Twenty-five
M ya stand am Fenster und beobachtete die Stadt unter sich. Seit zwei Tagen tat sie das bereits. Ihr Versteck war perfekt. Nachts, wenn das Kino schloss, konnten sie die Toiletten benutzen, sich waschen und ihre Wasservorräte auffüllen. Tagsüber ruhten sie sich aus und abends, wenn die Vorstellungen begannen, lauschten sie den Filmen, die unter ihnen gezeigt wurden. Es war wie ein Hörspiel. Mya genoss diese Auszeit nach dem, was sie erlebt hatten. Es war, als sei sie tatsächlich ein Geist, ganz so wie Lewis gesagt hatte, der unsichtbar am Leben in der Stadt teilnahm. Die Menschen waren um sie herum, doch sie sahen sie nicht. Das fast blinde Fenster schützte sie vor neugierigen Blicken und der Dachboden war wie eine Parallelwelt zur Wirklichkeit. Sie stellte sich vor, wie es sein mochte, sich dauerhaft hier zu verstecken. Doch natürlich war das unmöglich. Sie konnten nicht für immer vor der Realität fliehen. Das wurde ihr in jenem Moment bewusst, als sie Exx erblickte. Sie sah ihn auf der Straße. Ihr Blick wurde magisch von seiner Gestalt angezogen, die sie selbst dann erkannt hätte, wenn er nicht zufällig von einer Straßenlaterne angeleuchtet worden wäre. Durch das alte Buntglas wirkte er wie eine übernatürliche Erscheinung. Er ging in das Pub gegenüber des Kinos und sie dankte dem Schicksal, das es ihn zurück in ihre Nähe geführt hatte. Er lebte! Darüber war sie so erleichtert, dass ihr Herz aus dem Takt kam und sie am liebsten gejubelt hätte. Sie wollte zu ihm laufen, aber natürlich war das zu gefährlich. Außerdem fürchtete sie sich davor, ihn wieder um sich zu haben. Für zwei Tage hatten sie und Lewis wie in einem Kokon gelebt. Sie wollten beide nicht zurück in die Welt, die ihnen keinen Platz mehr bot. Sie wurden nicht nur polizeilich, sondern auch von einer Gang gesucht und hatten keine Ahnung, wie es für sie weitergehen sollte. Dieser Dachboden war alles, was es für sie noch gab. Er war ihre Zuflucht, ihr Zuhause und ihr Mikrokosmos.
Doch jetzt war Exx wieder da. Und mit ihm jene Realität, die Mya nur zu gerne verdrängt hatte. Zaghaft wandte sie den Kopf und sah ihn an. Er schlief noch immer. Seit nunmehr acht Stunden.
»Sollen wir ihn wecken?« Lewis saß neben ihr am Boden und ließ seine Fingergelenke knacken. Mya hatte schon festgestellt, dass er das immer tat, wenn er unruhig war.
»Lass ihn schlafen. Er braucht das.«
»Bist du eifersüchtig, weil er Emily gebumst hat?«
Mya antwortete nicht. Es war die falsche Frage für eine Tatsache, die sich nicht ändern ließ. Exx war wie er war. Er war weder treu, noch beziehungstauglich, noch offen für Veränderungen. Dafür war er loyal. Bis in den Tod. Sie konnte nicht eifersüchtig sein, denn er würde ihr nie gehören. Sie hatte lange gebraucht, um das zu erkennen. Eigentlich erst in dem Moment, in dem Lewis sie darauf hingewiesen hatte.
»Ich bin nicht eifersüchtig«, sagte sie mit fester Stimme.
»Klang vorhin aber anders.«
»So wie du darauf herumreitest, könnte man meinen, du wärst es.«
»Ganz sicher nicht.«
Mya seufzte. Dieses Gespräch war ebenso absurd wie die Frage nach ihrer Eifersucht. Ihrer aller Zukunft war so fragil wie ein Kartenhaus. Ein einziger Lufthauch konnte alles zum Einsturz bringen.
