Twenty
M ya lief in ihrer Wohnung auf und ab. Sie war wieder an dem Punkt, wo sie niemals mehr sein wollte.
Aufmerksam sah sie Lewis dabei zu, wie er Vorräte zusammenpackte und sich weitere Ausrüstungsgegenstände aus Phils Kiste holte. Inzwischen stapelten sich die Dinge in der Mitte des Raumes. Das Herz bebte in ihrer Brust und sie bemühte sich, ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen. Denk nach, hämmerte sie sich ein, wer könnte dich sonst noch suchen? Doch ihr fiel niemand ein. Sie hatte keine Familie und vor allem keine Freunde mehr. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie vollkommen alleine, ganz ohne Rap und Exx, zu denen sie sich hätte flüchten können.
Einzig Lewis war hier. Sie ließ ihn nicht aus den Augen und war sich unsicher, ob sie ihm vertrauen konnte. Die Nacht mit ihm war ein Fehler gewesen. Sie mochte Lewis, fühlte sich zu ihm hingezogen, aber am Ende hatte sich der Sex ebenso ernüchternd angefühlt wie schon so oft in ihrem Leben. Es war ihr nicht möglich, sich richtig gehen zulassen, und sie war erleichtert, dass Lewis zu erregt war, um ihr Liebesspiel noch länger auszudehnen. Kein Mann würde ihr Rap oder Exx je ersetzen können. Sie hasste sich für diesen Gedanken, weil sie sich damit selbst wehtat, aber am Ende hatte er sie zur Vernunft gebracht. Lewis war nicht gut für sie. Er suchte das Abenteuer und Mya war eine weitere willkommene Abwechslung in seinem eintönigen Alltag. Sie war kein langweiliges Canuckleberry Mädchen, auch wenn sie sich das manchmal wünschte, sondern eine Frau mit blutiger Vergangenheit, die nicht aufhörte, sie zu verfolgen.
»Wir sollten gehen«, sagte sie und Lewis nickte geistesabwesend.
Manchmal kam er ihr vor, als befände er sich nicht in der Realität, sondern in einem Action-Adventure vor dem Computer, bei dem selbst der Tod seines Bruders nicht zu ihm durchdringen konnte. Er lebte für das Adrenalin, ohne zu verstehen, dass er keine unsterbliche Spielfigur war. Und dieser Typ sollte ihr nun dabei helfen, jemandem zu entkommen, der sie kannte. Jemand, der wusste, wo sie war, obwohl sie sich niemandem anvertraut hatte. Selbst Benjamin hatte keine Ahnung, wohin sie gegangen war. Es war ihr ein Rätsel, wer nach ihr suchen sollte. Außer natürlich ... Ihr Magen zog sich beim Gedanken an die Nuestra Familia schmerzhaft zusammen. Wenn tatsächlich die berüchtigtste Gang von ganz Nordkalifornien hinter ihr her war, hatte sie kaum eine Chance. Mya rieb sich die Stirn. Es war wichtig, dass sie herausfand, wer nach ihr suchte. Sie musste sich auf ihren Instinkt verlassen.
»Bist du soweit?« Lewis klatschte auffordernd in die Hände.
Würde sie das jemals sein? Mya nickte und schulterte ihren Rucksack. Sie sah sich in der Wohnung um, um sich zu verabschieden. Sie hatte gerne hier gelebt, obwohl es anders gewesen war als erwartet, aber sie wusste mit plötzlicher Sicherheit, dass sie nicht mehr zurückkehren würde.
Lewis drängte sie zur Tür. »Wenn meine Mutter fragt, dann sag ihr, ich fahre dich zur Arbeit.« Mya nickte und folgte ihm hinaus.
Kaum waren sie ums Hauseck, schon lugte Mrs. Kenwood aus einem der Fenster. »Guten Morgen, Mya!« Sie lächelte und ihr Blick flog zwischen ihr und Lewis hin und her. »Wohin fahrt ihr denn?«
»Lewis fährt mich zur Arbeit.«
»Es gibt ein Problem mit der App, Mom. Das sagte ich doch schon.«
»Natürlich.« Mrs. Kenwood nickte. »Soll ich heute Abend etwas für euch kochen?«
»Nein danke«, murmelte Mya, während Lewis bejahte. Sie sah ihn an und er zog sie mit sich. »Wir müssen uns beeilen. Bis später Mom!«
»Warum zum Teufel hast du das gesagt?«, zischte sie ihm zu und verstaute ihren Rucksack in seinem GMC.
»Damit sie ehrlich antwortet, wenn der Motorrad-Typ hier vorbeikommt und sie fragt, wo du bist. Sie wird sagen, du bist zum Abendessen zurück. Das verschafft uns Zeit.«
Mya nickte. Vielleicht war es doch hilfreich, Lewis an ihrer Seite zu haben. Sie hielt ihn am Ärmel fest, bevor er einsteigen konnte. »Wir brauchen eine Waffe!«
Er öffnete die Fahrertür und gab ihr zu verstehen einzusteigen. Als sie ihm gehorchte und auf den Beifahrersitz rutschte, griff er unter den Sitz und zog eine Pistole hervor. »Das ist eine Glock 19. Kennst du dich damit aus?«
Sie nahm die Waffe an sich, ließ das Magazin herausfallen und stellte sicher, dass es voll war. Dann drückte sie es wieder hinein und entsicherte die Pistole. Lewis hob eine Augenbraue und startete den Motor. »Behalt sie und setz dich auf den Rücksitz.« Schwungvoll wendete er das Auto und fuhr zurück in Richtung Banff Avenue.
Mya tat, was er sagte. Sie stierte aus dem Fenster, die Waffe lag schwer in ihrer Hand. Es war Jahre her, seit sie eine benutzt hatte, doch es hatte Zeiten gegeben, in denen sie es beruhigend fand, eine Glock abzufeuern. Sie konnte schießen, dafür hatten Rap und Exx gesorgt. Und ihre Erfahrungen in Salinas im letzten Jahr hatten sie gelehrt, dass sie bereit sein musste zu töten.
