Seventeen
M ya rannte die Hauptstraße entlang. Sie passierte die Jugendherberge, das Fox Hotel und das Best Western Inn, während sie den beeindruckenden Cascade Mountain fest im Blick behielt. Banff wirkte zu dieser Jahreszeit wie das Abbild einer kitschigen Postkarte, doch Mya nahm die Schönheit kaum wahr. Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihre Füße flogen über den Asphalt. Sie grüßte einen Fahrradfahrer und eine Frau mit zwei kleinen Kindern, bevor sie in die Antelope Lane abbog. Mächtige Tannen bewegten sich im Herbstwind, es roch nach Schnee. Bergauf beschleunigte Mya ihr Tempo und sie glaubte, ihre Lungen würden der Belastung nicht standhalten. Der eisige Wind, der ihr nun direkt entgegen blies, erschwerte ihr das Atmen. Aber sie gab nicht auf. Mit unerschütterlichem Willen hielt sie die Geschwindigkeit, ließ die idyllischen Stadthäuschen hinter sich und verfiel erst in ein gemäßigteres Tempo, als sie die Otter Street erreichte. Die Straße verengte sich, die Häuser wurden imposanter. Mya blieb stehen, krümmte den Rücken und keuchte. Dann ging sie langsam weiter, öffnete das grüne Gartentor und warf einen Blick durch die erleuchteten Fenster ins Innere des Anwesens. Mrs. Kenwood war gerade dabei Abendessen zu kochen. Ihr Mann Harry saß in einem Sessel, sah fern und balancierte Moses, den Kater, auf seinem voluminösen Bauch. Im Hintergrund brannte das Feuer im Kamin. Es war die perfekte Idylle. Mya seufzte, zog den Schlüssel aus ihrem Jogginggürtel und ging zum Hintereingang. Das rustikale Holzhaus, dessen Eingangstür von zwei Felssäulen umrahmt wurde, besaß eine Einliegerwohnung auf der Rückseite. Hier lebte Mya seit über einem Jahr. Sie sperrte auf, warf den Schlüssel in den Korb auf dem Schuhschrank und schloss die Tür hinter sich. Stille. Die Abenddämmerung hüllte die Wohnung in ein graues Licht. Myas Atem beruhigte sich. Rasch streifte sie sich die Schuhe von den Füßen und ging in das geräumige Wohnzimmer, an das die offene Küche grenzte. Durch die Fensterfront sah sie auf die Berge und die wogenden Tannen. Sie verharrte einen Moment, dann zog sie die Vorhänge zu und knipste das Licht an. Unschlüssig fiel sie auf das gemütliche Sofa, bevor sie aufsprang und ins Bad ging. Die Unruhe war nicht verflogen. Sie warf ihre Joggingklamotten in den Wäschekorb und stieg unter die Dusche. Sie rannte wieder, seit sie Salinas im letzten Jahr verlassen hatte. Sie konnte nicht anders. Es war zum Verzweifeln.
Während Mya das Wasser genoss, das ihr warm über den Körper lief, ließ sie ihren Erinnerungen freien Lauf. Sie sah sich selbst als junges Mädchen, das zu einer weiteren Pflegefamilie nach Salinas in Kalifornien kam. Ihr Pflegevater Walt Chandler missbrauchte sie und sie spürte jene Scham, die sie nicht abwaschen konnte, egal wie viel Seife sie benutzte. Doch es gab noch etwas anderes: Abgrundtiefen Hass, der sie am Ende überleben ließ. Das und ihre beiden Freunde Rap und Exx, die sie aus ihrem jämmerlichen Dasein rissen und ihr die Familie ersetzten, nach der sie sich sehnte. Und die sie beschützten, mit ihren Fäusten und ihren Waffen. Mya floh aus dieser Welt, die sie damals nicht mehr verstand, nur um am Ende festzustellen, dass sie ihren Gefühlen nicht entkam. Deshalb kehrte sie zurück und katapultierte sich mitten hinein ins Chaos. Wieder zu ihren Freunden, ihren Ängsten und der Leidenschaft, die ihr Innerstes in Brand setzte. Mya, Exx und Rap waren wie heißes Eisen, das aus Blut und Gewalt geschmiedet worden war. Sie gingen einander unter die Haut, ebenso wie das schwarze Kleeblatt, ein Tattoo, das sie alle Drei trugen. Mya berührte es. Es befand sich oberhalb ihres Herzens und war ein Mahnmal für all das, was sie einmal gewesen war. Für all das, was sie verloren hatte. Sie fühlte sich einsam und entwurzelt. Für kurze Zeit waren sie zusammengewesen, hatten sich gegenseitig Stärke gegeben und sich an etwas geklammert, das nicht dazu bestimmt war, auf ewig zu existieren. Kleeblätter gab es nur für den Moment. Jeder Winter setzte ihnen ein Ende. Sie hätte es wissen müssen.
Das Wasser wurde kälter, was bedeutete, dass sie wieder einmal das gesamte Warmwasser aufgebraucht hatte, das der Boiler fasste. Mya stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. Durch die Lamellen der Holzjalousie sah sie, dass es begonnen hatte zu schneien. Feine Flocken wurden vom Wind verwirbelt und gegen das Fenster gedrückt. Nackt ging sie zurück ins Wohnzimmer und zuckte zusammen, als es an ihre Tür klopfte. Sie eilte die Stufen zur Galerie hinauf, wo sich ihr Bett und der Kleiderschrank befanden, und wühlte in ihren Klamotten. Es klopfte erneut.
»Ich komme gleich«, rief sie und verfluchte Mrs. Kenwood in Gedanken, während sie sich anzog. Ständig kochte die Vermieterin für sie oder erkundigte sich, ob sie etwas brauchte. Mya fand ihre Fürsorge rührend, doch gleichzeitig spürte sie, dass sie sich dagegen wehrte. Sie wollte nicht bemuttert werden, das war sie nicht gewohnt.
Zurück im Wohnzimmer schüttelte Mya ihre nassen Locken, bevor sie den Flur hinunterging und die Tür öffnete. Mrs. Kenwood lächelte sie an. Sie war zweiundsechzig und trug ihre langen graumelierten Haare zu einem losen Knoten gebunden. Ihr Kleidungsstil wirkte sportlich und wären da nicht die tiefen Falten um ihren Mund, die ihre Trauer hinterlassen hatte, hätte Mya sie um einiges jünger geschätzt.
»Harry war heute nicht hungrig«, sagte die Vermieterin.
Mya wusste, dass sie log. Harry, Mrs. Kenwoods Ehemann, war immer hungrig, und zwar mehr, als es ihm guttat.
»Ich habe Makkaroni mit Käse gekocht. Das war das Lieblingsgericht meines Sohnes.«
Mya wusste das und nickte freundlich. Mrs. Kenwoods Sohn Phil war vor anderthalb Jahren beim Bergsteigen ums Leben gekommen. Er hatte bei der PCMS, der Parks Canada Mountain Safety, als Bergretter gearbeitet.
»Danke.« Mya nahm den Topf entgegen und sah Mrs. Kenwood unschlüssig an, die ihr Lächeln krampfhaft aufrecht hielt.
