L
ewis stapfte bergauf. Der unaufhörlich fallende Schnee machte das Vorankommen ohne Ausrüstung schwierig. Andererseits galt das vermutlich auch für ihre Verfolger. Lewis hoffte, dass sie ihnen mittlerweile Meilen voraus waren und den Vorsprung halten konnten. Atemlos blieb er stehen und warf einen Blick über seine Schulter. Mya war zurückgefallen, ihr dämlicher Freund Exx hielt sich dicht hinter ihr. Er zog den Kopf ein, als könnte er dem Schneetreiben auf diese Weise entkommen. Lewis ahnte, dass er erbärmlich frieren musste. Seine Motorradjacke und die Stiefel waren keine passende Bekleidung für das Hochgebirge. Das setzte sicher selbst einem Arschloch zu. Lewis grinste in sich hinein. Er hasste den Typ. Nicht zum ersten Mal seit ihrer Flucht überlegte er, Mya mit sich zu nehmen und Exx im Stich zu lassen. Es wäre einfach. Der Kerl kannte sich in der Gegend nicht aus. Er hatte sein Leben lang im Flachland gelebt und war der Witterung nicht gewachsen. Lewis müsste sich mit Mya nur nachts davonstehlen und Exx seinem Schicksal überlassen. Der Schnee würde ihn monatelang unter sich begraben und der Spuk wäre vorbei.
Er atmete ein und aus, während der Gedanke verlockend in seinem Kopf kreiste. Seit drei Tagen schlugen sie sich nun schon in den Bergen herum und allmählich kam ihm diese ganze Sache wie ein übler Scherz vor. Myas Gerede von Gangs, ihrem Vater und ihren beiden besten Freunden begann ihm auf den Sack zu gehen. Ja, es hatte jemand auf sie geschossen, aber wer konnte schon sagen, ob das tatsächlich Gangmitglieder der Nuestra Familia gewesen waren? Vielleicht wurde er gerade bei der Versteckten Kamera hochgenommen und hatte dafür sein Auto geschrottet. Die gesamte Nation würde sich vor dem Fernseher totlachen. Er schnaubte.
»Was ist? Hast du die Orientierung verloren?« Exx sah zu ihm auf.
Lewis schüttelte den Kopf. Er hatte keine Lust mehr auf die ganzen Spielchen. Während er Wache gestanden hatte, hatten der Kerl und Mya gefickt! Das arme verwundete Ding, dem er kurz davor noch die Schusswunde genäht hatte, konnte es gar nicht abwarten, ihre Beine für diesen abgewrackten Harley-Fahrer breitzumachen. Lewis verzog den Mund. »Wo müssen wir hin?«, rief er und starrte Exx an. »Sag es mir!«
»Woher soll ich das wissen?« Fürsorglich stützte er Mya und Lewis beobachtete ihn angewidert.
»Dann halt dein blödes Maul!« Er presste die Lippen aufeinander und versuchte, sich zu orientieren. Die letzten beiden Nächte hatten sie in jeweils anderen Versorgungshütten geschlafen, um zu verhindern, dass man sie fand. Doch allmählich begann er sich zu fragen, wie das alles weitergehen sollte.
In diesem Moment trat Mya zu ihm und berührte seinen Arm. Sie schien zu ahnen, was er dachte. »Ich weiß zu schätzen, was du für uns tust«, übertönte ihre Stimme den eisigen Wind.
Er betrachtete ihr Gesicht. Ihre Lippen waren blaugefroren und unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Lewis spürte Mitleid
und verachtete sich dafür. Als er beobachtet hatte, wie der Hoser
sie fickte, hatte ihn das erregt. Er erkannte die Leidenschaft in ihrem Gesicht, die sie nicht gezeigt hatte, als sie mit ihm zusammen gewesen war. Das machte ihn stinksauer. Und enttäuschte ihn. Denn im selben Augenblick begriff er auch, dass dieser Exx ihr wichtig war und sie eher mit ihm untergehen, als ihn aufgeben würde. Er war ein Street Dog, ein Gefallener. Solche Menschen kamen nicht wieder auf die Beine und rissen alle mit sich, die sich in ihrer Nähe befanden.
»Du hast gesagt, ich würde dich in meinen Sumpf hineinziehen, erinnerst du dich?«, murmelte er und zog die Nase hoch. »Dabei bist du es nun, die mich in ihren Sumpf hineinzieht.«
»Es tut mir leid.« Der Griff ihrer Hand verstärkte sich und Lewis schüttelte unwirsch den Kopf.
»Hör auf, dich zu entschuldigen. Du bist nicht das Problem. Er ist es.« Mit dem Kinn deutete er auf Exx. »Lass ihn hier, Mya, und geh mit mir.«
»Auf keinen Fall!« Nervös sah sie sich um.
Lewis umfasste ihre eiskalten Finger. »Vielleicht belügt er dich«, flüsterte er und fuhr fort, bevor sie ihm widersprechen konnte: »Du hast keine Gewissheit, dass man dich verfolgt. Womöglich hat er das alles erfunden, um dich wiederzubekommen. Er könnte seine eigenen Leute auf uns angesetzt haben, wer weiß das schon? Seit drei Tagen irren wir durch die Berge. Das werden wir bei dem Wetter nicht mehr lange durchhalten. Und dann? Ich vermute, er wird verlangen, dass du mit ihm gehst, damit er auf dich aufpassen kann. Und ehe du dich versiehst, sitzt du in einem ähnlichen Kaff wie diesem Salinas, von dem ihr immer redet, und vergeudest deine Tage damit, auf jemanden zu warten, der es nur darauf anlegt, von seiner Harley geschossen zu werden. Der Typ kann nichts, ist nichts und wird nie etwas werden. Wenn du dich dem an den
Hals schmeißt, dann wirst du in derselben Gosse landen, aus der er gekrochen ist.«
Mya wollte protestieren, doch er hob die Hand. »Ich will nur, dass du es zumindest in Erwägung ziehst. Warum ist er ausgerechnet an dem Tag hier aufgetaucht, an dem diese Gang dich bereits im Visier hatte? Ist das nicht alles ein großer Zufall?«
Mya senkte die Lider und Lewis war zufrieden. Er wollte, dass sie nicht nur mit ihrer Muschi dachte, sondern ihren Kopf benutzte, wenn es um ihre Zukunft ging.