Lewis bog nach rechts ab und Mya betrachtete den schneebedeckten Cascade Mountain, der sich in ihr Blickfeld schob. Noch vor wenigen Tagen war sie hier gejoggt, hatte die klare Luft in ihre Lungen aufgesaugt und darunter gelitten, dass ihre Freunde tot waren. Doch nun ging es um ihr eigenes Leben. Wieder einmal holte sie ihre Vergangenheit ein und stülpte sich unbarmherzig über die Gegenwart. Es schien, als könnte sie nichts tun, um das zu ändern. Ihr Schicksal war unausweichlich mit den Gangs von Salinas verbunden. Vielleicht war endlich der Moment gekommen, an dem sie so endete wie ihre beiden besten Freunde. Sie erschauerte und spürte, dass sie nicht bereit dafür war. Es womöglich nie sein würde oder noch nicht lange genug geflohen war, um die Hoffnung zu verlieren. Der Griff um die Glock verhärtete sich und sie kletterte entschlossen zurück auf den Vordersitz.
»Ich muss dem Kerl ins Gesicht sehen«, murmelte sie und schlug Lewis’ Hand weg, der sie daran hindern wollte, nach vorne zu kommen. »Ich habe versprochen zu leben, aber ich werde es nicht können, wenn ich mich nicht wehre.«
»Wem hast du das versprochen?«
»Rap und Exx.«
»Deinen Freunden?«
Sie nickte. »Ich bin nicht unschuldig am Tod meines Pflegevaters. Ich habe ihn damals auf einen Parkplatz gelockt und dabei zugesehen, wie die Beiden ihn erschossen haben. Darauf bin ich nicht besonders stolz. Manchmal denke ich, ich hätte den Mut haben sollen, es selbst zu tun anstatt sie mithineinzuziehen.« Die Wahrheit schmerzte und verdrängte für kurze Zeit ihre Anspannung. »Jahre später fand man die Leiche und ich kehrte aus London in die USA zurück, um eine Aussage zu machen. Dort traf ich meine beiden Freunde wieder. Wir ließen uns erneut aufeinander ein und ich hoffte die ganze Zeit, dass ich sie davon überzeugen kann, einen anderen Weg zu gehen. Einen, der sie raus aus Salinas führt. Doch je länger ich blieb, um sie zu retten, desto schlimmer wurde die Situation. Am Ende mussten sie mich retten und gingen dabei drauf.«
Er schien die Information verdauen zu müssen. Seine Gesichtsmuskulatur zuckte. »Was willst du tun?«, fragte er nach einer Weile.
»Ich werde mich nicht verstecken.«
»Sondern?«
»Ich tue das, was ich schon längst hätte tun sollen: Mich der Situation stellen.«
Lewis sah sie an, als wäre sie komplett übergeschnappt, und Mya fuhr fort: »Wir locken den Typen aus der Stadt.« Bedeutungsvoll hob sie die Waffe.
Lewis versteifte sich. »Bisher habe ich nur auf Zielscheiben geschossen.« Sie sah, dass sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. »Ich meine, was sollten wir mit der Leiche tun?«
»Gibt es in diesen unendlichen Bergen keinen Ort, an dem man jemanden für immer verschwinden lassen kann?«
»Du meinst das wirklich ernst, oder?« Auf seinem Gesicht spiegelte sich ein Anflug von Entsetzen wieder.
»Es tut mir leid«, lenkte sie ein. »Ich dachte nur, weil du tust, was du tust ...« Die Erkenntnis ließ ihre Angst zurückkehren. Lewis war nicht wie Rap oder Exx und würde es nie sein. Deshalb war es unfair von ihr, ihn in etwas hineinzuziehen, dass sein Vorstellungsvermögen überstieg. Das hier war kein Botengang für die Mafia, das hier war eine Vendetta.
»Für wen hältst du mich eigentlich?« Er trat vor einer roten Ampel so hart auf die Bremse, dass sie in den Gurt gepresst wurde. »Ich bin kein Killer, Mya! Aber mir liegt etwas an dir und ich lasse nicht zu, dass man dir wehtut.«
»Ich kann dir nicht sagen, was in den nächsten Stunden auf uns zukommt, Lewis, doch ich möchte nicht, dass du bereust, mir geholfen zu haben.«
Aufgebracht hieb er auf das Lenkrad ein. »Fuck, Mya! Wenn das ein Spiel ist, um dich wegen der Sache mit der App zu rächen, dann ist das nicht lustig!«
»Es ist kein Spiel«, sagte sie ernst und fügte beinahe tonlos hinzu: »Ich wünschte, es wäre eins.«
»Du hast tatsächlich vor, jemanden umzulegen?«
»Ich weiß es nicht!«, schrie sie ihre Panik hinaus. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, Lewis! Aber ich weiß, dass die Nuestra Familia zu allem fähig ist. Letztes Jahr haben sie mich beinahe umgebracht und ich schwöre dir, dass ich alles tun werde, um ihnen nie wieder in die Hände zu fallen.«
Die Ampel sprang auf Grün und Lewis fuhr mit quietschenden Reifen an. »Sag mir, wie ich dir helfen kann«, erwiderte er.
»Hast du eine zweite Waffe?«, fragte Mya und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Mit Genugtuung registrierte sie, dass er nickte. Er raste um die nächste Kurve und beschleunigte den GMC, als wollte er seinem Unmut über die Situation Ausdruck verleihen.
Mya hielt sich am Türgriff fest. In diesem Moment traf es sie wie ein Blitz. Die ganze Zeit hatte sie bereits Ausschau nach einer Harley gehalten und nun sah sie eine marode Panhead, die unauffällig zwischen parkenden Autos vor einem Wohnblock abgestellt worden war. »Da ist er!« Mit dem Kinn deutete sie auf den Mann, der gerade das Verwaltungsgebäude von Parks Canada betrat.
Lewis verringerte die Geschwindigkeit. »Was jetzt?«
»Ich gehe rein.« Mya rauschte das Blut in den Ohren. »Er wird mich nicht vor allen Leuten umbringen.« Sie wusste nicht, ob sie damit recht hatte. Aber sie hoffte es.
»Spinnst du?« Lewis fuhr auf den Parkplatz und sah sich nervös um.
»Ich muss es wissen!« Mya war in Gedanken bereits woanders und öffnete die Tür, bevor das Auto zum Stillstand kam. »Ich bin gleich wieder da.«
»Mya!« Lewis hielt sie fest. »Pass auf dich auf.«
Sie schnallte sich ab, steckte die Waffe in ihren Hosenbund und nickte ihm zu. Es war dumm, was sie tat, aber es war die einzige Möglichkeit, Gewissheit zu bekommen. Hastig stieg sie aus und warf die Tür hinter sich zu. Die Panhead war kein typisches Motorrad eines Clubs. Das bedeutete, dass der Typ weder von der Green Army noch von der Nuestra Familia war. Doch wer war er dann?