»Lewis kommt später zu Besuch«, erklärte sie. »Er würde sich gerne einige Dinge aus einer von Phils Kisten nehmen. Ist das in Ordnung, wenn er kurz bei Ihnen vorbeischaut?«
Mya verkniff sich eine unhöfliche Antwort und nickte. »Natürlich.«
»Er wird nicht lange bleiben, aber er meinte, er benötigt einiges von Phils Ausrüstung.«
»Kein Problem.«
»Hm.« Mrs. Kenwood rieb ihre Handflächen aneinander. »Wie war Ihr Tag?«
»Wie immer.«
»Das ist schön.« In Mrs. Kenwoods Augen sammelten sich Tränen. »Es ist so düster draußen. Ich fühle mich heute nicht besonders gut.«
»Das tut mir leid.« Mya war an diesem Tag nicht in der Verfassung, Mrs. Kenwood zu trösten.
Die Vermieterin senkte den Kopf, als würde sie verstehen. »Ich wollte Sie nicht belästigen. Lassen Sie es sich schmecken, Mya.«
»Danke«, murmelte sie und schloss die Tür. Sie bekam ein schlechtes Gewissen und im gleichen Moment hasste sie sich für dieses Gefühl. Es war nicht ihre Aufgabe, sich um Mrs. Kenwood zu kümmern! Sie war ihre Mieterin und keine Familienangehörige, auch wenn die Kenwoods ihr Bestes taten, um sie dazu zu machen.
Mya knallte den Topf auf den Herd und atmete tief durch. Sie hatte geglaubt, dass es ihr besser ging, wenn sie ihr Leben änderte und nach Kanada zog, doch sie hatte sich getäuscht. Zunächst lief alles gut. Sie hatte über das Provincial Nominee Program eine Anstellung in Banff gefunden. Als Software-Programmiererin arbeitete sie in der Nationalpark-Verwaltung und kümmerte sich dort nicht nur um die Auswertung der Wetterdaten, sondern auch um eine App, die sich Touristen auf ihr Handy laden konnten. Sie warnte die Besucher, falls Unwetter oder schwere Schneefälle gemeldet wurden und zeigte ihnen den kürzesten Weg zu den Schutzhütten an. Die App gab im Notfall die GPS-Daten an die Bergrettung weiter, damit die Verunglückten oder wegen des Wetters isolierten Wanderer schneller gefunden wurden.
Mya mochte die unberührte Landschaft vor ihrer Haustür, die gewaltige Bergwelt und die klare Luft. Sie redete sich ein, dass ihr die Natur guttat. Dass sie gerne Teil einer Gemeinschaft war, auch wenn sie am liebsten für sich blieb. Im ersten Winter war sie entzückt darüber gewesen, vollkommen eingeschneit zu sein und zu beobachten, wie das tägliche Leben zum Stillstand kam. Aber mit der Abgeschiedenheit und dem Alltag kehrten die Erinnerungen zurück. Schleichend und hinterlistig drängten sie sich in ihr Bewusstsein, quälten sie, machten ihr Vorwürfe. Sie dachte an Rap und daran, dass es immer sein Wunsch war, nach Kanada zu gehen. Nun war sie hier, doch je mehr sie sich bemühte, ihre Vergangenheit abzuschütteln, desto heftiger begehrte sie auf. Nachts spürte sie die Hände ihrer Freunde auf ihrem Körper. Ihr Herz klopfte, während sie fühlte, was sie nie wieder erleben durfte. Diese Endgültigkeit traf sie wie ein Messer, das sie aufschlitzte und allmählich ausbluten ließ. Das war der Moment, in dem sie begriff, dass sie weit davon entfernt war, ein neues Leben zu beginnen.
Mya hob den Deckel vom Topf und schnupperte. Makkaroni mit Käse kochte Mrs. Kenwood jeden Dienstag und jedes Mal wies sie darauf hin, dass es das Lieblingsgericht ihres Sohnes war. Mya langte mit den Fingern hinein und beobachtete, wie der Käse Fäden zog, als sie einige Nudeln herausholte und sie sich in den Mund schob. Mrs. Kenwood machte verdammt gute Käsenudeln! Mya nahm eine Gabel und schaufelte das Abendessen im Stehen in sich hinein. Ihre Vermieterin ging ihr manchmal auf die Nerven, aber sie schien zu ahnen, dass Mya nur höchst selten für sich selbst kochte. Meistens wärmte sie sich Fertiggerichte auf oder hielt auf dem Heimweg bei einer Fast-Food-Kette an. Alleine zu kochen hatte etwas Deprimierendes an sich, fand sie, und schluckte den letzten Bissen hinunter. Es hatte keine fünf Minuten gedauert und der Topf war leer. Mya rieb sich den Bauch und stellte das Geschirr in die Spüle. Sie würde es morgen früh saubermachen und es auf dem Weg zur Arbeit bei Mrs. Kenwood abgeben. So machten sie das schon seit ihrem Einzug.
Wieder klopfte es. Lewis. Nicht zum ersten Mal beschlich sie das Gefühl, dass Mrs. Kenwood sie unbedingt mit ihrem zweiten Sohn verkuppeln wollte. Ständig kam er zu ihr. Er war fünf Jahre jünger als der verstorbene Phil, aber anhand der Fotos, die überall im Haus der Kenwoods standen, wusste Mya, dass sie sich nicht unähnlich waren. Großgewachsen, blond, gutaussehend. Ebenso wie Phil hatte Lewis seine Kindheit in den Bergen verbracht, weshalb er braungebrannt, durchtrainiert und extrem sportlich war. Sie setzte sich in Bewegung, um ihm die Tür zu öffnen.
»Hey«, sagte sie und ließ ihn rein.
Er bückte sich instinktiv, obwohl er aufrecht durch die Tür gepasst hätte. »Meine Mom meinte, es sei okay, wenn ich kurz vorbeischaue.«
»Klar.« Mya machte eine einladende Handbewegung. »Du kennst dich ja aus.«
Er sah sie entschuldigend an. »Ich weiß, dass sie einem manchmal auf die Nerven geht.«
»Tut sie nicht«, log Mya und lehnte sich gegen die Theke, die die Küche vom Wohnzimmer trennte. »Es war die Wohnung deines Bruders.«
Lewis fuhr sich durch die von der Sonne gebleichten Haare. Der Dreitagebart warf einen weichen Schatten auf sein Gesicht. »Ständig ziehen wir dich in unsere Familienangelegenheiten mit hinein. Ich werde Mom sagen, dass sie Phils Sachen endlich zu sich holt.«
»Sie ist die Vermieterin. Solange sie mich nicht in einem leeren Raum zurücklässt, darf sie tun, was sie mag«, erwiderte Mya und beobachtete, wie Lewis die wuchtige Truhe öffnete, die ihr als Wohnzimmertisch diente. »Was suchst du?«
»Wir haben am Wochenende eine Übung der Bergretter. Die Teams von Lake Louise und Banff kommen zusammen und ich hole mir Ersatzteile für meine Ausrüstung. Den Abseilachter und die Selbstsicherungsschlinge zum Beispiel.«
»Alles klar.«
»Und die Stirnlampe.« Er ließ das Licht aufleuchten und blendete Mya scherzhaft. »Kommst du mit der App voran?«
»Es läuft prima. Die Zusammenführung der Wetterdaten hakt noch an der ein oder anderen Stelle, aber ich bin optimistisch, dass wir die Zuverlässigkeit zu Beginn der Wintersaison steigern können.«
»Du machst das toll.« Lewis stand auf und sah sie an. »Hast du vielleicht Lust, dir die Übung am Wochenende anzusehen?«
»Oh, ich weiß nicht recht.«
»Wir treffen uns auf dem Helikopterlandeplatz vor dem Fairmont Hotel. Dort machen wir einige Rettungsübungen und die Einweisung, bevor es in die Berge geht. Der Hubschrauber hat eine neue Wärmebildkamera, die wir testen wollen. Aber du könntest im Fairmont auf mich warten und wir essen anschließend zusammen.« Es war das erste Mal, dass er sich traute, sie nach einem Date zu fragen.