»Gehen wir jetzt weiter oder was?« Exx drängte nach vorne und Mya hielt ihn zurück.
»Ich brauchte eine kurze Pause«, sagte sie. »Es geht mir schon wieder besser.«
»Es gefällt mir nicht, dass wir hier zwischen den Bäumen rumstehen«, knurrte Exx. »Das bietet zu viele Versteckmöglichkeiten.«
»Klar, auf freier Fläche sieht man uns natürlich besser«, höhnte Lewis und warf Mya einen vielsagenden Blick zu. »Wir wollen ja nicht, dass die Verfolger unsere Spuren verlieren.« Er spürte, dass Exx ihn an der Kapuze seiner Jacke packte und setzte sich zur Wehr.
»Biberfresser«, hörte er die drohende Stimme an seinem Ohr. »Pass auf, was du sagst. Ich will nicht schuld daran sein, dass eine Kugel dein mickriges Gehirn durchpflügt.«
Mit einer schnellen Bewegung kam Lewis frei und blickte geradewegs in die Mündung einer Pistole. Erschrocken hob er die Hände.
»Scheiße, Exx!« Mya stellte sich vor ihn und Lewis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Sie versteht wenigstens, wer hier in der Lage ist, sie zu retten«, rief er und sah mit Beruhigung, dass Exx seine Waffe senkte.
»Beweg deinen Arsch!«, befahl er und Lewis spürte, dass Mya ihn von sich schob.
»Geh«, raunte sie ihm zu. »Ich habe schon Frostbeulen am Hintern. Außerdem habe ich Hunger.«
Mit einem letzten Blick auf Exx drehte sich Lewis um und stapfte weiter bergauf. Es war offensichtlich, dass die Nerven bei allen blank lagen. Sie waren müde, verzweifelt und hungrig. Nicht umsonst hatte er sie zu dem Punkt geführt, an dem für die heutige Nacht die nächste Paketlieferung erwartet wurde. Daniel Kenner würde da sein. Und sicher auch Nathan. Lewis fuhr sich durch die feuchten Haare. Er hatte sein Handy im Auto zurückgelassen. Das erschien ihm klüger. Lieber war er paranoid, als der Gefahr ausgesetzt zu sein, geortet zu werden. Doch nun hatten seine Kumpels seit Tagen nichts von ihm gehört. Das würde sie misstrauisch werden lassen und vermutlich würden sie zu zweit kommen, um die Päckchen abzuholen. Das war Lewis nur recht, denn das war seine Chance, zu entkommen. Daniel und Nathan waren immer bewaffnet, wenn sie die abgeworfenen Pakete bargen und sie würden ihm zur Seite stehen. Vielleicht konnte er Mya dazu bringen, sich ihnen anzuschließen. Er hatte geglaubt, Zweifel in ihrem Gesicht zu erkennen, als er mit ihr gesprochen hatte. Die wollte er noch weiter schüren, denn eins stand fest: Er hatte nicht vor, in den eisigen Bergen zu erfrieren!
»Schon wieder Bohnen?«
Mya nahm den Teller entgegen, den Lewis ihr reichte, und rümpfte die Nase.
»Das sind die einzigen Konserven, die ewig halten. Außerdem sind Bohnen nahrhaft.« Er setzte sich zu ihr ans Feuer. »Was macht deine Wunde?«
»Tut weh«, erwiderte sie mit vollem Mund.
»Darf ich sie mir mal ansehen?«
»Hm.« Mya löffelte noch mehr Bohnen in sich hinein, bevor sie den Teller zur Seite stellte und aus dem Ärmel ihres Pullovers schlüpfte.
Lewis betrachtete die Nahtstelle. »Ist das unangenehm?«, fragte er und tastete die Umgebung ab.
»Ein wenig.« Mya spannte sich an.
»Es ist nicht geschwollen oder entzündet. Sieht gut aus.«
»Du klingst wie ein Arzt.« Sie zog den Mundwinkel nach oben.
»Was ich dir heute gesagt habe ...« Lewis sah zur Tür. Exx war hinausgegangen, um mehr Feuerholz zu holen. »... meinte ich ernst. Ich kann uns aus den Bergen rausbringen. Weg von ihm. Weg von deinen angeblichen Verfolgern.«
Mya blinzelte. Der plötzliche Themenwechsel schien sie zu verunsichern. »Das kann ich nicht tun!«
»Und ob du das kannst!« Lewis hob ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Sag mir, dass du ihm glaubst. Denkst du wirklich, dass es diese Gang war, die auf uns gefeuert hat?«
»Ja.« Er glaubte, Unsicherheit aus ihrer Antwort herauszuhören.