Ohne sich umzusehen, ging Mya auf das Gebäude zu. Sie spürte das kalte Metall der Glock auf ihrer nackten Haut und wurde das ungute Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Hatte sie bereits jemand im Fadenkreuz seines Zielfernrohrs? Sie bemühte sich, ihre Schritte nicht zu beschleunigen. Dennoch saß ihr die Furcht derart im Nacken, dass sie die Doppeltür hektisch aufriss und ins Innere flüchtete. Dort blieb sie stehen, atmete bewusst ein und aus, um sich zu beruhigen, und lugte aus dem Fenster. Alles war unauffällig. Sie hörte die Telefone klingeln und die Stimme einer der Empfangsdamen, die sagte: »Tut mir leid, Mr. Jones, Miss Munroe ist noch nicht zur Arbeit erschienen. Kann ich ihr etwas ausrichten?«
Myas Herzschlag beschleunigte sich. Sie vernahm eine tiefe Stimme, die »Nein, danke« brummelte. Schritte bewegten sich in ihre Richtung.
»Ach, Mya, da bist du ja!« Sarah Murphy kam aus der Toilette neben dem Eingang und Mya drehte sich um. Aus den Augenwinkeln erkannte sie den Schatten eines Mannes, der am Ende des Flurs um die Ecke bog.
»Ich muss weg!«, flüsterte Mya und rannte Sarah beinahe über den Haufen. »Mir geht’s nicht gut. Ich bin krank.«
»Mya, warte! Ich würde gerne etwas mit dir besprechen ...«
»Ein anderes Mal, Sarah.« Mya drückte die Eingangstür auf und hastete hinaus. In ihrem Rücken hörte sie, dass sich die Schritte des Mannes beschleunigten. Sie rannte los. Beinahe erwartete sie, dass Lewis sich aus dem Staub gemacht hatte, aber das Auto stand noch an derselben Stelle. Lewis hatte den Motor des GMC gar nicht erst ausgemacht und stieß von innen die Beifahrertür auf, als er sie auf sich zulaufen sah. Mit einem Satz war Mya im Wagen, griff nach ihrer Waffe und schrie: »Fahr los!«
Lewis trat das Gaspedal durch und Mya wurde in den Sitz geschleudert. Sie starrte aus dem Fenster und sah den Mann, der aus dem Gebäude stürmte. Für eine Sekunde sahen sie einander an, dann entschwand er ihrem Blick. Mya glaubte, die Welt um sie herum würde mit einem lauten Knall zerplatzen.
»Was ist passiert?« Lewis raste über den Parkplatz und schoss zurück auf die Straße. Ein Auto hupte und Mya verdrehte den Kopf, um sicherzustellen, dass ihr wirres Gehirn ihr keinen bösen Streich gespielt hatte. Sie sah die vertraute Gestalt im Rückfenster immer kleiner werden, bis sie gänzlich hinter einer Mauer verschwand. Sämtliche Nervenenden in ihrem Magen zogen sich zusammen, ihr wurde speiübel.
»Das kann nicht sein!« Sie presste sich die Faust vor den Mund, rang nach Atem. Es war, als hätte ihr Körper Gift aufgenommen, das sie innerlich zersetzte.
»Wohin soll ich fahren?« Lewis beobachtete sie besorgt.
»Geradeaus. Fahr einfach weiter. Verfolgt er uns?« Mya ließ das Fenster herunter und inhalierte die kalte Luft. Reiß dich zusammen, schalt sie sich selbst, das kann nicht sein. Das ist völlig unmöglich!
»Wer ist dieser Typ?« Lewis rüttelte an ihrem Arm. »Kennst du ihn?«
»Ich weiß es nicht.« Mya schluckte ihr Entsetzen hinunter, die Hoffnung, die Qual und die Sehnsucht nach jenem Menschen, den sie gerade geglaubt hatte, vor sich zu sehen. Exx. Was war hier los, verdammt?
»Rede mit mir, Mya!« Lewis warf einen Blick in den Rückspiegel. »Er ist auf die Straße abgebogen und verfolgt uns. Soll ich ihn abhängen?«
»Nein, lass ihn aufholen.«
»Wie bitte?«
»Ich muss die Wahrheit erfahren.« Die Übelkeit ging in unkontrolliertes Zittern über. Mya sicherte die Waffe und legte sie zur Seite. Mit starrem Blick fixierte sie ihre zitternden Finger. »Fahr irgendwo hin, wo wir alleine sind.«
»Du denkst wirklich, das ist eine gute Idee?«
»Ich habe momentan keine andere, Lewis.«
»Verrätst du mir wenigstens, was mich dort erwartet? Muss ich mich darauf einstellen, von Kugeln durchsiebt zu werden, oder veranstaltet ihr ein gepflegtes Duell mit mir als eurem Adjutanten?«
»Alles ist möglich.« Mya war bemüht, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, obwohl mit einem Mal nichts mehr so war wie noch vor wenigen Minuten.
Lewis streichelte beruhigend ihre Finger. »Meine zweite Waffe ist im Kofferraum. Wenn du die Durchreiche in der Mitte des Rücksitzes öffnest, dann kannst du sie fühlen. Sie steckt rechts in einem Fach vor dem Warndreieck.«
»Ich brauche sie nicht.« Mya schlang die Arme um ihren Oberkörper. Sie fühlte sich, als hätte sie Schüttelfrost.
»Er holt auf. Der Kerl fährt, als sei der Teufel hinter ihm her.« Lewis’ Blick wirkte besorgt.
»Er ist der Teufel«, stöhnte Mya und erkannte ihren Verfolger im Außenspiegel. Die Art, wie er auf dem Motorrad saß, sein Bart, der Helm, die Gesichtszüge. Sie umklammerte ihren Kopf und glaubte, verrückt zu werden. In Salinas hatte es viele Leute gegeben, die dort an ihrem Leben zerbrochen waren. Sie landeten alle im Heritage Oaks Krankenhaus in Sacramento und niemand hörte je wieder etwas von ihnen. War das auch ihr Schicksal?
»Wer ist das?«, fragte Lewis schneidend. »Ich denke, du schuldest mir eine Erklärung, bevor ich draufgehe.«
»Ein Geist.«
Lewis hätte nicht erstaunter aussehen können.
»Er ist tot«, bestätigte Mya und richtete sich auf. »Das hat man mir gesagt. Er wurde erschossen.«
»Ist er Freund oder Feind?«
»Wenn ich das nur wüsste.«
Lewis bog ab und fuhr parallel zum Highway in den Wald hinein. Er überholte ein Wohnmobil und einen Kleinlaster, bevor sich die Straße menschenleer vor ihnen ausbreitete, einzig gesäumt von hohen Tannen. »Bevorzugst du eine Lichtung oder den dunklen Wald für deine Hinrichtung?«, wollte er wissen und Mya warf ihm einen bösen Blick zu.