In Lewis’ Tasche begann es zu vibrieren. »Verdammt!« Er sprang auf. »Die rufen schon wieder an.«
Mya biss so hart in die Innenseite ihrer Wange, dass sie Blut schmeckte. Lewis lief im Kreis, während er auf das vibrierende Handy starrte. »Was soll ich tun?«
»Wer ist das?« Exx erschien mit einem Mal neben ihnen. Mya hatte ihn nicht einmal aufstehen sehen. Grob riss er Lewis das Telefon aus der Hand. »Du hast so ein Scheißteil bei dir?«
Er wollte es am Boden zerschmettern, doch Lewis und Mya sprangen gleichzeitig auf ihn zu.
»Scht!« Sie legte den Finger an die Lippen. »Dieses Gebäude ist verdammt hellhörig. Die Nachmittagsvorstellungen beginnen gleich und wenn wir hier oben Lärm machen, fliegen wir auf.«
Lewis angelte nach dem Handy in Exx’ Hand. Es hatte aufgehört zu brummen. »Das ist Nathans Prepaid-Handy. Ohne Internet-Funktion und alles. Cool down, Buddy!«
»Wer ruft da an?«, hakte Exx nach und Mya spürte augenblicklich die Spannung, die im Raum entstand. Lewis und sie hatten völlig einvernehmlich auf dem Dachboden gehaust, doch Exx war wie ein Eindringling, der ihre sorgsam aufgebaute Zuflucht zerstörte.
»Die Rizzutos!« Lewis rieb sich die Stirn. »Jeder von uns hatte so ein Telefon. Darüber bekamen wir unsere Informationen.«
»Und was wollen die?«
»Ihren Stoff! Der liegt noch oben in den Bergen und dort wimmelte es in den letzten Tagen vermutlich nur so vor RCMP-Leuten. Die Rizzutos werden nervös. Und das ist gar nicht gut.«
»Okay.« Exx atmete durch. »Können wir darüber reden?«
»Worüber?« Lewis ließ sich zurück auf den Boden sinken und Mya tat es ihm gleich. Während der Kinovorstellungen vermieden sie es, auf dem Dachboden herumzulaufen.
Exx sah auf sie herunter. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte er sich zu ihnen. »Über deinen kleinen Nebenverdienst.«
Lewis hob die Schultern. »Klar können wir das.«
»Fang von vorne an. Ich nehme an, wir haben Zeit.«
»Mehr als genug.« Mya lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und scheute davor zurück, Exx zu betrachten. Sie kannte sich. Sein Anblick würde ihr wehtun. So oft hatten sie sich nun schon verloren und wiedergefunden, es schien, als hielte sie ein unsichtbares Band zusammen. Und doch schaffte er es jedes Mal, dass sie innerlich verblutete, wenn sie in seiner Nähe war. Sie wollte das, was er ihr nicht geben konnte. Einst hatte sie geglaubt, dass sie einfach nur stark genug sein musste, um eine Beziehung mit ihm zu führen, doch Lewis hatte Zweifel in ihr geweckt. Exx war das Feuer und sie das Wasser. Sie würden niemals eine Einheit sein.
»Seit dem Tod meines Bruders bin ich der Ansprechpartner für die Rizzutos«, begann Lewis und Exx unterbrach ihn sofort: »Was geschah mit deinem Bruder?«
»Sie haben ihn umgebracht«, antwortete Mya, die Lewis ansah, dass er nicht darüber reden wollte. »Phil zweigte Koks für sich ab. Die Mafia kam dahinter und verhörte Daniel, Nathan und Lewis getrennt. Die anderen beiden packten aus, Lewis hielt dicht. Phil dagegen verpetzte alle. Das kostete ihn das Leben.«
»Tut mir leid, Mann.« Exx nickte Lewis zu, der zunächst nicht zu glauben schien, dass sein Rivale das tatsächlich ernst meinte.