»Warum haben die uns erst im Wald gestellt?«
»Weil sie uns beide wollen. Mich und Exx.«
»Und warum leben wir dann noch? Wenn diese Typen so übel sind, wie ihr ständig sagt, dann müssten sie besser zielen können, oder etwa nicht? Mich hätten sie zumindest aus dem Weg räumen sollen.«
»Bist du sauer, weil du noch lebst?«
Lewis umfasste ihr Kinn fester. »Das ist kein Spaß, Mya. Ich führe euch seit Tagen durch die Berge und niemand folgt uns. Jeden Morgen habe ich nach Spuren Ausschau gehalten, aber da ist nichts. Deshalb frage ich mich, was wir hier tun. Ist dein Freund noch dein Freund oder spielt er inzwischen ein falsches Spiel? Was denkst du?« Sie wollte sich ihm entziehen, doch er
ließ sie nicht los. »Ihr mögt diese Kleeblatt-Sache miteinander gehabt haben, aber du weißt nicht, was er seit einem Jahr getrieben hat. Fest steht nur, dass auf uns geschossen wurde, kaum dass er in der Stadt aufgetaucht ist.«
»Ich verdanke ihm mein Leben.«
»Das weiß ich, aber Menschen ändern sich, Mya.«
Sie schluckte hörbar. »Du verstehst das nicht, Lewis. Egal, was für riskante Sportarten du treibst oder welche kriminellen Nebengeschäfte du am Laufen hast, du unterscheidest dich von uns. Deine Familie ist intakt. Du wurdest nicht geschlagen, musstest nicht ständig umziehen und weißt auch nicht, wie es sich anfühlt, wenn man von seinem Pflegevater misshandelt wird. Du bist nicht in einer Welt groß geworden, in der Alltag bedeutet, eine Waffe zu seinem Schutz zu tragen. Rap und Exx waren die einzige Familie, die ich je kannte. Die einzigen Menschen, denen ich je wirklich vertraut habe.«
»Ich verstehe, dass ihr füreinander da wart, aber irgendetwas ist schiefgegangen. Dieser Rap ist tot. Warum?«
»Er wurde von den Triaden erschossen. Während eines Deals, den Exx eingefädelt hat, um uns zu retten. Es ist kompliziert.«
»Ich weiß nicht, Mya. Vielleicht hat Exx seinen besten Kumpel geopfert, um aus der Sache rauszukommen. Schon mal darüber nachgedacht?«
»So war es nicht!« Mya schlug seine Hand weg. »Er kam danach zu mir und es ging ihm beschissen. Er brachte mich fort aus Salinas und bestand darauf, dass ich nach London zurückfliege.«
»Damit er endlich freie Bahn hat, um seine Geschäfte ohne Ablenkung durchzuziehen. Kerle wie Exx sind skrupellos. Die gehen über Leichen.«
»Das musst du mir nicht sagen. Das weiß ich selbst.« Mya knetete ihre Finger. »Aber du warst nicht dabei, ich schon. Als
Exx mich verließ, bin ich nicht gegangen. Ich folgte ihm nach Salinas, weil ich befürchtete, dass er sich seinen Tod wünscht und alles daransetzt, ihn auch zu finden. Dort erfuhr ich vom Sheriff, dass Exx tatsächlich erschossen wurde. Dann erst flog ich nach London.« Sie stockte. »Er hat nicht gelogen, Lewis. Exx steht unter dem Schutz der WITSEC. Er mag sich deshalb selbst für feige halten, aber er ist ganz bestimmt nicht hier, um mir etwas vorzuspielen. Dafür ist er gar nicht der Typ. Wenn er sagt, dass er Informationen hat, die ihn beunruhigen, dann glaube ich ihm. Weil ich aus derselben Welt stamme wie er. Und der einzige Grund, warum du zweifelst, Lewis, ist der, dass du es nicht tust. Denn sonst würdest du meine Angst verstehen.«
Er wollte nicht glauben, dass er kein Misstrauen in ihr sähen konnte. »Warum heißt der Typ Exx?«, hakte er nach und hoffte, irgendetwas zu finden, dass sie ihre Meinung ändern ließ.
»Sein Vater wollte ihm den Namen seines ehemaligen Arbeitgebers ExxonMobil mit einer Glasscherbe in den Arm ritzen. Weiter als bis Exx kam er jedoch nicht, denn sein Sohn brach ihm mit der Nachttischlampe den Unterkiefer. Da war er zwölf.«
»Was für ein harter Kerl.« Lewis gelang es gar nicht erst, die Ironie in seiner Stimme zu unterdrücken. Er starrte auf die Umrisse seines Konkurrenten, der in der Dunkelheit Holz einsammelte. »Ich hoffe, er weiß, wie man in den Bergen überlebt.«
»Lewis.« Myas Stimme wurde weicher. Bittender. Er wandte ihr den Kopf zu und blickte in ihre schimmernden Augen. »Geh nicht.«
Wieso zum Teufel sah sie heiß aus, obwohl sie vor lauter Anstrengung eingefallene Wangen hatte? Sie beugte sich vor. »Wenn du denkst, du könntest einfach nach Banff zurückkehren und so tun, als wäre nichts geschehen, dann irrst du dich. Die
werden dich finden und gesprächig machen, damit du ihnen unser Versteck verrätst.«
»Wen meinst du? Unsere unsichtbaren Verfolger?« Er grinste, doch sie ließ nicht locker.
»Die Köpfe der Nuestra Familia sind nicht offiziell bekannt. Sie sitzen in den Hochsicherheitsgefängnissen in Kalifornien und organisieren von dort ihr Fußvolk. Auf den Straßen von Salinas sieht man sie überall. Die rot gekleideten Norteños gehören ebenso zum Straßenbild wie die Gemüsefelder der Mexikaner inmitten der Stadt. Mein Vater wurde dort entsorgt. Die Nuestra Familia hat ihn zerstückelt, nachdem sie herausgefunden hatten, wer er war.«
Lewis verzog den Mund. »Du kannst damit aufhören, mir Angst einzujagen, Mya. Du hast es selbst gesagt. Ich bin anders. Und Kanada ist nicht Kalifornien. Hier kann man zur Polizei gehen, wenn man sich bedroht fühlt.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und er war versucht, sie zu küssen. Trotz allem, was vorgefallen war, war er noch immer scharf auf sie.
»Ich will nicht, dass dir etwas zustößt«, murmelte sie. Spontan griff er nach ihrem Pullover und zog sie zu sich heran. Ihre Lippen verharrten vor den seinen, ihr Atem bedeckte sein Gesicht.
»In den nächsten Stunden kommt das Flugzeug mit den Kokain-Päckchen. Es wirft sie ganz in der Nähe ab. Ich kenne die Koordinaten. Wir erhalten sie jedes Mal aufs Neue bei der Übergabe des Geldes. Nathan und Daniel haben lange nichts von mir gehört. Deshalb werden sie da sein, um die Päckchen aufzusammeln.«
»Und du wirst mit ihnen gehen?«
»Ja.« Er berührte ihre Lippen. In Gedanken stellte er sich vor, wie er sie so nahm wie dieser Exx.
»Das ist ein Fehler«, flüsterte sie, ohne von ihm zurückzuweichen.