Lewis zuckte die Schultern und Mya hörte das Donnern der Harley hinter sich. Der Zeitpunkt der Wahrheit rückte näher. Ihr Herz überschlug sich und ihr Magen rebellierte erneut.
Kurze Zeit später bog Lewis auf einen geschotterten Waldweg ab, rumpelte über den von Wurzeln zerfurchten Pfad und blieb schließlich in der Einöde stehen. Er stellte den Motor ab, kroch auf die Rückbank und nahm die zweite Waffe an sich. Mya schüttelte den Kopf. »Lass das, Lewis. Ab hier komme ich alleine klar.«
»Verzeih mir, wenn ich vorsichtig bin, Mya, aber deine ganzen Geschichten tragen nicht gerade dazu bei, dass ich mich besser fühle.« Sein Galgenhumor klang gequält und sie sah die Sorge in seinen Augen. Er verstand nicht, was hier vor sich ging. Sie wusste es ja selbst nicht.
Entschlossen nahm sie die Glock an sich und öffnete die Beifahrertür. Die Harley knatterte heran und blieb in einiger Entfernung stehen. Mya entsicherte die Waffe, hielt sie mit beiden Händen, den Lauf nach unten gerichtet. Das gab ihr Sicherheit im Moment, in dem ihr drohte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Ihr Verfolger stieg ab. Seine Bewegungen waren zu vertraut, um sie weiterhin zu ignorieren. Mya richtete die Waffe auf ihn. Er fixierte sie, nahm seinen Helm ab und Mya lehnte sich gegen die Motorhaube, um nicht zusammenzubrechen. Für einige Atemzüge sahen sie einander an. Sie spürte, wie die Erkenntnis langsam zu ihr durchdrang. Er lebte. Hatte es die ganze Zeit getan. All die Monate, in denen sie um ihn geweint hatte.
»Die ganzen verdammten Monate«, krächzte sie, bevor sich ihre Stimme fing und sie ihn anschrie: »Die ganzen verdammten Monate hast du gelebt!« Sie ging auf ihn zu, die Glock mitten auf sein Herz gerichtet. Sie wollte es durchbohren, ihm denselben Schmerz zufügen, den er ihr zugefügt hatte. »Du blödes Arschloch! Du verdammter Hurensohn! Wieso hast du mich in dem Glauben gelassen, du seist tot?« Ihr Schreien wurde hysterisch und hallte von den umliegenden Bäumen wieder. »Du mieser Dreckskerl, ich hasse dich! Ich hasse dich, Exx!«
Er rührte sich nicht. Der Wind wehte ihm die Haare ins Gesicht, die sich in seinem Bart verfingen. Er wischte sie nicht fort.
Mya blieb stehen. Sie war völlig außer Atem, so als wäre sie einen Marathon gelaufen. »Kommt Rap jetzt auch jeden Moment um die Ecke?« Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel.
Exx schüttelte den Kopf. »Er ist tot, Mya. Das weißt du doch.«
»Aber du bist es nicht. Warum?«
»Cringe Callahan hat mich verfehlt. Er hat nur mein Ohr getroffen. Ich habe überlebt und wurde ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen.«
Die Waffe zitterte in ihrer Hand. »Und deshalb hast du mich einfach im Stich gelassen? Nach all dem, was wir im letzten Jahr zusammen durchgemacht haben?« Er schwieg und machte sie damit nur wütender. »Sheriff Mason hat mir gesagt, du seist tot. Ich war im Krankenhaus, wusstest du das gar nicht?«
»Doch, das wusste ich.«
»Und trotzdem bist du gegangen und hast eine neue Identität angenommen?« Fassungslos schluchzte sie auf. »Ich habe dich gebraucht! Ich bin zurückgekommen, um dir das zu sagen.«
In seinem Gesicht zuckte es. »Es ging immer nur darum, dass du überlebst, Mya. Auf diese Weise hast du es getan.«
»Aber ich wollte nicht ohne euch leben!«, schrie sie sich die blutenden Wunden von der Seele. Es war, als hätte er mit seinem Auftauchen alle Narben wieder aufgekratzt. »Ich wollte, dass ihr ebenfalls lebt.«
»Du weißt, das war unmöglich.«
»Weil du niemals daran geglaubt hast!« Die Tränen flossen, ohne dass sie es wollte, und vernebelten ihr die Sicht. Sie blinzelte und schluchzte, zielte weiter auf sein Herz.
»Mya.« Er machte einen Schritt auf sie zu und ein Schuss knallte.
»Rühr sie nicht an, du Arschloch.« Mya hatte Lewis’ Anwesenheit völlig vergessen und sah gerade noch, dass Exx blitzschnell eine Waffe zog. Intuitiv stellte sie sich zwischen die beiden Männer.
»Was ist das für ein Clown?«, knurrte Exx. Sein Blick war so konzentriert, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Mya hatte ihn schießen sehen. Und treffen. Er war auf der Straße groß geworden. Waffen waren ihm so vertraut wie anderen ihr Kugelschreiber, nur dass er seine Geschichten mit Blut schrieb.
»Hör auf mit dem Scheiß, Lewis!« Sie sah über ihre Schulter und gab ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen, die Waffe zu senken.
»Wer ist das, Mya?«, fragten beide Männer wie aus einem Mund.
Mya spürte die Absurdität der Situation und hätte beinahe gelacht. »Lewis, das ist Exx, einer meiner toten Freunde aus Salinas. Exx, das ist Lewis, mein ...«
»Neuer lebender Freund«, vollendete dieser den Satz und Exx sah aus, als würde er jeden Moment abdrücken.
»Fickt ihr nur oder ist da mehr?«, fragte er angespannt.
»Das geht dich verdammt nochmal nichts an.« Die Tränen ließen Myas Stimme brechen.
Exx schnaubte. »Wer ist er?«
»Er ist der örtliche Großkriminelle.« Mya verzog den Mund und wusste nicht warum. Sie lachte und weinte gleichzeitig. »Er schmuggelt Drogen für die Mafia.«
»Im Ernst?« Exx’ Anspannung löste sich merklich. »Du hast einen Riecher für solche Jungs, was?«
»Ich habe einfach nur Pech.«
Lewis und Exx belauerten sich, als wollten sie herausfinden, wer das Alpha-Männchen von ihnen war.