Er wechselte einen Blick mit Mya und dankte ihr stumm, dass sie ihm die Geschichte mit seinem Bruder abgenommen hatte. Dann fuhr er fort: »Die Rizzutos schienen mir zu vertrauen. Ich koordinierte die Abläufe, war für die Übergabe der Kokain- Päckchen verantwortlich und erhielt dafür die Koordinaten für die nächste Abwurfstelle.«
»Warum so kompliziert? Wäre es nicht einfacher, das Kokain im Auto zu transportieren?«
»Vermutlich kommt das Zeug von der Ostküste. Der Transport im Flugzeug geht schneller.«
»Und warum werfen sie nicht einmal ein großes Paket ab, anstatt ständig mehrere kleine?« Exx stützte die Arme auf den Knien ab und sah Lewis aufmerksam an. Mya fragte sich, weshalb er all das wissen wollte, doch wie sie Exx kannte, hatte er seine Gründe dafür.
»Seit der Legalisierung von Cannabis in Kanada wurden die Drogengesetze grundlegend geändert. Das Strafmaß bemisst sich nun an der Menge, die man bei sich führt, und nach dem Zweck. Eigenkonsum wird nicht so streng geahndet wie Handel. Ein großes Paket Kokain ist zum einen ein ziemlicher Verlust, wenn es in den Bergen verloren geht, zum anderen ist man sofort wegen Hehlerei oder Drogenschmuggel dran, sollte man hochgenommen werden. Wenn man jedoch mit einem kleineren Päckchen erwischt wird, hat man vielleicht Glück. Die Rizzutos haben darin Erfahrung und da wir ohnehin ständig im Gebirge unterwegs sind, fallen unsere zusätzlichen Einsätze kaum auf.«
»Was ist, wenn ihr den Heli nehmt?«
»Nathan war für den Heli verantwortlich. Er musste die Flugstunden eintragen. Oder eben nicht. Daniel hat das am Ende abgesegnet. Er war der Vorsitzende der PCMS in dieser Region.« Man merkte Lewis an, dass er noch immer am Tod seines Kumpels zu knabbern hatte.
»Dann ist das ein lukratives Geschäft für beide Seiten.«
»Weshalb interessiert dich das alles?«
Exx holte tief Luft. Er sah zuerst Mya ins Gesicht und dann Lewis. »Weil ich nicht weiß, wie wir aus dieser Nummer wieder rauskommen. Ich suche nach Möglichkeiten.«
Es war ein Geständnis, das Mya verwirrte. Es war nicht Exx’ Art, sich seine Schwäche einzugestehen. Er war ein Macher. Er ging über Leichen, lebte außerhalb des Gesetzes. Doch natürlich war er kein Übermensch. Auch er hatte Grenzen, ganz besonders in einem fremden Land und an diesem Ort, der ihm völlig unbekannt war.
»Willkommen im Club.« Lewis fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare.
»Ich muss verstehen, wie das hier alles läuft. Nur dann fällt mir vielleicht eine Lösung ein.« Exx trommelte mit den Daumen gegen seine Boots. »Welche Macht haben die Rizzutos? Ballern die gerne rum oder fliegen die eher unterm Radar?«
»Das ist kompliziert.« Lewis legte die Stirn in Falten. »Die Rizzuto Familie ist eigentlich in Montreal aktiv, also weit weg von unserem Bezirk. 2005 lief dort ein Kokain-Deal mit der West End Gang, der irischen Mafia von Montreal.«
Exx grinste. »Gibt es uns Iren nicht überall? Ich wette, die Sache ging schief.«
»So war es. Die Polizei fing einen Teil der über eintausend Kilogramm Kokain umfassenden Lieferung ab und die Iren waren verdammt sauer. Sie wollten eine Entschädigung von den Rizzutos, weil die angeblich schlampig gearbeitet hatten. Ein paar Iren wurden daraufhin auf offener Straße hingerichtet. Das machte die Bundesbehörden aufmerksam und es folgte einer der größten RCMP-Operationen der kanadischen Geschichte. Das Ganze dauerte vier Jahre und es wurden zahlreiche Familienmitglieder der Rizzutos festgenommen.«
»Lass mich raten, die Köpfe der Mafia konnten sie trotzdem nicht ausschalten.« Exx nickte Mya zu. »Kommt dir das bekannt vor?«
»Wie bei der Nuestra Familia«, erwiderte sie.