»Bist du wirklich nur gekommen, um dir die Sachen deines Bruders zu holen?«, wollte sie wissen.
Er setzte sich unaufgefordert aufs Sofa. »Ehrlich gesagt nicht«, erwiderte er, kaum dass sie ihn ansah. »Ich würde dich gerne näher kennenlernen. Du wohnst und arbeitest seit einem Jahr hier. Alle kennen dich, aber niemand weiß etwas über dich. Hast du jemanden verloren, Mya? Du wirkst oft so traurig.«
»Ich möchte nicht darüber reden.« Instinktiv verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Es ist nicht mein Anliegen, traurig oder rätselhaft zu wirken. Alles, was ich will, ist, ein ganz normales Leben führen, ohne dass sich andere Gedanken um mich machen.«
»Aber du rennst durch die Stadt, als wäre der Teufel hinter dir her. Die Leute in dieser Gegend joggen nicht. Sie wandern, klettern, fahren Mountainbike und Ski oder machen Langlauf, manchmal nutzen sie auch ihren Hometrainer, doch sie rennen nicht, Mya. Deshalb reden sie.«
»Das ist mir egal.«
Er schwieg und Mya hakte nach: »Ist das die Idee deiner Mutter gewesen, mich einzuladen?«
»Ein wenig«, gab er zu. »Wir wollen dir nur helfen. Das hier ist ein kleiner Ort und jeder kennt jeden. Komm mit mir zu der Rettungsübung und zeig den Menschen, dass du liebenswert bist und nicht die Außenseiterin, die sie in dir sehen. Das ist alles.«
»Das ist alles?«
»Das Abendessen ist ein eigennütziger Wunsch von mir.«
»Verstehe.« Sie musste lächeln.
»Ist das ein Ja?«
»Es ist ein Vielleicht.«
»Mit einem Vielleicht kann ich leben.« Er erhob sich und sammelte die Gegenstände ein, die er aus der Truhe geholt hatte. »Ich komme Samstag Mittag vorbei. Wenn du draußen stehst, dann nehme ich dich mit. Wenn du nicht da bist, fahre ich einfach weiter.«
»In Ordnung.«
Er kam auf sie zu und sie sah zu ihm auf. Lewis war ein anständiger Kerl, aber sie wusste, dass sie solchen Männern nicht guttat. Ihre Vergangenheit passte nicht in das normale Leben, das diese Jungs führten. Es endete damit, dass sie sie durch die Form eines Kreises zu pressen versuchten, obwohl sie ein Dreieck war. Ihre Ecken fügten anderen irgendwann Schmerzen zu und rundeten sich niemals ab.
»Ich wäre sehr glücklich, wenn du mitkommst«, sagte Lewis.
»Warum hast du keine Freundin?«, entfuhr es Mya, bevor sie sich auf die Unterlippe biss. Manchmal reagierte sie zu intuitiv. Trotzdem fragte sie sich, weshalb ein derart sexy Mann nicht vergeben war.
Er grinste schief. »Weil die Richtige noch nicht dabei war. Es gibt kaum Frauen, die verstehen, wie ich lebe.«
»Wie lebst du denn?«
»Lass dich überraschen.«
»Ich glaube nicht, dass dir das gelingen wird.«
»Vielleicht doch.«
Mya verkniff sich eine weitere Antwort. Sie wollte das alles nicht. Die Unterhaltung mit Lewis ging bereits über das hinaus, was sie je wieder hatte zulassen wollen. »Ich denke, wir sollten uns nicht zu einem Date verabreden«, murmelte sie.
»Es ist kein Date.« Um seine Mundwinkel zuckte es. »Es ist Neugierde. Ich kenne so ziemlich alle Frauen in Banff und Umgebung. Mich interessiert, wer du bist, Mya.«
Das willst du nicht wissen. Sie wich vor ihm zurück. »Ich könnte erschreckend langweilig sein«, versuchte sie zu scherzen.
Er schüttelte den Kopf. »Seit dem Tod meines Bruders vergeht kein Tag, an dem ich keine Spekulationen darüber höre, wie der Unfall, der zu seinem Tod geführt hat, wirklich passiert ist. Doch keiner von ihnen war vor Ort. Niemand hat das entsetzte Gesicht meines Bruders gesehen, als er begriff, dass sein Leben zu Ende ist. Ich schon. Ich sehe sein Gesicht jede verdammte Nacht vor mir. Du hast ebenfalls Dinge gesehen, die du nicht vergessen kannst, nicht wahr?«
Mya blinzelte. Jemanden zu verlieren, den man liebte, war etwas Grausames. Sich deswegen schuldig zu fühlen, brachte einen beinahe um den Verstand. Sie wusste, wie es in Lewis aussah. Er streckte seine Hand aus und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die fürsorgliche Geste brachte sie endgültig durcheinander. »Ich werde am Samstag da sein«, flüsterte sie und trat den Rückzug an. »Schönen Abend, Lewis.«
Seine Hand verharrte in der Luft, bevor er sie sinken ließ. »Dir auch, Mya.« Er ging an ihr vorbei und war zur Haustür heraus, ehe sie sich versah.
Fiebrig rieb sie sich die Oberarme, um die Gänsehaut zu vertreiben, die ihren Körper überzog. Es war nicht richtig! Sie hatte sich geschworen, keinen Mann mehr in ihr Leben zu lassen. Nur so konnte ihre Zukunft funktionieren. Es würde ihr nie gelingen, die zwei Männer zu vergessen, die sie geliebt und mit denen sie einen Mord begangen hatte. Sie hatte Rap und Exx gehört. Mit Leib und Seele und einer Verbundenheit, die weit über normale Gefühle hinausging. Nie wieder würde sie diese Lust erleben, die ihr nur ihre beiden Freunde hatten schenken können.
Ein klagender Laut entrang sich ihrer Kehle und sie rutschte an der Wand zu Boden. Die Gewissheit darüber, sie nie wiederzusehen und zu spüren, und die Tatsache, dass sie schuld daran war, fraß sie auf. Sie hätte niemals nach Salinas zurückkehren dürfen! Das hatte zuerst Rap das Leben gekostet und am Ende Exx. Sie war zu ängstlich gewesen, hätte ihn aufhalten müssen. Sie hatte gewusst, was er vorhatte und als sie schließlich auf dem Polizeirevier in Salinas eintraf, hatte ihr der dortige Sheriff, Coroner Judith T. Mason, mitgeteilt, dass Exx während des Zugriffs der Polizei erschossen worden war. Sie war zu spät gekommen.