»Schluss damit!« Mya ging zu Lewis und drückte den Lauf seiner Waffe zu Boden. »Es ist okay.«
»Warum nennst du ihn Exx? Weil er dein Ex-Lover ist?« Er sah sie an. »Weshalb ist er hier, wenn er doch angeblich im Zeugenschutzprogramm ist?«
»Ich weiß es nicht.« Mya kaute auf ihrer Unterlippe. Er hatte recht. Sie drehte sich um und sah den Freund ihrer Kindheit an. Er hatte schon immer gefährlich ausgesehen, aber an diesem Tag wirkte Exx, als sei er einem Fahndungsfoto entsprungen.
Er senkte ebenfalls seine Waffe. »Können wir reden?«
»Ist das eine Falle?« Die Bemerkung traf ihn, sie sah es an der steilen Falte, die sich zwischen seinen Augen bildete. Sie kannte ihn zu gut.
»Nur weil ich die Seiten gewechselt habe, bedeutet das nicht, dass ich meine Ehre verloren habe.« Mürrisch steckte er die Ruger zurück in den Hosenbund.
»In Kanada ist es verboten, verdeckte Waffen zu tragen«, sagte Lewis und Exx grinste.
»Ich bin noch nie von einem Drogenschmuggler belehrt worden. Ihr kanadischen Gangster haltet euch wohl für besonders staatstreu.«
Ehe Lewis eine wütende Antwort geben konnte, hob Mya die Hände. »Hört schon auf!« Sie beugte sich zu Lewis. »Ich werde mit ihm reden, okay? Mach bitte keine Dummheiten.«
Er wandte sich brüsk ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Mya sah ihm an, dass ihm die Situation nicht gefiel und er am liebsten abgehauen wäre. Doch auch wenn es egoistisch war, wollte sie nicht, dass er fuhr. Sie war noch nicht bereit, mit Exx alleine zu sein.
Langsam ging sie auf ihn zu und kam sich dabei vor, als näherte sie sich einem tollwütigen Bären. Er stützte die Hände in die Hüften und sah ihr ruhig entgegen.
»Mya.« Wieder sprach er ihren Namen aus. Es war die Art, ihr seine Zuneigung zu bekunden. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht erneut in Tränen auszubrechen.
Mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu ihm blieb sie stehen. Sie sah sein vernarbtes Ohr und schluckte das Mitgefühl hinunter. Es war sein Plan gewesen, zu sterben. Er hätte tot sein sollen, aber er war es nicht. Noch immer begriff sie nicht ganz, dass er leibhaftig vor ihr stand.
»Die Empfangsdame nannte dich Jones. Ist das jetzt dein Name?«
Er nickte. »Travis Jones. Ich durfte den Vornamen behalten. Die Behörden sind der Ansicht, wenn ein Teil erhalten bleibt, dann würde man nicht ständig seine neue Identität überhören.«
»Wo wohnst du?«
»Storm Lake, Iowa.«
Sie hob das Kinn. »Und weshalb bist du hier?«
»Wegen dir.«
Seine Worte zerrissen sie innerlich. Sie hatte Angst vor dem, was er ihr sagen wollte und dass er sie anschließend wieder verließ. Die Nachricht seines Todes hatte sie kaum verkraftet, doch wie sollte sie weitermachen, wenn sie wusste, dass er noch lebte?
Er schien ihre Schmerzen zu spüren und fuhr rasch fort: »Es gab einen Toten im San Quentin. Der Anführer der Aryan Brotherhood wurde von einem Green Army Mitglied ermordet.«
Mya hob die Augenbrauen. »Sind die Ayrans und die Army nicht Verbündete?«
»Das waren sie. Bis jetzt. Doch wie es aussieht, ist der neue Bündnispartner der Army die Nuestra Familia.«
»Die Familia!« Sie spürte die altbekannte Panik, sah sich wieder in den Händen der mexikanischen Gang und fühlte die schrecklichen Erlebnisse, als wären sie erst gestern geschehen. »Was hat das zu bedeuten, Exx?«
Er rührte sich nicht, ging nicht auf sie zu, um sie zu trösten, sondern wahrte wie sie selbst den Abstand. »Der zuständige U.S. Marshall für meinen Fall meint, es ginge um Blutrache.«
Myas Übelkeit kehrte mit einem Schlag zurück. »Suchen sie nach mir?«
»Und nach mir. Vermutlich wollen sie dich als Köder, um mich aus meinem Versteck zu locken. Sie wollen Vergeltung. Meinen und deinen Kopf.«
»Deshalb bist du hier«, murmelte sie mit ungläubigem Verständnis, das wie ein Hurrikan über sie hereinbrach. Nun hatte sie Gewissheit.
»Deshalb bin ich hier«, bestätigte er und sie wunderte sich, wie er so gelassen bleiben konnte. »Ich bin 24 Stunden durchgefahren und glaub mir, das war kein Spaß. Der Sattel der Panhead hat sich vermutlich inzwischen in meinen Arsch graviert. Vor einigen Tagen gab es einen Einbruch in das Haus deiner leiblichen Mutter. Die suchen also bereits nach dir.«
»Das Haus meiner Mutter?« Mya hielt den Atem an. Ihr ganzes Leben hatte sie darunter gelitten, dass ihre Eltern sie in ein Waisenhaus gesteckt hatten. Sie war immer zu feige gewesen, nach ihnen zu suchen, doch dann stellte sich heraus, dass ihr Vater ein beschissener FBI-Informant war und sein Erbe an sie Blutrache hieß. Sie wollte sich nicht ausmalen, welche Geheimnisse ihre Mutter hütete.
»Verstehst du, was ich dir damit sagen will?« Sein Blick bohrte sich in den ihren.