»Ganz genau.« Exx’ Aufmerksamkeit kehrte zu Lewis zurück. »Red weiter.«
»Mehr weiß ich nicht. Es wird vermutet, dass es nach der RCMP-Operation zu Machtkämpfen zwischen den Rizzutos und anderen Gangs gekommen ist. Wie auch immer, jahrelang ging es hin und her. Die Medien berichteten über Todesopfer und ungeklärte Drogenfunde. Dann wurde es auf einmal still. Das war in dem Jahr, als Phil unser Geschäft aufgezogen hat.«
»Weil die Rizzutos nun versuchen, ihre Kokain-Deals in den Westen des Landes zu verlagern«, vermutete Exx.
»Das denke ich auch.« Lewis nickte. »Ich kann nur spekulieren und dir sagen, was ich im Internet gefunden habe. Man will schließlich wissen, für wen man arbeitet.«
»Und dir kam nie die Idee, dass die Typen dir eines Tages ebenfalls das Hirn wegpusten könnten? Du und deine Kumpels wisst zu viel. Die Rizzutos rufen ständig auf diesem Handy an, weil denen der Arsch auf Grundeis geht. Die fürchten um das Geschäft, das sie hier gerade ganz entspannt hochziehen.«
»Das ist mir bewusst.« Lewis senkte den Kopf. »Aber wie du sagst, wir haben es gründlich versaut. Das ist mein Todesurteil.«
»Vielleicht auch nicht.« Exx überlegte. »Vermutlich sind die Rizzutos unser einziger Ausweg.«
»Wie meinst du das?« Lewis horchte auf und Mya lehnte sich neugierig vor.
»Bekämpfe Feuer mit Feuer«, murmelte Exx. »Im Leben geht es nicht darum, gute Karten zu haben, sondern mit einem schlechten Blatt spielen zu können. Das unterscheidet die Gewinner von den Verlierern.«
»Du sprichst in Rätseln, Buddy.«
»Okay, wir haben folgendes Problem.« Exx malte mit dem Finger einen Kreis vor sich in den Staub. »Wir haben auf der einen Seite die Nuestra Familia, die Mya und mich und inzwischen vermutlich auch dich jagt. Auf der anderen Seite ...«, er malte einen zweiten Kreis, »haben wir die Rizzutos, die es nur auf dich abgesehen haben.« Ein weiterer Kreis wurde in den Staub gezeichnet, und zwar so, dass er die anderen beiden überlappte. »Dann gibt es die RCMP, die Mya und dich sucht.«
»In dem ganzen Spiel habe ich die Arschlochkarte«, murrte Lewis und Exx grunzte.
»Das wollte ich dir gerade verdeutlichen. Sowohl die Nuestra Familia als auch die Rizzutos haben keine Lust, in die Ermittlungen der RCMP zu geraten. Dazu steht für beide zu viel auf dem Spiel. Allerdings ...« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »... gibt es etwas, das beide Gangs überhaupt nicht ausstehen können.«
»Und das wäre?«, erkundigte sich Lewis.
»Wenn sich jemand in ihre Geschäfte einmischt.«
»Was meinst du?« Mya zog die Augenbrauen zusammen und bemühte sich, Exx zu folgen.