Es gab nicht viel, woran sie sich danach erinnerte. All die Tränen, der Schmerz über den Verlust und das Schuldbewusstsein trafen sie so hart, dass sie tagelang nicht ansprechbar war. Judith T. Mason hatte sie letztendlich in ein Flugzeug nach London gesetzt und sie gebeten, Salinas nie wieder zu betreten. Das war auch keine Option für Mya. Ebenso wenig wie das Fortführen ihres Lebens in England. Benjamin, ihr damaliger Freund, wusste das. Er ließ sie gehen und Mya sah in seinen Augen, dass er froh darüber war. Das Wissen über ihre Vergangenheit war wie ein unschöner Buckel, der ihr auf dem Rücken gewachsen war. Man konnte ihn ignorieren, aber er war da und führte am Ende dazu, dass man den Menschen, der ihn trug, immer abstoßender fand. Das war kein Fundament für eine Beziehung.
Und nun war sie hier, inmitten der rauen Bergwelt Kanadas, an einem Ort, der ihr Ruhe und Anonymität schenken sollte. Sie hatte Raps Erbe angetreten, hatte getan, was er sich stets für sie Drei gewünscht hatte. Ein Leben als Kleeblatt, fernab der Gangs und des kriminellen Milieus, in dem sie aufgewachsen waren. Ein gemeinsames Zuhause, das ihnen Frieden schenkte. Doch das Kleeblatt war zerrissen und Mya dazu verdammt, als einzelnes Blatt abzusterben. Sie fühlte sich oft, als hätte man sie zwischen die Seiten eines Buches geklemmt, um sie zu trocknen. Ohne ihre Freunde verlor sie allmählich ihre Lebensenergie.
Am Samstag drückte sich Mya in der Wohnung herum. Das Wetter hatte sich gebessert. Es schneite nicht mehr. Die Sonne lachte an einem wolkenlosen Himmel und durchflutete Myas Wohnzimmer. Die Luft draußen war eisig vor Kälte, sodass sie in Versuchung geriet, einfach loszurennen. Hinaus aus der Stadt, soweit sie ihre Füße trugen. Fort von ihren Gedanken und Erinnerungen. Fort von Lewis. Seine Freundlichkeit berührte etwas in ihr, das sie geglaubt hatte, unter Kontrolle zu haben. Sie fühlte sich alleine. Obwohl sie bereits ein Jahr hier war, war es ihr nicht gelungen, Freundschaften zu schließen. Die Einsamkeit fraß sie schleichend auf und sie begann, sich nach Gesellschaft zu sehnen. Doch wollte Lewis tatsächlich nur ein Freund für sie sein?
Unruhig lief Mya auf und ab. Sie musste sich entscheiden. Wenn sie nicht bald aus ihrer Wohnung rauskam, wurde sie wegen der Dämonen in ihrem Kopf noch verrückt! Sie gab sich einen Ruck, zog ihre gefütterten Sorel Boots und die dicke Daunenjacke an, streifte sich die Beanie-Mütze über und stellte sich vor das grüne Gartentor. Hinter den Vorhängen sah sie Mrs. Kenwood, die sie beobachtete. Je länger sie wartete, desto mehr bereute sie ihren Entschluss. Gerade als sie der Mut verließ und sie wieder hineingehen wollte, fuhr Lewis in seinem bulligen GMC Yukon vor. Sie fragte sich, wie er sich von dem mickrigen Gehalt als Bergretter ein derartiges Auto leisten konnte.
Er beugte sich rüber, um ihr die Beifahrertür zu öffnen. »Hey!« Er lachte. »Du hast deine Toque angezogen. Super, in den Bergen kann es kalt werden.«
»Meine was?« Mya stieg ein, zog die Tür zu und schnallte sich an.
»Deine Mütze.«
»Oh!« Sie grinste. Es gab noch immer einige Worte der kanadischen Sprache, die ihr völlig unbekannt waren.
Lewis setzte einen drauf: »Möchtest du einen Double-Double von Timmies?«
Mya legte den Kopf schief. »Du stellst mich auf die Probe, eh?« Sie benutzte bewusst das Wort am Ende, das die Kanadier wie ›Ay‹ aussprachen und das sie an beinahe jeden Fragesatz hängten. »Timmies ist die Abkürzung für Tim Hortons, das euch ebenso heilig ist wie Starbucks den Amerikanern. Und ein Double-Double ist ein Kaffee mit doppelt Milch und Zucker. Ich kann ihn nicht ausstehen!«
»Buh!« Lewis knuffte sie in die Seite und fuhr los. »Wer den Double-Double und ein marmeladengefülltes Dutchie nicht mag, der darf mich nicht begleiten.«
»Wenn das so ist ...« Mya griff nach dem Türöffner, doch Lewis gab Gas, um die automatische Türverriegelung einrasten zu lassen.
»Nicht so schnell, junge Dame, ich wäre bereit, einen Kompromiss zu machen.«
»Interessant.« Mya lehnte sich zurück. Obwohl sie sich dagegen wehrte, war es angenehm, mit jemandem herumzualbern. »Wie sieht der aus?«
»Wie trinkst du deinen Kaffee?«
»Schwarz, ohne alles.«
»Ohne alles? Heilige Scheiße. Du bist härter, als ich dachte.«
»Und du ein verweichlichter Milchkaffeetrinker.«
»Einigen wir uns darauf, dass ich dir einen Kaffee ohne alles bestelle, wenn du dir ein Dutchie mit mir teilst.«
»Einverstanden!« Sie stießen spielerisch ihre Fäuste gegeneinander und Lewis fuhr Richtung Gopher Street. Keine fünf Minuten später parkte er vor dem langgestreckten braunen Gebäude und sprang aus dem Auto. Mya sah ihm hinterher und merkte, dass sie immer noch lächelte.
Hör auf damit, schalt sie sich selbst, doch sie konnte nicht verhindern, dass das Lächeln zurückkehrte, als Lewis kurze Zeit später wieder aus dem Gebäude trat. Er balancierte die Kaffeebecher auf einer Kartonage in der einen Hand, die Dutchie-Tüte in der anderen. Am Auto angekommen zog er Grimassen, um ihr zu verstehen zu geben, dass er Hilfe brauchte. Mya rutschte rüber und öffnete ihm die Fahrertür.
»Du trinkst nicht nur fiesen Milchkaffee, du schaffst es nicht einmal, deine Autotür mit dem Fuß zu öffnen«, neckte sie ihn.
»Zur Strafe für deine Bosheit habe ich dir ein Maple Dip Dutchie mitgebracht. Das musst du alleine essen.« Er rutschte auf den Fahrersitz und drückte sie gut gelaunt zur Seite.
»Meine leichteste Übung.« Mya nahm ihm die Tüte aus der Hand, griff nach dem Donut mit der Ahornsirup-Glasur und biss hinein. Er war klebrig, viel zu süß, aber köstlicher als erwartet.
»Hm, lecker.« Mya hielt sich die Hand unters Kinn, um die Krümel aufzufangen. Lewis beobachtete sie. Der Blick seiner tiefblauen Augen war undurchdringlich.