»Die wissen womöglich längst, wo ich bin.«
»Hast du irgendetwas beobachtet? Kam dir etwas merkwürdig vor?«
»Nein.« Mya schüttelte den Kopf. »Ich meine, mein ganzes Leben hier fühlte sich merkwürdig an, aber erst heute Morgen, als Lewis zu mir kam und mir gesagt hat, dass ein Typ in der Bäckerei nach mir gefragt hat, wurde ich misstrauisch.«
Exx starrte zu Lewis hinüber. »Was ist dein neuer Freund für ein Typ? Wie steht ihr zueinander?«
Mya wand sich. »Ich brauchte einen Kumpel«, gab sie zu, auch wenn sie keine Lust hatte, sich vor Exx zu rechtfertigen. »Ich fühlte mich verloren ohne euch.«
»Also liegt dir nichts an ihm?«
»Weshalb fragst du?«
»Weil wir keine Zeugen brauchen. Die Familia ist brutal. Wenn sie ihn in die Finger bekommen, werden sie ihn zum Reden bringen, das weißt du. Besser er verschwindet vorher.«
»Auf keinen Fall!«, fuhr Mya ihn an. »Er hat nichts damit zu tun.«
»Also magst du ihn.« Sein Gesichtsausdruck wurde hart. »Wie stellst du dir das vor? Macht er mit? Hilft er uns?«
Mya senkte ihre Stimme: »Er ist ein Adrenalinjunkie, Exx. Ich glaube, er hat noch immer nicht verstanden, wie ernst die Lage ist. Er schmuggelt Drogen, weil er sich dann wie ein harter Kerl fühlt.«
»Und? Ist er es? Du solltest es wissen, wenn du die Beine für ihn breitgemacht hast.«
»Du bist noch derselbe Arsch wie früher.«
»Wundert dich das?«
Mya funkelte ihn an. »Wenn du es genau wissen möchtest, wollte ich für ihn die Beine breitmachen.«
»Dann weiß ich ja Bescheid.« Er grunzte verächtlich. »Sollte der Typ Probleme machen, leg ich ihn um.«
»Das heißt, du übernimmst jetzt das Kommando?«, fragte Mya herausfordernd. »Kettest du mich an dich, um mich zu beschützen? Oder hast du andere heroische Pläne?«
Er sah aus, als wollte er sie packen, um ihr den Hintern zu versohlen. Vermutlich dachte er tatsächlich darüber nach. Mya spürte kurzzeitige Erregung und ärgerte sich über das Gefühl. Sie war in Gefahr und Exx’ Anwesenheit machte es nicht besser. Gemeinsam waren sie der Jackpot für die rachsüchtigen Gangmitglieder.
»Gibt es die Möglichkeit, sich hier irgendwo zu verstecken? Ich möchte die Stadt beobachten, um herauszufinden, ob sie uns auf den Fersen sind.«
Mya nickte und winkte Lewis zu sich heran. Er kam näher und bewegte sich dabei gezwungen lässig.
»Hat der Typ dicke Eier oder warum läuft er so?« Exx krauste die Stirn.
»Halt einfach die Klappe. Er kann uns helfen, okay?« Mya lächelte Lewis an und sah sofort, dass er sich immer noch nicht wohl in seiner Haut fühlte. Sie zog ihn zur Seite, damit Exx nicht alles hörte, was sie ihm zu sagen hatte. »Erinnerst du dich daran, dass ich Angst hatte, als du mich zu deiner Drogenübergabe mitgenommen hast?«
Er nickte und ließ Exx nicht aus den Augen.
»Ich habe dir das von meinem Vater erzählt und davon, dass die Nuestra Familia nach Blutrache sinnt. Es scheint, als wäre es nun soweit. Die suchen mich und ich bin tatsächlich in Gefahr, Lewis.«
Er nickte erneut, sah sie an. »Ich kann ihn nicht ausstehen«, erklärte er. »Woher weißt du, dass er nicht mit denen unter einer Decke steckt?«
»Weil wir dann längst tot wären.« Sie sah ihn schlucken und fuhr fort: »Die Nuestra Familia hat sich mit Exx’ ehemaliger Motorradgang verbündet. Er ist ein Verräter und deshalb wollen sie ihn hinrichten. Ich bin der Köder. Beide Gangs profitieren davon. Sie wollen uns umbringen.«
»Wenn er ein Verräter ist, wie kannst du ihm dann vertrauen?«
»Weil ich es schon immer getan habe. Das Kleeblatt-Tattoo oberhalb meines Herzens ...«, sie deutete auf die Stelle, die verborgen unter ihrem Pullover lag, und spürte, wie es auf ihrer Haut zu glühen begann, »er trägt dasselbe. Wir gehören zusammen. Wer in Salinas gemeinsam Blut vergießt, den verbindet ein Band, das niemand mehr trennen kann. Er wird mich niemals verraten.«
»Und was ist mit uns?« Die Frage hatte sie befürchtet.
»Es gibt kein uns , Lewis.«
»Ich habe dir geholfen, verdammt! Glaubst du, ich überlasse dich diesem Kerl?«
»Es tut mir leid, dass ich dich in die ganze Sache mit hineingezogen habe, das wollte ich nicht. Ich habe dich schon um zu viele Gefallen gebeten, aber Exx und ich brauchen ein Versteck, bevor wir abhauen. Dann bist du uns los und weißt von nichts. Du machst einfach weiter wie bisher. Ich hüte dein Geheimnis, du hütest meins. Wir sind quitt.«
Er sah aus, als wollte er sie anbrüllen, doch in Anwesenheit von Exx riss er sich zusammen. »Du solltest ihm nicht vertrauen«, zischte er. »Der Typ hat zuerst seinen eigenen Arsch gerettet, bevor er an deinen gedacht hat.«
»Du verstehst das nicht.« Mya sah ihn beschwörend an. Sie wollte nicht, dass Exx seine Drohung wahrmachte und Lewis umlegte. Sie wusste, er würde dabei nicht einmal mit der Wimper zucken. »Bitte, Lewis, bring uns in ein Versteck«, flehte sie.
»Zuerst werde ich mal ein Wörtchen mit ihm reden«, erwiderte Lewis und Mya hielt ihn instinktiv am Ärmel fest, damit er keinen Blödsinn machen konnte. Sie sah, wie Exx nach der Waffe in seinem Rücken griff.
In diesem Moment spürte sie ein heißes Brennen am Oberarm. Zeitgleich zerriss ein Schuss die Stille und Lewis warf sie zu Boden. Er fluchte und wälzte sich neben ihr auf der Erde.
»Genug gelabert, ihr Turteltauben.« Exx war mit einem Satz bei ihnen, drehte sich auf den Rücken und feuerte sein Magazin leer. Ehe sich Mya versah, lud er nach. Sie spürte klebrige Feuchtigkeit an ihrer Hand und hob ihre Waffe, doch Lewis schleifte sie bereits mit sich. Neben ihnen schlugen die Kugeln ein. Mya registrierte es wie durch einen Nebel. Ich bin getroffen worden, schoss es ihr durch den Kopf, und sie warf einen erstaunten Blick auf ihre blutigen Finger. Exx sprang auf die Beine und folgte ihnen. Er drängte Lewis und Mya in die offene Tür des GMC und leerte ein weiteres Magazin, bevor er sie hinter sich zuzog. Die Kugeln der unsichtbaren Gegner schlugen dumpf in die Motorhaube des Autos ein.