»Komm mit mir«, wiederholte er seine Bitte. »Finde selbst heraus, ob du in Gefahr bist.«
»Nein, Lewis, das ist unmöglich.«
Er küsste sie. Hart, unnachgiebig und fordernd. Zu seiner Überraschung erwiderte sie den Kuss. »Du bist mehr als eine Gefangene deiner Vergangenheit, Mya«, murmelte er heiser in ihren Mund. »Lass dir nicht einreden, dass der Tod dein einziger Ausweg ist.«
»Du
bist ganz gewiss nicht ihr Ausweg.« Exx kam herein und ließ das Holz zu Boden fallen.
Lewis verfluchte ihn innerlich. »Warum verpisst du dich nicht wieder nach draußen«, murrte er und bemerkte, dass Mya von ihm abrückte. Es war, als wenn sie die Präsenz dieses Arschlochs förmlich anzog.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, dann bist du es, der sich verpissen will. Oder habe ich mich verhört?«
»Du lauschst wie ein kleines Mädchen? Süß.« Lewis federte zurück auf die Beine. Er und Exx fixierten sich. Wieder einmal. »Hast du ein Problem damit?«
»Warum sollte ich?«
Sein unbeugsamer Blick verunsicherte Lewis. Er erinnerte sich an die Mitglieder der Rizzuto Familie, die ihn verhörten und seinen Bruder Phil in den Abgrund stießen. Sie hatten ihn ebenso angesehen. Kalt und teilnahmslos, als hätten sie all das schon hundertmal erlebt. Exx mochte ein Arschloch sein, aber er war verdammt abgebrüht. Ein Grund mehr, warum Lewis nicht bereit war, ihm Mya zu überlassen.
»Was willst du denn von ihr?«, ereiferte er sich. »Soll sie in Zukunft für dich kochen, deine Kinder zur Welt bringen und dir die Hausschuhe ans Bett stellen?«
Exx reagierte nicht. Er stand da wie eine Statue, doch eine seiner Augenbrauen hob sich kaum merklich. Lewis ging auf ihn zu. »Sag es ihr endlich! Sag ihr, dass du sie angelogen hast, nur um sie zurückzugewinnen. Kein Mensch ist hinter uns her.«
»Hm.« Exx beobachtete jede seiner Bewegungen, doch Lewis hatte keine Lust, klein beizugeben.
»Hat es dich aufgegeilt, deinen Tod vorzutäuschen? Hattest du Spaß daran, dein Leben wieder von vorne zu beginnen? Das war sicher verlockend, bis du gemerkt hast, dass du trotzdem noch derselbe Loser bist.«
»Der Tod ist nicht schlimm«, erwiderte Exx tonlos. Sein Mund bewegte sich kaum. »Schlimm ist, was in dir stirbt, während du noch am Leben bist.« Unerwartet machte er einen Schritt auf Lewis zu. »Es ist mir gleichgültig, was du tust, Biberfresser, nur tu es endlich, damit ich wieder meine eigenen Entscheidungen treffen kann.«
Lewis bemühte sich um Haltung. Er wollte sich nicht anmerken lassen, dass dieser Kerl ihm suspekt war. Dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten, wenn er sprach. Exx wirkte wie ein zum Leben erwachter Terminator und alles, was Lewis wollte, war, ihn endlich loszuwerden.
»Lass ihn in Ruhe, Exx«, mischte sich Mya ein und wie immer, wenn sie sprach, bekam sie Exx’ ungeteilte Aufmerksamkeit. Seine Körperspannung nahm zu und er machte sich wortlos daran, den Ofen weiter anzufeuern.
»Okay.« Lewis stützte die Hände in die Hüften. »Was habt ihr vor, wenn ich weg bin? Wohin wollt ihr gehen?«
Mya und Exx wechselten einen Blick miteinander.
»Ihr wisst es nicht, oder?« Lewis seufzte und ging zu seinem Rucksack, der auf einem der Betten lag. Die Karte, die er herauskramte, war alt und zerknittert, doch er hatte nichts anderes. Er breitete sie auf dem Tisch aus.
»Wir sind hier, ganz in der Nähe des Flint’s Mount.« Er deutete auf den winzigen roten Punkt, der zwischen Höhenlinien und den Markierungen der Wanderwege kaum auffiel. »Bei Flint’s Park stoßt ihr auf den Sawback Trail. Von dort könnt ihr über Stoney Creek zurück nach Banff laufen oder ihr quert den Badger Pass in Richtung Lake Louise. Würde ich euch bei den Wetterverhältnissen aber nicht empfehlen.«
»Soll das heißen, wir landen am Ende wieder in dem verfluchten Kaff, aus dem wir geflohen sind?« Exx kam näher, nahm die Karte ins Visier.
»Genau das heißt es.« Lewis stützte die Hände auf den Tisch. »Wir sind hier in den Bergen, Hoser
. Wenn du nicht fliegen kannst, führt dein Weg unweigerlich ins Tal.«
»Das war dein beschissener Plan? Du jagst uns durch die Gegend und setzt dann alles wieder auf Null?« Exx krauste die Stirn. »Ich glaub’s nicht!«
»Wenn du so ein harter Junge bist, wie du vorgibst zu sein, wird dir bestimmt was einfallen.« Lewis schob ihm die Karte hin. »Sieh’s dir selbst an.«
»Ich weiß, dass aus Banff nur eine Straße hinein- und wieder hinausführt. Deshalb dachte ich, du bietest uns Alternativen.« Exx hieb mit der Faust auf den Tisch. »Wir sitzen hier fest wie verfluchte Kaninchen in der Falle!«
»Ist nicht meine Schuld.« Lewis zuckte mit der Schulter. »Ich bin raus.« Ehe er sich versah, riss Exx seine Waffe hoch. Lewis hatte nicht einmal mitbekommen, dass er nach ihr gegriffen hatte. Augenblicklich schoss ihm das Adrenalin ins Blut.
»Exx!« Mya sprang auf.
»Ich hab genug!«, grollte der. »Dieser Wichser verarscht uns doch!«
»Er weiß es nicht besser.« Beruhigend hob Mya ihre Hände und ging auf ihn zu.