»Was ist?«
»Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals lachen gesehen zu haben.«
»Wenn ich darüber nachdenke, habe ich dich auch nur ernst in Erinnerung.«
»Dann ist der Tag jetzt schon besser als alle anderen in diesem Jahr«, erwiderte Lewis, nippte an seinem Kaffee und startete den Motor.
Mya sah zur Seite und rutschte weiter ans Fenster. Schweigend fuhren sie auf den Trans-Canada-Highway in Richtung Lake Louise. Mya genoss den Blick auf das Bergpanorama und wartete darauf, dass Lewis erneut ein Gespräch begann. Aber er blieb ebenso stumm wie sie.
Erst als sie nach einer Dreiviertelstunde auf dem Parkplatz vor dem Hotel ankamen, entfuhr Mya ein »Wow!«
»Beeindruckend, nicht wahr?« Lewis parkte den Wagen. Beide betrachteten den Hotelkomplex, der sich majestätisch vor den Berggipfeln erhob und vor dem sich der smaragdgrüne Lake Louise erstreckte, der dermaßen in der Sonne glitzerte, dass er sie blendete.
»Ein Maler hätte es nicht kitschiger zeichnen können«, bestätigte Mya. Bisher war sie noch nicht hier gewesen. Sie kannte das Fairmont Springs in Banff, das am Hang über dem Golfplatz stand, und das viele für einen hässlichen Backsteinkasten hielten. Doch für sie, die aus einer anderen Welt kam, waren beide Hotels einfach nur fantastisch.
»Wenn wir nachher mit der Übung beginnen, kannst du hineingehen und dir alles ansehen. Es gibt einige Shops und Restaurants. Dir wird es sicher nicht langweilig.«
»Das glaube ich auch nicht.« Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal Zeit zum Bummeln genommen hatte. In ihrer Freizeit versuchte sie stets, ihre Gedanken davon abzuhalten, um Rap und Exx zu kreisen. Deshalb ging sie laufen oder setzte sich vor den Fernseher. Sie freute sich darauf, das Hotel von innen zu sehen.
Es klopfte an die Scheibe der Fahrertür. »Alter, bist du da drin festgewachsen, ey?«
Mya erkannte Nathan Tremblay, den Hubschrauberpiloten der PCMS. Er kam oft in die Verwaltungsgebäude, um sich nach den Wetterdaten zu erkundigen oder mit Sarah Murphy, der Teamassistentin, einen Kaffee zu trinken. Sie hob die Hand zum Gruß und Nathans Blick wanderte neugierig zwischen ihr und Lewis hin und her.
»Meine Mutter hat nicht berücksichtigt, dass wir das Gerede dadurch verstärken könnten«, murmelte Lewis neben ihr und öffnete die Tür.
»Hey, Buddy, alles klar bei dir?« Die beiden Männer umarmten sich und klopften sich mit den Fäusten kurz auf den Rücken, bevor Lewis auf Mya deutete.
»Mya Munroe kennst du ja!«
»Klar!« Nathan spähte ins Innere, sein Grinsen wurde breiter. »Die schweigsame Maus hinter unserer App. Du hast was drauf, Nerd.«
»Ich bin kein Nerd!« Mya stieg aus und ging um das Auto herum.
»Du sitzt in deinem Büro, Brille auf der Nase, selbst bei Plusgraden im Hoodie und erzählst uns was von Java Components und User Interface. Dabei sind wir hier alle nur Canuckleberries
Mya runzelte die Stirn und Lewis erklärte: »Kanadische Landeier.«
»Deshalb wollte ich mal sehen, wozu ihr meine genialen Ideen verwendet.« Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Daunenjacke und Nathan lachte.
»Du bist herzlich willkommen!« Er stieß Lewis in die Seite. »Komm zu uns, wenn du bereit bist.«
»Bin gleich soweit.« Sein Blick fand den von Mya. »Kommst du zurecht?«
»Ich bin groß, ich werde überleben.«
»Gut zu wissen.« Lewis nahm seine Ausrüstung aus dem Kofferraum und schulterte den Rucksack. Dann warf er ihr die Autoschlüssel zu. »Falls dir beim Zusehen kalt wird«, erklärte er und hob die Hand zum Gruß. »Warte im Deli auf mich. Ich komme dorthin. So kurz nach sechs, okay?«
Mya nickte und lehnte sich gegen die Fahrertür. Ihre Nervosität war verflogen. Sie fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten nicht mehr, als wollte sie davonlaufen. Entspannt schloss sie die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. Tief in ihrem Inneren hörte sie die Stimme von Exx. Rory und ich haben dir das Leben gerettet. Mehr als einmal. Und jetzt schuldest du uns etwas. Du schuldest uns, dass du lebst.
Mya füllte ihre Lungen mit Luft und öffnete die Augen wieder. Es fiel ihr schwer, zu begreifen, dass es ihre Freunde nicht mehr gab. Jeder Tag ohne sie war, als ob sie sich durch einen Drogenentzug kämpfte, der sie schwächte. Wenn sie so weitermachte, würde sie ihnen eines Tages folgen, ohne ihre Schuld beglichen zu haben. Lebe, Mya, und sei keine Last für uns. Sie erschauerte. Es klang, als stünde Exx direkt neben ihr. Rasch vergewisserte sie sich, dass es nicht so war, bevor ihr Blick an Lewis hängenblieb. Er beobachtete sie aus der Ferne. Mya lächelte ihm zu. Vielleicht war es möglich, schoss es ihr durch den Kopf, eventuell kann er mir dabei helfen, dass ich endlich hier ankomme.
Sie stieß sich vom Auto ab und schlenderte zu der Ansammlung von Menschen. Überall parkten die weißen Pick-ups mit den grünen Seitenstreifen, die die Parkranger fuhren. Dazwischen wuselten die Bergretter herum, die man an ihren schwarzen Hosen und orangefarbenen Anoraks mit den gelben Kreuzen auf Schultern und Rücken erkennen konnte. Sie breiteten ihr Equipment auf dem Boden aus, überprüften es auf Vollständigkeit und Zustand und scherzten miteinander. Die Szene überragte der rot-weiße Rettungshubschrauber, der von Nathan genauestens unter die Lupe genommen wurde. Seile wurden entrollt und wieder zusammengelegt, Tragen umgeschichtet und die Wärmebildkamera, die oberhalb der rechten Kufe angebracht war, geputzt. Erst als der Übungsleiter den Platz betrat, kehrte Ruhe ein. Mya kannte ihn ebenfalls. Es war Daniel Kenner, der Vorsitzende der PCMS und Bergführer in dieser Region. Er sah aus, wie aus einer Werbekampagne. Weißblondes Haar, tiefbraune Haut, strahlendweiße Zähne. In ihrer Abteilung munkelte man, dass er gerne Touristinnen vernaschte, obwohl er verheiratet war. Auf Mya wirkte Daniel jedoch eher wie ein Yeti, der zu lange unter der Höhensonne gelegen hatte. Sie verkniff sich ein Grinsen und bemerkte, dass Lewis sie erneut über den Platz hinweg ansah. Es schien, als wüsste er, was sie gerade dachte und zwinkerte ihr zu. Mya presste die Lippen aufeinander.