»Fuck!«, schrie Lewis, startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. Das Auto brach krachend durch das Wurzelwerk der Lichtung und Mya stieß sich den Kopf am Armaturenbrett. Lewis riss das Lenkrad herum, schmiss den Vorwärtsgang rein und gab Gas.
»Was immer sich dir in den Weg stellt, mäh es um!«, rief Exx und sah sich um. Eine weitere Kugel durchschlug die Rückscheibe. Er fluchte und zerrte seinen Rucksack vom Rücken.
»Mein Bike! Das darf nicht wahr sein.«
Mya hielt sich den Kopf. Sie kicherte. Lewis warf ihr einen irritierten Blick zu.
»Jedes Mal, wenn Exx mit mir auf der Flucht ist, muss er sein Bike zurücklassen«, erklärte sie und bemerkte, dass sie an der Stirn ebenfalls blutete.
Lewis preschte über den Feldweg, der Motor röhrte im hohen Drehzahlbereich. Der Kugelhagel versiegte und mit einem Satz, der sie alle aus den Sitzen hob, brachen sie zurück auf die leere Hauptstraße. Lewis schlug das Lenkrad hart ein und der Wagen schlingerte mit quietschenden Reifen nach links. Er trudelte, geriet ins Wanken, doch es gelang Lewis, ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er gab Vollgas.
»Bist du getroffen worden?« Exx zerrte Mya grob zu sich heran.
»Geht es ihr gut?« Lewis fuhr sich hektisch mit der Hand durch die Haare. Seine Augen stierten auf die Straße. Es war kein Auto zu sehen, sie hatten freie Fahrt.
»Kümmer dich um deine Angelegenheiten und fahr, Biberfresser!« Exx zog Mya die Jacke über die Schultern. Sie biss sich auf die Zunge, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Der Ärmel ihres Sweatshirts war mit Blut durchtränkt. Sie sah weg, um nicht völlig durchzudrehen. Exx war nicht zimperlich. Er zog ihr den Pullover über den Kopf und inspizierte die Wunde, während Lewis das Auto zu einer noch höheren Geschwindigkeit antrieb.
»Fleischwunde, keine Arterie, das ist gut«, murmelte Exx und zerriss mit einem Ruck das Top, das Mya darunter trug. Sie sah, dass sein Blick kurz auf ihren Brüsten verharrte, bevor er ihr den Arm abband. Sie stöhnte, stand jedoch zu sehr unter Schock, um den Schmerz in seiner ganzen Härte wahrzunehmen. Exx half ihr, sich wieder anzuziehen.
»Halt den Arm am Körper, beweg ihn nicht«, sagte er und sah Lewis an. »Bring uns in ein Versteck.«
»Leck mich am Arsch, du Wichser! Wegen dir hänge ich jetzt in der ganzen Scheiße mit drin. Die kennen mein Auto, das Nummernschild, vermutlich wissen sie bereits, wo ich wohne.«
»Ist nicht meine Schuld. Ohne mich wärt ihr längst in deren Händen.«
»Ich werde mich nicht bei dir bedanken, dass es denen nicht gelungen ist, uns umzulegen.«
»Die wollten uns nicht töten. Noch nicht. Die haben vor, sich mit uns zu amüsieren. Das Töten heben sie sich fürs große Finale auf. Die wollen uns betteln hören.«
»Bullshit!«
»Glaub mir, Biberfresser, die Kugel hätte Mya mitten zwischen den Augen getroffen, wenn sie vorgehabt hätten, sie umzubringen. Das sind keine Amateure.«
Lewis knirschte derart mit den Zähnen, dass man es hörte. »Was ist mit meinen Eltern? Werden die ihnen etwas antun?«
»Eher nicht. Die hinterlassen ungern Spuren und haben keine Lust auf Ermittlungen der Behörden.«
»Wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme, dann bring ich dich um!«
»Uh, jetzt krieg ich Angst.« Exx lachte auf. »Wohin fahren wir?«
Lewis sah in den Rückspiegel. »Keine Ahnung. Wir werden nicht verfolgt.«
»Ich bin mir sicher, das werden wir. Die Exekutionskommandos der Mesa sind Aasgeier. Die siehst du erst, wenn’s zu spät ist. Vermutlich klebt schon längst ein Sender an deinem Auto. Wir müssen es schnellstens loswerden.«
»Ich lasse mein Auto ganz sicher nicht zurück!«
»Ich habe gerade mein Motorrad zurückgelassen.«
»Das Ding war ein Haufen Scheiße!«
Exx ballte die Hand zur Faust und Mya hielt sie fest. Es war ihre erste bewusste Berührung und ihre Blicke verkeilten sich für Sekunden, bevor sie ihn losließ, als hätte sie sich verbrannt. »Hört auf damit, ihr geht mir auf die Nerven!«, murrte sie. Das Pochen in ihrem Arm nahm zu. »Exx hat recht, von dem Moment an, wo wir das Auto zurücklassen, sollten wir einen Plan haben.«
Lewis trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. »Es gibt eine Versorgungshütte in der Nähe des Campingplatzes beim Mount Cockscomb. Wir könnten das Auto am Mount Norquay Ski Resort zurücklassen.«
»Negativ«, sagte Exx entschieden. »Die Karre muss verschwinden. Bei den Einschusslöchern wird hier sofort die Polizei alarmiert und du machst dich durch dein Untertauchen verdächtig.«
Lewis resignierte. »Was schwebt dir vor?«
»Das ist dein Revier, verdammt! Bei all diesem Scheiß-Wald wird es ja wohl einen Ort geben, an dem man ein beschissenes Auto verschwinden lassen kann.«
»Dann fahren wir es in den Johnston Canyon.« Er wirkte nicht glücklich mit diesem Entschluss. »An der engsten Stelle wird es erstmal niemand sehen und wenn es schneit, verschwindet es unter einer Schneedecke. Im Frühjahr spülen es die Fluten der Schneeschmelze talwärts. Bis dahin haben wir hoffentlich eine Lösung gefunden.«
»Oder unsere Leichen werden dann ebenfalls talwärts gespült.« Exx zog Mya zu sich heran, als Lewis schwungvoll auf eine Straße abbog, die sich in die Berge hinaufschlängelte. Sie spürte die Härte seiner Muskeln, die ihr Geborgenheit vermittelten, und konzentrierte sich darauf, die Schmerzen wegzuatmen, die sich vermehrt in ihrem Arm ausbreiteten.