»Das ist mir scheißegal! Wenn er morgen abhaut, dann wird er anfangen zu quatschen. Er wird vor seinen Freunden prahlen und ihnen erzählen, was ihm Irres widerfahren ist. Vielleicht schmückt er es noch ein wenig aus und macht dadurch erst alle auf sich aufmerksam. Womöglich warten die aber auch schon auf ihn. Ich habe dich gewarnt, Mya. Das ist der Moment, an dem der Typ eine Gefahr für uns wird. Er muss verschwinden!«
Lewis spürte, dass Exx es ernst meinte. Zum ersten Mal fiel ihm kein cooler Spruch ein. Nervös schielte er zur Tür.
»Hey!« Mya baute sich zwischen ihnen auf, die Hände immer noch erhoben. »Ich will kein Blut mehr, Exx.«
»Du hast es doch erst heraufbeschworen, Babe. Seit deiner Rückkehr nach Salinas wurde mein Leben blutiger als jemals zuvor.«
»Kein Grund so weiterzumachen.«
»Was willst du
denn tun? Die Nuestra Familia mit Schnee bewerfen?«
»Vielleicht waren es nur Jäger, die auf uns ...«
Exx schoss nach vorne und stieß sie derart grob zur Seite, dass Lewis wütend die Muskeln anspannte. Doch schon berührte der Lauf der Ruger seine Stirn. Er glaubte, die Knie würden unter ihm nachgeben. Exx’ aufgebrachtes Gesicht verschwamm vor seinen Augen.
»Du hast es geschafft«, grollte er. »Du hast ihr eingeredet, dass sie nicht in Gefahr ist. Hervorragende Leistung!«
Lewis schluckte so hart, dass man es deutlich hörte. »Sorry Mann, war nicht meine Absicht.«
Der Lauf der Ruger presste sich vehementer gegen seine Stirn. Er spürte, wie er zu schwitzen begann.
»Glaubst du im Ernst, ich breche aus dem Zeugenschutzprogramm aus, weil mir langweilig ist?« Exx Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch Lewis kam es vor, als käme es direkt aus seinem Kopf. »Denkst du, ich riskiere
mein neues Leben, nur um ein dürres Mädchen zu ficken?« Exx spuckte es aus. »Und ganz bestimmt lasse ich nicht mein Motorrad zurück, nur um vor kanadischen Jägern den Schwanz einzuziehen.« Ohne die Waffe zu bewegen, drehte er den Kopf und sah Mya an. »Die Schüsse im Wald klangen nach einer FN Five-Seven. Dieses Scheißgeräusch kenne ich schon mein ganzes Leben lang. Hohe Durchschlagskraft gegen Schutzwesten, geringer Rückstoß und tödlich präzise auf Entfernungen unter 200 Meter. Neben der Ak-47 ist die FN das Lieblingsspielzeug der Mexikaner. Was Waffen angeht irre ich mich nicht, Mya. Niemals.« Er neigte leicht den Kopf. »Und jetzt sag mir, dass du immer noch glaubst, dass uns kanadische Jäger beschossen haben.«
Sie strich sich verzweifelt ihre Locken aus der Stirn. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«
»Dann helfe ich dir dabei! Du solltest dich daran erinnern, was dir letztes Jahr mit Paqui passiert ist. Und daran, was Rap und ich tun mussten, um dich aus dieser Scheiße zu retten. Schmeiß endlich dein verfluchtes Hirn an, Mya, und hör auf, Mitleid mit einem Typen zu haben, der dir nicht einmal einen Orgasmus beschert hat.« Exx lächelte bösartig.
Lewis wollte protestieren, doch dann sah er, wie Mya sich neben Exx stellte. Er erkannte die Angst in ihrem Gesicht. Jene Angst, die er ihr hatte nehmen wollen. Das war der Moment, in dem er realisierte, dass sie ihn nicht länger verteidigen würde. Was immer Exx nun entschied, Mya würde sich dem beugen. Lewis erfasste blankes Entsetzen. Er hatte den Tod so viele Male herausgefordert, hatte darüber gelacht, wenn er ihm wieder einmal von der Schippe gesprungen war. Er wusste, er war nicht der Typ dafür, alt zu werden. Als Rentner mit einem Rollator die Straße auf und ab zu flanieren, war nicht das Bild seiner Zukunft. Er wollte sterben, während er etwas tat, das ihn antörnte. Zu wissen, dass ein Basejump eines Tages sein letzter sein würde,
gab ihm ein gutes Gefühl. Eine Waffe an der Stirn tat es nicht. Er wich zurück.
»Hosen voll?« Exx starrte ihm ins Gesicht.
»Tu es, du Arschloch!« Lewis wollte abfällig klingen, doch seine Stimme fiel dafür eine Oktave zu hoch aus. Verärgert über sich selbst, hob er provozierend das Kinn. Er wollte nicht wimmern oder um Gnade flehen, auch wenn ihm die Düse ging. In diesem Moment hörte er ein Geräusch.
Exx wandte den Kopf. »Was ist das?«
Das Brummen wurde lauter und machte Lewis unruhig. Er erkannte das Motorengeräusch der Piper Seneca, die das Gebiet ansteuerte, über dem sie ihre Päckchen abwarf. Es war so weit! Er sollte sich aus dem Staub machen.
»Ein Flugzeug?« Exx verstärkte den Druck der Waffe. »Was soll das?«
»Wir sind an dem Ort, wo Kokain vom Himmel fällt«, bemerkte Mya. »Lewis’ Freunde werden gleich da sein, um es abzuholen.«
Exx blinzelte. »Ist das dein Ernst, Biberfresser? Du hast uns tatsächlich zu der Stelle geführt, wo heute Nacht einer eurer Deals über die Bühne geht?«
Lewis lauschte auf das Brummen der Motoren. Die Piper flog für gewöhnlich eine Schleife, bevor sie ihre Ladung entließ. So war es auch dieses Mal. Die Motoren wurden immer lauter, bis das Flugzeug direkt über ihnen abdrehte. Die Fenster der Versorgungshütte vibrierten.