»Meine lieben Kollegen, ich freue mich, euch heute hier begrüßen zu dürfen«, rief Daniel Kenner in die Runde und hob die Hände, um sich für den Applaus zu bedanken. »Wir starten die erste Rettungsübung vor der kommenden Wintersaison und ich möchte euch noch einmal daran erinnern, wie wichtig unsere Aufgabe ist. Als Abteilung der Parks Canada Organisation obliegt uns die Verantwortung der Such-, Rettungs- und Lawinenschutzdienste dieser Region. Wir sind keine einfachen Bergretter, sondern Bergsicherheitsspezialisten, die sich um die öffentliche Sicherheit der Parkbesucher kümmern. Deshalb hat uns die Regierung weitere Fördergelder bewilligt, mit denen wir wichtige Investitionen für die kommende Wintersaison getätigt haben. Zum einen wird uns eine Wärmebildkamera erleichtern, vermisste Personen aufzuspüren. Darauf wird in dieser Rettungsübung ein besonderer Fokus liegen. Zum anderen werden wir in einigen Wochen eine App im Einsatz haben, die unsere Besucher nicht nur wettertechnisch auf dem Laufenden hält, sondern uns auch ihre Daten zuspielt, falls sie nicht mehr von ihren Wanderungen zurückkehren. Und wie ich gerade von Lewis Kenwood hörte, ist die Programmiererin dieser App heute hier. Mya Munroe!« Daniel Kenner deutete in ihre Richtung und alle Augen richteten sich auf Mya. Sie spürte, wie ihr augenblicklich das Blut in die Wangen schoss. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.
Die Anwesenden applaudierten und Mya zwang sich zu einem Lächeln. Es war ihr unangenehm im Mittelpunkt zu stehen und sie versuchte, Lewis böse anzusehen. Doch sein Lachen warf sie aus der Bahn. Während sich alle wieder auf Daniel Kenners Worte konzentrierten, blieben ihre Blicke ineinander verschlungen und Mya spürte eine unerwartete Wärme, die sich von ihrem Magen in ihren Gliedmaßen ausbreitete. Erst als die Übung begann, brach die Verbindung ab und Mya schluckte. Sie wusste, es würde immer eine Grenze geben, die sie nicht überschreiten konnte. Nicht überschreiten durfte. Doch an diesem Tag schienen ihre Vorsätze zu schmelzen wie der erste Schnee in der Oktobersonne.
Mya wippte mit dem Fuß. Sie saß im Deli des Fairmont Chateau und wartete auf Lewis. Obwohl das Hotel exquisit und hochpreisig war, wirkte die Atmosphäre entspannt. Der dunkelblaue Teppich mit den beigefarbenen Blumenornamenten schluckte Geräusche, die die Gäste machten. Mya sah aus den bodentiefen Bogenfenstern auf den See hinaus, wo die Sonne hinter den Bergen versank. Sie trank den letzten Schluck ihres Kaffees. Vorhin war sie am Lake Louise entlanggelaufen, hatte Fotos vom Hotel geschossen und sich drinnen umgesehen. Es kam ihr beinahe so unwirklich vor wie ihr Leben in London. Zu lange hatte sie zwischen dem Kinderheim, den Wohnwagenparks und Pflegefamilien gelebt, als dass es sich nun wie eine Selbstverständlichkeit anfühlte, hier zu sein. Obwohl sie in ihrem Job gut verdiente, gelang es ihr immer noch nicht, ausgelassen shoppen zu gehen. Sie bewunderte die Auslagen, befühlte die edlen Stoffe, verließ die Läden aber am Ende ohne etwas zu kaufen. Es war wie ein Zwang, der sie ihr Geld für vermeintlich schlechte Zeiten horten ließ.
»Gefällt dir der Ausblick?« Lewis war unbemerkt neben sie getreten und Mya zuckte zusammen.
Er setzte sich ihr gegenüber. »Du hast gar nichts gekauft«, bemerkte er mit einem Blick neben ihren Stuhl, wo sich bei den meisten anwesenden Damen die Einkaufstüten stapelten.
»Ich fürchte, ich bin keine typische Frau.« Mya betrachtete ihn. Lewis’ Haare waren zerzaust, entweder vom Wind oder seiner Mütze, und er stützte die Arme locker auf der polierten Tischplatte auf. Das legere Langarmshirt mit dem Logo der PCMS spannte an seinen Oberarmen. Im weichen Licht des Abends sah er besser aus denn je.
»Was schaust du so?«, wollte er wissen.
»Du solltest Model werden. Damit könntest du viel Kohle machen.«
Er runzelte die Stirn. »Ich war noch nie besonders gut darin, mein Gesicht in eine Kamera zu halten. Da fehlt mir der gewisse Kick.«
»Dann bleibst du lieber ein ehrenhafter Bergretter?«
Er runzelte die Stirn. »Hast du Hunger?«, fragte er, statt zu antworten.
Sie nickte unschlüssig. Die ganze Zeit, in der sie auf ihn gewartet hatte, hatte sie zwischen Vorfreude auf das gemeinsame Abendessen und dem Wunsch davonzulaufen geschwankt.
»Es tut mir leid, dass Daniel dich in seiner Ansprache erwähnt hat.« Er zögerte. »Die Leute schätzen deine Arbeit sehr und ich dachte, das solltest du wissen.«
»Hm.« Mya zupfte einen Fussel von ihrer Jeans. Sie konnte Lewis nicht länger in die Augen sehen. »Ist schon okay.«
»Du magst keine Menschen, ey?«
»Ich versuche sie zu meiden.«
»Warum?«
»Ich bin eben wie ein Hund, der schlechte Erfahrungen gemacht hat.«
»Aber du würdest niemals die Hand beißen, die dich füttert, oder?« Er legte den Kopf schief, bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
Mya schmunzelte. »Nein, das würde ich nicht.«
Lewis stand auf. »Dann komm!«
»Wohin gehen wir?«
»In die Waliser Stube.«
»Dafür bin ich nicht passend angezogen!« Sie erhob sich ebenfalls, nahm ihre Jacke vom Stuhl und sah an sich herunter.
»Du bist perfekt, wie du bist.« Lewis ergriff ihre Hand und zog sie hinter sich her. Mya folgte widerstrebend. Sie war erst vorhin an dem Restaurant vorbeigelaufen, hatte die Menükarte und vor allem die Preise studiert und festgestellt, dass man für ein Hauptgericht über fünfzig Dollar hinlegen musste.
»Wir können doch woanders essen gehen.«
Lewis blieb stehen und sie rannte ihn beinahe um. »Hör auf, dir Sorgen ums Geld zu machen, okay?«, raunte er ihr zu, während er sie für einen kurzen Moment zu sich heranzog. »Ich lade dich ein. Wer von meiner Mutter ständig mit Käsemakkaroni gequält wird, der hat sich ein anständiges Abendessen verdient.«
»Die sind wirklich genial«, protestierte Mya, doch Lewis ließ sie nicht ausreden. Bestimmend legte er ihr den Finger an die Lippen und Mya bemühte sich, nicht vor ihm zurückzuweichen.