Lewis sah sie an. »Vom Canyon aus müssen wir laufen. Schaffst du das?«
Mya nickte und rückte bewusst von Exx ab. Sie war sich unsicher, ob es nur die Wunde war, die ihr zusetzte oder auch seine Nähe. Fest stand, dass sie wütend auf ihn war. Exx ignorierte ihre Abwehr und sah unverwandt in den Seitenspiegel. »Wie weit ist es von diesem Canyon bis zur Versorgungshütte?«
»Anderthalb Stunden. Vielleicht zwei.« Lewis warf einen Blick in den Himmel. »Sollte es zu schneien anfangen, brauchen wir länger.«
»Und dann?«, fragte Mya.
»Dann bereiten wir den mexikanischen Arschlöchern einen hübschen Empfang.« Exx kramte zwei Magazine aus der Innentasche seiner Lederjacke. Mya sah ihm dabei zu.
»Das ist alles?«
»Babe.« Er öffnete den Rucksack und ließ sie einen Blick hineinwerfen. Doch das verbesserte ihre Stimmung nicht. Egal, wie viel Munition und Messer Exx dabei hatte, ihre Verfolger hatten mehr. Die Schweine würden sie bekommen und am Ende würden sie sterben.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte er leise. »Rory hat auch immer so ausgesehen, wenn er Angst hatte. Aber ich schwöre dir, dass ich nicht zulasse, dass wir ihnen in die Hände fallen.«
Mya lehnte ihren Kopf nach hinten und überließ sich den Unebenheiten der Straße, die ihre Schmerzen nur noch steigerten. Sie hatte ebenfalls nicht vor, sich erwischen zu lassen. Inzwischen kannte sie die Foltermethoden der Gangs, die an Grausamkeit nicht zu überbieten waren. Deshalb würde sie es nicht hinnehmen, dass die Familia sie zu fassen bekam. Sie sah Exx in die Augen und registrierte sein Nicken. Sie verstanden einander.
»Du hast dich verändert.« Seine Stimme war noch immer kaum hörbar.
»Das haben wir beide«, war ihre heisere Antwort, bevor sie ihr Versprechen einzig durch einen langen Blick besiegelten. Dein Leben für meins, mein Leben für deins . Das Kleeblatt von früher gab es nicht mehr, aber ihre Verbindung konnte niemand zerstören. Sie würden sich bis zum Ende zur Seite stehen.
Mya zuckte zusammen, als Lewis neben ihr fluchte. »Die Straße wurde gesperrt.«
»Weshalb?« Exx sah auf.
»Gerölllawine.« Lewis riss den Wagen herum, mähte das Hinweisschild um und fuhr auf einen Waldweg, bevor die Sicherheitsfahrzeuge in Sichtweite kamen. Das Blinken ihrer Warnleuchten verfolgte sie durch die Stämme der Bäume, die sich um sie schlossen. Die Stoßdämpfer des GMC knarzten, als Lewis ihn unbarmherzig vorantrieb. »Auf diesem Weg erreichen wir den Canyon von der anderen Seite.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»In Anbetracht unserer Situation ist alles schlecht.«
Exx grinste. »Hör auf, um dein Auto zu trauern, Biberfresser. Das Ding ist einfach nur ein Stück Blech.«
Lewis sah ihn an, als wollte er ihn umbringen, und übersah ein Schlagloch. Der Stoß kam unerwartet und Mya stöhnte auf.
»Idiot«, murmelte Exx und Lewis gab Gas. Er driftete um die nächste Kurve, holte aus dem Wagen raus, was ging, und donnerte schließlich auf ein Geröllfeld. Aufspritzende Steine prallten gegen den Unterboden, das Auto schwamm auf dem unebenen Boden. Mit hoher Geschwindigkeit durchquerten sie ein schmales Flussbett, sodass das Wasser über ihnen zusammenschlug. Mya hielt sich an Exx fest, bemühte sich, nicht aufzuschreien, wenn ihr verletzter Arm gegen ihn stieß. Lewis schaltete die Scheibenwischer an und fuhr neben dem Flussbett her, bevor er in ein schmales Seitental abbog. Die Felswände erhoben sich neben ihnen und Mya glaubte, zerquetscht zu werden.
»Habt ihr alles?«, fragte Lewis. »Wir sind gleich da.« Er öffnete das Schiebedach. Kurz bevor die Öffnung der Schlucht zu eng zum Durchfahren wurde, hielt er an. »Steigt aus«, sagte er in eisigem Tonfall.
Obwohl Mya nicht wusste, was er vorhatte, folgte sie seinem Befehl und holte ihren Rucksack vom Rücksitz. Exx half ihr ihn zu schultern und sie gingen voraus. Hinter ihnen ließ Lewis den Motor im Stand mehrmals aufheulen. Mya blickte zurück. »Was hat er vor?«
Exx schüttelte den Kopf und zog sie mit sich. »Geht uns nichts an. Vielleicht will er abhauen. Oder sein Auto beerdigen. So würde ich’s machen.«
Mya konnte den Blick nicht abwenden und stolperte vorwärts. In diesem Moment gab Lewis Vollgas. Steine flogen unter den Reifen davon und der GMC jagte auf die schmalste Stelle der Felsklamm zu. Mit voller Geschwindigkeit schrammte er die Wände, Blech knirschte und der Motor röhrte unter der Last. Mya sah, dass sich der Kühlergrill verformte wie ein Wrap, das man zusammenklappte, um es besser essen zu können. Mit einem plötzlichen Ruck kam der Wagen zum Stehen, der Motor heulte ein letztes Mal auf, bevor er verstummte. Eine kleine Rauchwolke entstieg der deformierten Karosserie und Lewis schwang sich aus dem Schiebedach. Er angelte nach seinem Rucksack, steckte die Waffe ein und sprang über die Motorhaube auf den Boden. Dann ging er entschlossen auf sie zu.
»Großes Kino, Biberfresser«, sagte Exx mit unbewegtem Gesichtsausdruck.
»Wenn ich ihn schon loswerden muss, dann mache ich’s richtig.« Lewis spuckte aus. »Dort oben ist ein Wanderweg, aber zwischen den Felsen sieht den Wagen niemand und hier kommen nur selten Leute herunter.«
Sie sahen einander an. Myas verletzter Arm fühlte sich so eisig an wie der Wind, der von den Bergen hinunterwehte.
»Gehen wir, los!« Lewis übernahm die Führung und Mya folgte ihm. Sie hatte das Gefühl, geradewegs auf dem Weg in die Hölle zu sein.