»Scheiße!« Exx ließ von Lewis ab und sah hinaus. »Was passiert jetzt?«
»Die Päckchen werden abgeworfen. Sie haben Peilsender. In spätestens einer halben Stunde werden Nathan und Daniel hier sein, um sie zu orten und einzusammeln.«
»Die kommen zu Fuß?«
»Vermutlich mit dem Hubschrauber, wenn er nicht für einen offiziellen Einsatz benötigt wird oder das Wetter zu schlecht ist.«
»Hier wird ein Hubschrauber landen?« Exx drehte sich um. »Dann hätten wir ja gleich einen Ring aus Leuchtfeuer um die Hütte platzieren können.«
»Lass ihn gehen«, meldete sich Mya zu Wort. »Er wird nichts sagen.« Sie sah Lewis an. »Habe ich recht?«
Lewis nickte und bemerkte, wie Exx weitere Magazine aus seinem Rucksack holte. »Willst du den Hubschrauber abschießen?«, fragte er sarkastisch.
»Wir gehen!« Exx zerrte Mya mit sich. »Wir müssen hier weg sein, bevor unsere Verfolger wissen, wo wir sind.«
Lewis lachte auf. »Hier ist niemand«, murrte er, allerdings nicht so laut, dass Exx ihn hören konnte. Er beobachtete, wie Mya wenig begeistert ihre Jacke überzog. Sieh mich an, forderte er sie in Gedanken auf, doch Mya hielt den Kopf gesenkt. Kaum verklang das Motorengeräusch der Piper, hörte man in der Ferne das Hämmern der Hubschrauberrotoren.
»Die Jungs sind früh dran.« Lewis sah auf die Uhr. Vermutlich waren Daniel und Nathan beunruhigt, weil er verschwunden war, und wollten vor Ort nicht nur die Ladung abholen, sondern auch nach ihm Ausschau halten. Vorsichtig lugte er zu Exx, doch der war zu sehr damit beschäftigt, sich zu bewaffnen wie ein Heer von Navy-Seals. Kopfschüttelnd trat Lewis ins Freie und registrierte, dass es aufgehört hatte zu schneien. Der Mond blinzelte hinter vereinzelten Wolken hervor, reflektierte den Schnee und erhellte die Nacht. Lewis massierte sich die Stirn. Er spürte den Druck der Waffe nachhallen und machte sich innerlich über Exx lustig, der letzten Endes doch nicht den Mumm besessen hatte, ihn kaltblütig abzuknallen. »Dummes Arschloch«, murmelte er und fixierte die blinkenden Positionslichter des sich nähernden
Hubschraubers. In der Senke, in der sie sich befanden, hallte das Geräusch der Rotoren von den Bergwänden wider. Lewis ging hinein, um seine Sachen zu packen. Exx hatte die Karte eingesteckt und zielte erneut mit der Waffe auf ihn.
»Langweilig«, kommentierte Lewis die Drohung und bemühte sich, locker zu wirken. »Letzte Chance«, sagte er an Mya gewandt. »Komm mit mir und vergiss den Hoser
.«
»Raus!« Exx wedelte mit der Waffe. »Du verlässt die Hütte als erster, Biberfesser. Und fühl dich bloß nicht zu sicher. Ich behalte dich im Blick.«
Lewis grinste und schulterte seinen Rucksack. »Viel Glück.« Er nickte Mya zu und ging voraus. Er hatte keine Ahnung, wie er Daniel und Nathan sein Verschwinden erklären sollte, aber ganz gewiss würde er ihnen nicht auf die Nase binden, dass er gegen einen gesichtsbeharrten Lederkluft-Clown aus Kalifornien verloren hatte, der von Wahnvorstellungen heimgesucht wurde. Es war ihm noch nie passiert, dass er abserviert wurde. Sein verletzter Stolz tat ihm beinahe noch mehr weh als die Tatsache, dass er Mya nun wirklich gehenlassen musste. Mit eingezogenem Kopf trat er aus der Hütte und schlug die Richtung ein, in der der Hubschrauber landen würde. Es gab nur eine Lichtung in dieser Gegend, die groß genug war, dass ein Bell 407 sicher aufsetzen konnte.
Die Suchscheinwerfer des Hubschraubers wiesen ihm endgültig den Weg. Der aufgewirbelte Schnee wirkte in dem grellen Licht unwirklich. Auf die Entfernung sah es aus, als ob sich ein Ufo im Landeanflug befand.
»Fuck, das ist nicht gut.«
Lewis hörte Exx’ Stimme hinter sich und deutete mit dem Arm nach rechts. »Richtung Flint’s Park geht’s da lang!« Er sah Mya ein letztes Mal an. Sie war die faszinierendste Frau, die er je kennengelernt hatte. Hauptsächlich deshalb, weil sie es ihm so schwer machte. Sie war wie eine Felswand, die er
nicht bezwingen konnte und die seinen Ehrgeiz anstachelte. Sie diesem Verlierer zu überlassen, war eine Niederlage, die er lange nicht verschmerzen würde. »Lass dir nicht von ihm wehtun«, sagte er. »Und denk daran, dass in spätestens zwei Wochen die Fäden gezogen werden müssen.«
Sie nickte ihm zu. »Tut mir leid, Lewis.«
Exx schob sich vor sie und starrte ihn an, als ob er es bereute, ihn nicht erschossen zu haben. »Wenn sie dich erwischen, sag ihnen, ich hätte dich als Geisel genommen«, zischte er.
Lewis verkniff sich ein Grinsen. Der Hoser
hatte sich vermutlich bereits Löcher ins Gehirn gekokst, so paranoid wie der sich benahm. Er hob die Hand zum Gruß und hoffte, dass er in den nächsten Tagen nicht zu einem Einsatz gerufen wurde, weil jemand zwei erfrorene Leichen im Schnee entdeckt hatte. »Alles Gute.« Rasch ging er weiter. Er wollte es schnell hinter sich bringen. So als würde er ein Pflaster abreißen. Lewis straffte die Schultern und eilte auf den Hubschrauber zu, der gerade aufsetzte. Die Tür ging auf und Daniel sprang heraus. Als er Lewis’ Gestalt sah, zog er sofort seine Waffe.