»Ich habe Hunger. Schrecklichen Hunger. Und wenn du jetzt nicht mitkommst, breche ich zusammen. Hast du das verstanden?«
»Ja.« Mya nickte grinsend. »Das kann ich nicht zulassen.«
»Dachte ich mir.« Lewis ging weiter, ohne ihre Hand loszulassen.
Gemeinsam liefen sie durch den Gewölbegang, der mit imposanten Kronleuchtern aus geschwärztem Eisen erhellt wurde, zum Restaurant. Lewis schien tatsächlich Hunger zu haben, denn er hatte es eilig.
»Ein Tisch für Zwei«, erklärte er dem Herrn am Eingang, der sie mit Anzug und Krawatte empfing. Es klang förmlich, doch dann begrüßten sich Beide mit lässigem Handschlag.
»Lewis, altes Haus!« Der Bedienstete nickte Mya freundlich zu. »Wollt ihr einen Tisch am Fenster?«
»Damit machst du mich zum glücklichsten Gast an diesem Abend.«
»Kann ich mir denken.« Der Angestellte nahm zwei Menükarten aus einem Ständer neben der Tür und ging voraus. Lewis ließ Mya den Vortritt und sie folgte seinem Freund ins Restaurant hinein. Holzvertäfelte Wände umrahmten schweres Eichenmobiliar und mit hellem Leder gepolsterte Stühle. Das Licht war gedämpft und auf den Tischen brannten Kerzen. Direkt vor einem der bodentiefen Rundfenster rückte Lewis’ Freund einen Stuhl für sie zurecht und Mya setzte sich. Sie nahm die Menükarte entgegen und versteckte sich dahinter.
»Entspann dich«, sagte Lewis, nachdem er ebenfalls Platz genommen hatte, und lugte über die Karte. »Ich kenne hier selbst den Koch. Du kannst später gerne in der Küche beim Abspülen helfen, wenn du nicht möchtest, dass ich für dich bezahle.«
Mya kicherte und sah sich um. Die Gäste der Nebentische plauderten locker miteinander, niemand beachtete sie. Langsam senkte sie die Karte.
»Wo bist du aufgewachsen?«, fragte Lewis unumwunden.
»Weshalb willst du das wissen?«
»Damit ich weiß, wohin ich dich niemals zum Essen ausführe. Du scheinst zu denken, alle starren dich an.«
»Ich bin einfach keine teuren Restaurants gewöhnt.«
»Man munkelt, du stammst aus London.«
»Dort habe ich einige Jahre gelebt.« Mya entfaltete die Serviette. Lewis’ Fragen waren ihr unangenehm.
»Dein Dialekt ist verwaschen, aber du klingst eher amerikanisch.«
»Wird das ein Verhör?«
»Tut mir leid.« Lewis verzog den Mund. »Ich hatte bisher nur Dates mit kanadischen Frauen.«
»Das ist kein Date«, stellte Mya richtig und er lachte.
»Dann bin ich entschuldigt, denn für ein Nicht-Date gibt es keine Regeln.«
Mya versuchte sich zu beruhigen. Sie wollte nicht dieselben Fehler begehen wie bei Benjamin, dem sie ihre Vergangenheit erst viel später gestanden hatte. »Ich bin in einem katholischen Kinderheim in San Francisco aufgewachsen. Meine Eltern waren Drogenjunkies und ich war in vier verschiedenen Pflegefamilien. Am meisten hat mich die Zeit in Salinas geprägt, da mein Pflegevater ein Arschloch war. Er hat mich missbraucht. Doch zum Glück gab es meine zwei besten Freunde, die einfach alles für mich waren. Auch im Bett«, brach es aus ihr heraus, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte. »Als mir die Situation über den Kopf wuchs, ging ich von dort weg, wollte mein altes Leben hinter mir lassen und habe zehn Jahre in London gelebt.«
»Das ... wow!« Lewis rieb sich das Kinn.
»Ich kehrte zurück. Das war die falsche Entscheidung. Nun sind meine Freunde tot. Sie waren Mitglieder in einer Gang und ich habe sie in Schwierigkeiten gebracht. Deshalb bin ich Gift für jeden Mann«, fügte sie hinzu und stellte sich darauf ein, dass Lewis nun aufstand und ihr anbot, sie sofort nach Hause zu fahren. Das war es, was sie wollte. Das, was sie vor der seltsamen Sehnsucht beschützte, die sie in Lewis’ Nähe hatte.
Doch sein Blick ruhte auf ihr. Nachdenklich und interessiert. »Du haust diese Informationen einfach so heraus. Ich bin beeindruckt.«
»Ich denke, du solltest wissen, mit wem du es zu tun hast.«
»Mit wem habe ich es denn zu tun, Mya?«
»Mit jemanden, dessen Vergangenheit für die meisten Menschen nur schwer zu ertragen ist.« Sie stockte, denn der Kellner trat an ihren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Mya sah Lewis an und wartete auf eine Reaktion.
»Wir nehmen zweimal den Lachs«, sagte er schließlich. »Und dazu zwei Gläser von dem offenen Weißwein bitte.«
Der Kellner notierte die Bestellung, nahm die Karten an sich und ging davon.
»Woher weißt du, dass ich den Lachs bestellt hätte?«, fragte Mya.
»Aus demselben Grund, aus dem ich weiß, dass wir uns ähnlicher sind, als du vielleicht denkst«, erwiderte Lewis und griff über den Tisch nach ihrer Hand.
Zwei Stunden später saß Mya neben Lewis im Auto und genoss die Fahrt nach Hause. Es war ein angenehmes Abendessen, bei dem sie sich ganz entspannt unterhalten hatten. Lewis ging nicht weiter auf ihre Vergangenheit ein, sondern erzählte von sich. Von seinem Bruder, dessen Tod und den zerstörten Hoffnungen seiner Eltern. Aber auch von lustigen Erlebnissen aus der Kindheit, über die sie lachen musste. Mya seufzte wohlig. Es war lange her, dass sie einen derart ungezwungenen Abend erlebt hatte.
»Ich muss noch etwas erledigen. Ist es okay für dich, wenn wir einen Umweg fahren?«, fragte Lewis.
Mya drehte den Kopf und verneinte. »Lass dir ruhig Zeit mich nach Hause zu bringen.«
Sein Lächeln vertiefte sich. Er bog bei Castle Junction vom Highway ab und fuhr in Richtung Banff. Die Scheinwerfer des GMC durchschnitten die Dunkelheit. Kein Auto kam ihnen entgegen, es schien, als wären sie mutterseelenallein auf der Welt. Mya kuschelte sich in den Sitz und betrachtete die Sterne, die sie am klaren Nachthimmel anblinzelten. Kurz nach der Eisenbrücke, die den Bow River überspannte, bog Lewis rechts ab, fuhr in den Wald hinein und verringerte das Tempo.
Mya richtete sich auf. »Was tun wir hier?«
»Das siehst du gleich.« Er bremste ab, sah sich aufmerksam um. Mya spannte sich an. Irgendetwas stimmte nicht, sie spürte es deutlich. Instinktiv tastete sie nach ihrem Anschnallgurt, bereit ihn zu lösen, falls es notwendig war. Ihr Herz klopfte immer heftiger und sie starrte Lewis misstrauisch an. »Bring mich nach Hause!«, forderte sie ihn auf.
