiel, das sie miteinander trieben. Erschöpft fuhr er fort: »Aber du bist Wärme und Nähe und ein Zuhause. Du bist mehr, als ich je zu träumen gewagt habe. Du warst da, auch wenn du es nicht warst und ich will, dass du eines weißt: Unser Ende wird dein Anfang sein.«
Ein weiterer zarter Stoß, dann krümmte er seinen Rücken und Mya hielt ihn fest. Sie hatte keinen Orgasmus, aber das war nicht wichtig. Ihre Tränen flossen erneut, dieses Mal, weil sie von Gefühlen überrollt wurde, die sie nicht benennen konnte und mit dieser Intensität noch nie erlebt hatte. Sie umklammerte Exx mit der letzten Kraft, die ihr noch geblieben war.
»Ich lasse dich nicht gehen«, formte ihr Mund die tonlosen Worte, die er nicht hören wollte. Sein Körper lag schwer auf dem ihren und sein Atem ging heftig. Sie hatten sich getröstet, doch sie konnten nicht ändern, was geschehen war. Und was geschehen würde.
Mya ließ ihn nicht los, ebenso wenig wie er sie. Der Wind drängte sich wieder in ihr Bewusstsein und trug ihre Gedanken mit sich. Es dauerte nicht lange, bis sie wegdämmerte.
Am nächsten Morgen
erwachte Mya vom Klingeln eines Handys. Sie bemerkte, dass Exx neben ihr aus dem Schlafsack kroch und nach seiner Hose angelte.
»Was gibt’s?«, hörte sie ihn antworten, das Handy am Ohr.
Mya setzte sich auf. Es dauerte ein wenig, bis die Geschehnisse des letzten Tages in ihr Bewusstsein vordrangen. Augenblicklich war der Verlust wieder präsent und quälte sie im ersten Licht des Morgens.
»Hm, in Ordnung. Geht klar. Abgemacht.« Exx legte auf. Er holte tief Luft, sah auf das Meer und drehte sich zu ihr um. »Da ist ein Typ auf dem Polizeirevier in Salas aufgetaucht. Er sagt, er heißt Benjamin und er ist auf der Suche nach dir.«
Mya legte eine Hand auf ihre Brust. Sie war zu geschockt, um zu antworten.
Exx nickte ihr zu. »Wir sollten ihn holen, bevor er uns in Schwierigkeiten bringt«, brummte er.