Lewis hob die Hände. »Ich bin’s, Buddy!«
»Scheiße, Lew! Bist du’s wirklich, ey? Wo zum Teufel hast du gesteckt?«
»Lange Geschichte. Lass uns die Päckchen einsammeln und dann nichts wie weg von hier!«
»Alles okay?« Daniel musterte ihn misstrauisch. »Bist du alleine?«
»Ja, lass uns das hier erledigen, dann erzähl ich euch alles.« Er wusste nicht einmal, wo er beginnen sollte.
Nathan setzte die Kopfhörer ab. »Verdammt, Buddy, wir haben uns Sorgen gemacht.« Die Rotorblätter des Hubschraubers verlangsamten sich. »Wir dachten, die Rizzutos hätten dich erledigt.«
»Warum sollten sie das tun?« Lewis runzelte die Stirn.
»Du warst plötzlich weg. Niemand wusste, wo du bist. Deine Mutter hat die Polizei alarmiert. Sie suchen auch nach der englischen Maus. Ist sie nicht bei dir?«
»Mya? Nein.« Lewis sah sich um, doch Exx und Mya hatten sich bereits aus dem Staub gemacht. »Lasst uns unseren Job durchziehen, okay? Wir reden später.«
Er bemerkte, wie sich Daniel und Nathan ansahen. Sie glaubten ihm kein Wort. Er wusste selbst, wie merkwürdig sein Verschwinden und das plötzliche Auftauchen mitten in den Bergen auf seine beiden Kumpels wirken musste. Sie kannten sich einfach zu lange. Keiner von ihnen war je über mehrere Tage grundlos untergetaucht.
»Dann los!« Nathan starrte ihm ins Gesicht und es war, als ob er ahnte, dass Mya etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte. Lewis rieb sein Ohrläppchen. Es würde ihn Einfallsreichtum kosten, um seinen beiden Freunden eine Story aufzutischen, die sie schluckten. Und wie sollte er Myas Verschwinden der Polizei erklären? Am Ende würden sie ihn womöglich noch einer Tat verdächtigen, die er nicht einmal begangen hatte. In welche Scheiße war er da nur hineingeraten?
»Hilfst du uns oder was?« Während Nathan in der Dunkelheit verschwand, war Daniel stehengeblieben und drückte ihm eines der Suchgeräte in die Hand. »Je schneller wir hier fertig sind umso besser.«
Lewis aktivierte das Gerät und folgte dem piepsenden Punkt. Doch er war nicht konzentriert. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren und suchte nach einer Ausrede. Deshalb bemerkte er auch nicht, dass Daniel stehengeblieben war. Er rannte voll in ihn hinein.
»Was ist?«, fragte er barsch, bevor er realisierte, dass sein Kumpel die Hände erhoben hatte. Exx! Wütend verengte Lewis die Augen, doch es war nicht der Hoser
, den er vermutet hatte. Vor ihm standen zwei Männer mit gedrungenem Körperbau.
Das Licht des Helis beleuchtete nur schwach ihre fiesen Gesichtszüge. Sie hatten ihre halbautomatischen Waffen auf sie gerichtet.
»Wo sind sie?«, fragte der eine. Er hatte einen heftigen Akzent. Mexikanisch wie Lewis sofort vermutete. Die Erkenntnis schwächte ihn.
»Keine Ahnung, wovon ihr redet.« Daniel sah zu Lewis. »Was geht hier ab, Buddy?«
Lewis schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Aus einer der Waffen lösten sich vier Schüsse. Es klang wie das dumpfe Zischen eines Überdruckventils. Neben ihm sackte Daniel in sich zusammen und Lewis begriff erst Sekunden später, was geschehen war. Sein Puls überschlug sich. Ihm schien es, als wenn sein Herz nicht mit der Anspannung fertig wurde, die ihn mit einem Mal überkam. Er rang nach Luft.
»Du bist der nächste«, sagte einer der Männer, ohne die Miene zu verziehen. »Wo sind sie?«
»Ich weiß es nicht«, ächzte Lewis und starrte auf Daniels Leiche. Das Blut seines Freundes färbte den Schnee rot. Es erschien ihm so unwirklich wie die ganze Situation, in der er sich befand. »Sie sind weg. Abgehauen.«
»Wohin?« Die Stimme zehrte an seinen Nerven. Er wollte schreien, weglaufen, sich einreden, dass das alles nur ein böser Traum war, aber dort unten lag sein Freund, sein Kumpel. Wie konnte er tot sein? Lewis hob den Kopf. Ihm war speiübel.
»Wohin?«, wiederholte der Mann und Lewis wusste mit plötzlicher Sicherheit, dass er ebenfalls sterben würde. Diese Männer waren die wirklichen Terminatoren. Gegen sie war Exx nichts weiter als ein jämmerlicher Abklatsch. Er öffnete den Mund, zögerte den Moment hinaus. Was immer er sagen würde, danach würde er schweigen. Auf ewig. Er war nichts wert, hatte kein Pfand an der Hand, den er tauschen konnte.
»Sie wollten ...«, ihm versagte die Stimme, »... zum Flint’s ...« Weiter kam er nicht. Etwas benetzte sein Gesicht. Er wich zurück, verstand nicht, was da vor sich ging. Beide Männer sackten in sich zusammen. Die Löcher in ihren Schädeln verkündeten, warum. Lewis keuchte entsetzt auf, als er begriff, dass es ihr Blut war, das ihm ins Gesicht gespritzt war. Hektisch versuchte er, es wegzuwischen.
»Keine Verfolger, hm?« Exx ging an ihm vorbei, die Ruger wachsam erhoben.
Lewis drehte sich zur Seite und übergab sich in den Schnee.
»Ist ja gut.« Mya klopfte ihm auf den Rücken. »Mir schlägt das auch immer auf den Magen.«
Er musste über ihren Satz lachen. Das alles erschien ihm zu absurd. Fahrig wischte er sich über den Mund und zwang sich Daniels Leiche zu ignorieren. »Wir müssen Nathan warnen«, murmelte er.
»Nicht nötig.« Exx kam zurück und stellte sich vor Mya. In der Ferne waren Schüsse zu hören.