Er schüttelte den Kopf. »Vertrau mir, Mya. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Doch sie hatte Angst. Sie war in Situationen gewesen, die blanke Panik in ihr ausgelöst und sie geprägt hatten. Und ihr Instinkt sagte ihr, dass Lewis nicht hierhergefahren war, um mit ihr Bären zu beobachten.
In diesem Moment bemerkte sie das Aufblinken eines Scheinwerfers. Einmal, zweimal. Es kam aus dem Wald. Lewis erwiderte das Signal, stellte den Motor aus und deaktivierte die Innenraumbeleuchtung, bevor er ausstieg.
»Was wird das?«, wisperte Mya und schnallte sich ab.
»Bleib im Auto«, befahl er und ging zum Kofferraum. Mya hörte, wie er den Reißverschluss seines Rucksacks öffnete. Sie starrte in die Dunkelheit, versuchte, etwas zu erkennen. Auf dem Waldweg bewegten sich Schatten. Jemand war auf dem Weg zu ihnen!
Hastig tastete sie nach dem Türgriff und zog ihn auf, während sie das Geschehen durch die Windschutzscheibe fest im Blick behielt. Zwei Gestalten näherten sich dem GMC. Mya vermutete anhand der Umrisse, dass es Männer waren. Nur verschwommen hoben sich ihre Silhouetten von den nachtschwarzen Bäumen ab. Myas Atem ging schneller. Sie vernahm ein vertrautes Klicken und wusste mit Sicherheit, dass die Besucher bewaffnet waren. Zu lange hatte sie in Salinas gelebt. Sie kannte das Geräusch einer Waffe, die entsichert wurde. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Aufschrei. Waren diese Männer wegen ihr hier? Konnte es sein, dass die Nuestra Familia sie gefunden hatte? Der Schweiß brach ihr aus den Poren.
Ohne weiter nachzudenken, glitt sie seitwärts aus dem Wagen, froh darüber, dass Lewis die Innenraumbeleuchtung ausgeschaltet hatte. Sie hörte, wie er die Männer begrüßte, und pirschte sich auf der von ihnen abgewandten Seite am Auto entlang.
»Hast du das Paket?«
»Es ist im Wagen.«
Mehr musste sie nicht hören. Sie eilte geduckt über die Straße, um sich auf der anderen Seite hinter die Baumreihe zu retten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht Lewis zu vertrauen? Die Angst schnürte ihr die Kehle zu und sie lauschte in die Nacht. Die Männer redeten gedämpft miteinander. Mya sah sich um, doch es war zu finster, um etwas erkennen zu können. Sie kannte sich in der Gegend nicht aus und wusste nicht, wohin sie fliehen sollte. Angestrengt beobachtete sie das Geschehen, während sie krampfhaft überlegte, was ihr für Möglichkeiten blieben. Doch schon nach kurzer Zeit zogen die beiden dunklen Gestalten wieder ab. Mya lugte zwischen den Bäumen hervor, machte sich bereit, tiefer in den Wald vorzudringen, falls es nötig war. Lewis schien bemerkt zu haben, dass sie nicht mehr da war und rief gedämpft ihren Namen. Sie presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten.
»Mya!« Eilig rannte er über die Straße in ihre Richtung. »Komm raus! Ich fahre dich nach Hause, versprochen.« Direkt vor ihrem Versteck lief er auf und ab.
Mya bemühte sich nicht durchzudrehen. Achtsam bewegte sie sich von Lewis weg, aber die Dunkelheit ließ sie straucheln. Äste knackten und sie fluchte leise. Lewis hob sein Handy und leuchtete in ihre Richtung. Mya duckte sich, doch er kam immer näher. Sie entschloss sich, loszurennen, hastete kopflos durch den tiefschwarzen Wald, bis ihr ein Zweig ins Gesicht schlug, der ihr Tempo minderte. Schon packte Lewis sie am Arm und Mya schrie auf.
»Sei still!« Er presste ihr die Hand auf den Mund und Mya trat hysterisch um sich. Mit ganzer Kraft drückte Lewis sie gegen einen Baum, bezwang ihre Gegenwehr mit seinem Körper. »Ich tue dir nichts!«, hörte sie ihn sagen. Ihre Finger krallten sich in seine Oberarme und er spannte die Muskeln an. Sie konnte fühlen, wie der Druck gegen ihren Brustkorb zunahm. »Es tut mir leid! Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Wer war das?«, presste Mya hervor und rang nach Atem, den ihr Lewis’ Hand allmählich abdrückte.
Er senkte die Stimme. »Meine Kunden. Ich bin ein Bote, Mya. Ich sammle Päckchen ein, die Flugzeuge in den Bergen abwerfen.«
Mya spürte, dass er seinen Griff lockerte, und sog die Luft ein wie eine Ertrinkende. »Die Männer waren nicht wegen mir hier?«, keuchte sie.
»Nein!« Lewis ließ sie abrupt los. Schwer atmend verharrten sie voreinander. »Weshalb denkst du das?«
»Weil mein Leben ein einziges Chaos war, bevor ich hierherkam.« Mya fuhr mit der Zunge über ihre aufgeplatzte Lippe. Noch immer raste ihr Herz.
»Scheiße!« Er hob entschuldigend die Hände. »Ich bin solch ein Idiot!«
»Bist du nicht, du bist ein Arschloch, Lewis«, murmelte Mya, froh darüber, dass sich ihre Vermutung nicht bestätigt hatte.
Er senkte den Kopf, seine raue Wange streifte ihre. Mya stemmte ihre Hände an seine Brust.
»Lass mich in Ruhe!«, forderte sie.
»Nein, das werde ich nicht.« Er lehnte sich gegen sie, umfasste ihr Gesicht. »Ich habe dir gesagt, dass wir uns ähnlicher sind, als du denkst.«
»Und ich habe dir gesagt, dass ich Gift bin. Ich will dich nicht in meinem Leben! Außerdem habe ich zwei Männern gehört, die ich nicht vergessen kann.«
»Das stört mich nicht, Mya.« Seine Lippen verharrten dicht vor ihren. Sie spürte seinen Atem, als er flüsterte: »Du weißt, dass zwischen uns mehr ist, als du dir eingestehen willst. Ich kann auf dich aufpassen.«
»Nein«, erwiderte sie, doch seine Nähe machte sie an. Die Anspannung wich Erregung. Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen, aber Lewis hielt sie auf Abstand.
»Sag, dass du mich willst«, forderte er und umklammerte mit einer Hand ihren Nacken.
»Ich will dich.« Sie hatte es kaum ausgesprochen, als seine Lippen unbeherrscht auf ihre prallten. Mya hatte nicht mit dieser heftigen Erregung gerechnet, die sie in dem Augenblick empfand. Es war wie eine Explosion in ihrem Inneren. Sie klammerte sich an Lewis, der sie hochhob und forsch gegen den Baum presste. Die Erinnerung an etwas, das sie einmal gekannt hatte, verdrängte ihre Einsamkeit und vor allem ihre Vorsicht.
»Ich will dich auch«, murmelte er heiser zwischen ihren Küssen und Mya widersprach nicht.