»Da sind noch mehr?« Lewis zog seine Waffe, doch die Finger zitterten ihm so sehr, dass er sie kaum halten konnte.
»Das ist die Familia, Mann. Die sind wie die Hydra. Schlägst du einen Kopf ab, wachsen zwei neue nach.«
»Netter Vergleich. So viel Bildung hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Lewis redete, um nicht komplett durchzudrehen.
Exx überging die Provokation. »Geht zum Hubschrauber!«, befahl er und schob Mya in die Richtung. »War dein toter Kumpel der Pilot?«
»Nein, der da!« Lewis deutete auf Nathan, der auf den Helikopter zurannte. Als er bemerkte, auf welche Situation er sich zubewegte, verlangsamte er seine Schritte.
»Jemand schießt auf mich!«, rief er verunsichert.
Exx grinste. »Ein cleverer Pilot.« Er lief los. »Ich sorge dafür, dass er nicht draufgeht.«
»Komm!« Lewis wollte Mya mit sich ziehen, doch sie wehrte sich.
»Ich gehe nicht ohne ihn!«, beharrte sie.
»Verdammt, Mya, willst du etwa sterben?«
»Das werde ich ohnehin.« Sie presste sich die Faust vor den Mund. »Exx hatte recht. Die ganze Zeit über. Siehst du es endlich ein, Lewis?«
Er nickte und konnte den Blick nicht von Exx abwenden, der zuerst auf Nathan zielte, bis dieser die Hände hob, und anschließend gezielt in die Dunkelheit feuerte.
»Wer war das?« Nathan kam auf sie zu und rang nach Atem. Sein Blick wanderte von Lewis zu Mya und blieb schließlich an Daniel hängen. Wortlos lief er an ihnen vorbei, bevor er auf die Knie sackte. »Nein!«
»Wir müssen hier weg!« Lewis folgte ihm und zerrte an seinem Anorak.
»Was hast du getan?« Nathan stierte ihn mit glasigen Augen an. »Daniel war unser Bruder, verdammt.«
»Ich wollte das doch nicht!«
»Was ist hier los? Was ...« Die Schüsse nahmen zu und alle starrten in das konturlose Nichts, in dem Exx verschwunden war.
»Starte den Heli!« Lewis riss Nathan gewaltsam auf die Füße.
»Aber wir können Daniel hier doch nicht liegenlassen!«
»Willst du verrecken?«, schrie Lewis und stieß seinen Kumpel voran. Sie stapften auf den Helikopter zu und zogen die Köpfe ein, als eine Kugel an den Rotoren abprallte.
»Scheiße!« Lewis drehte sich um. »Mya!«, brüllte er. »Komm endlich!«
Mit Erleichterung sah er, dass sie sich in Bewegung setzte.
»Rein da!« Er schob Nathan durch die Tür. Sein Freund schien wie gelähmt zu sein. Hektisch half er ihm, Platz zu
nehmen, bevor er ihn schüttelte, wie einen unerzogenen Hund. »Starte endlich diesen verfluchten Kübel!«
Nathan drückte mechanisch zwei Knöpfe über seinem Kopf, dann betätigte er den Steuerknüppel und setzte den Bat-Schalter auf ›On‹. Gemächlich begannen die Rotorblätter zu kreisen.
»Da kommt er!« Mya deutete auf Exx, der auf den Hubschrauber zurannte.
Atemlos traf er bei ihnen ein. »Da sind mindestens noch zwei andere«, rief er gegen das Motorengeräusch an. »Ich bleibe hier.«
»Nein!« Mya klammerte sich an ihn.
»Spiel nicht den Helden!« Lewis öffnete die Tür, damit er auf den Rücksitz springen konnten, doch Exx reagierte nicht.
Er sah Mya fest in die Augen. »Die wollen uns beide. Das ist unser Fluch und unsere Chance. Ich kann sie erledigen und falls sie mich doch kriegen, dann werden sie warten. Bis sie dich haben. Das verschafft mir Zeit.«
»Nein!« Mya schluchzte und Exx befreite sich aus ihrer Umarmung.
»Geh jetzt. Wir schaffen es hier oben nicht gemeinsam und deshalb müssen wir uns trennen. Ich finde dich, versprochen.«
Mya krallte sich in seine Jacke und Exx löste ihre Finger. »Sei vernünftig, Mya, und denk jetzt verdammt nochmal an dich!«
Ihr hysterisches Schluchzen nahm zu und Exx verlor die Geduld. »Wir haben keine Zeit!« Aufgebracht packte er sie und übergab sie an Lewis. »Pass auf sie auf, Biberfresser!«
Lewis hörte die Schüsse und sah, dass Exx in Deckung hechtete. »Los jetzt, verdammt!«, waren seine letzten Worte, bevor er in der Dunkelheit verschwand.
Mya schrie auf und wollte ihm folgen, aber Lewis umklammerte eisern die Kapuze ihrer Jacke. Schwer atmend zog er Mya zu sich in den Helikopter und knallte die Tür zu.
Schon zog Nathan den Steuerknüppel zu sich heran und der Bell erhob sich unter lautem Getöse in die Luft. Lewis langte nach hinten, um die andere Tür ebenfalls zu schließen. Im Lichtkegel des startenden Hubschraubers sah er drei Männer mit Maschinenpistolen im Anschlag. Sie schossen in die Richtung, in die Exx verschwunden war.
»Fuck.« Er zog den Kopf ein und betete, dass keiner von ihnen auf den Heli ballerte. Beschädigte eine Kugel die Hydraulik oder die Benzinleitung waren sie geliefert. Doch der Bell kam sicher in die Luft. Kaum waren sie oberhalb der Baumwipfel, drehte Nathan derart schwungvoll ab, dass Lewis sich festhalten musste. Er presste Mya an sich und spürte das hemmungslose Schluchzen, das ihren Körper durchschüttelte.
»Wir sind oben«, versuchte er sie zu beruhigen. »Wir haben es geschafft.«
Mya hob den Kopf und sah ihn aus verquollen Augen an. »Wir haben es nicht geschafft, Lewis. Es geht erst so richtig los, wenn wir wieder unten sind.«