»Was ich gerade sagte. Bekämpfe Feuer mit Feuer. Wenn wir es schaffen, dass sich die beiden Gangs gegenseitig an die Gurgel gehen, haben wir eventuell eine Chance, uns aus dem Staub zu machen.«
»Du denkst, das funktioniert?« Lewis presste angespannt die Lippen aufeinander, doch Mya sah ihm an, dass er Hoffnung schöpfte.
»Wir haben nicht viele Möglichkeiten.« Exx malte einen Blitz durch die beiden Kreise, die die Gangs symbolisieren sollten. »Die RCMP weiß mit Sicherheit längst, dass der Tod deines Kumpels kein einfacher Mord war. Vermutlich haben sie schon beim FBI nachgefragt und lassen die Fingerabdrücke der Toten durch die Datenbank laufen. Die Mexikaner in den Bergen waren keine unbeschriebenen Blätter. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass die Behörden etwas finden. Und sie werden sich fragen, was die Mitglieder der Nuestra Familia im unbescholtenen Banff zu suchen haben. Und was ein ehrenwerter Bergretter mit ihnen am Hut hat. Wenn wir es schaffen, dass die Rizzutos glauben, dass die Mexikaner an ihr Koks wollten, dann wird es hier bald heißer, als ihr es jemals zuvor erlebt habt. Die RCMP wird das FBI zu weiteren Ermittlungen anfordern und am Ende tummeln sich hier so viele Sicherheitsbehörden, dass wir elegant untertauchen können.«
Mya zog einen Mundwinkel nach oben. »Das klingt gar nicht so dumm.«
Exx sah ihr in die Augen und sein Blick bescherte ihr Bauchkribbeln. »Es gibt einen Haken«, stellte sie fest.
Er nickte. »Lewis ist unsere einzige Verbindung zu den Rizzutos.«
Mya verstand. Sie und Exx wandten den Kopf und sahen Lewis an, der langsam zu begreifen schien.
»Vergesst es!« Er sprang auf und ballte die Hände zu Fäusten. »Ich sitze nur wegen euch auf diesem beschissenen Dachboden fest! Ihr habt mein ganzes verdammtes Leben zerstört!«
»Wenn du aussteigen willst, brauchst du dich nur der Polizei zu stellen.«
»Damit ich ins Gefängnis wandere? Auf keinen Fall. Ich gehe nicht ins Gefängnis!«
»Dann bleibt dir keine Wahl.«
Lewis schien in sich zusammenzufallen. »Selbst wenn dein Plan aufgeht, wohin soll ich denn gehen?«
»Es besteht eine reelle Chance, dass du überlebst. Ist das nicht mehr wert als dein Leben in diesem Kaff?«, fragte Exx verständnislos.
»Du hast keine Familie, oder?« Lewis wandte sich ab und stierte aus dem Fenster. »Dieses Kaff da draußen ist mein Zuhause!«
»Das du bereits aufs Spiel gesetzt hast, als du mit der Mafia Geschäfte gemacht hast. Kam dir nie die Idee, dass du dafür in den Knast wandern könntest?«
»Das Risiko entdeckt zu werden, war nicht besonders groß«, murmelte er.
»Wer hätte gedacht, dass das Risiko, seinen Schwanz in Mya zu stecken, viel größer sein kann?«
Mya trat Exx gegen das Knie. »Deine Kommentare sind echt nicht hilfreich!«, fuhr sie ihn an, bevor sie aufstand und sich neben Lewis stellte.
»Er hat recht«, sagte sie nach einer Weile. »Wir können uns nicht ewig hier oben verstecken, auch wenn es verlockend ist.«
»Das sagst du nur, weil du es nicht bist, die das Risiko auf sich nehmen muss.« Die Bitterkeit in seiner Stimme war kaum zu überhören. Er drehte sich zu Exx um. »Was soll ich tun?«
Exx musterte Lewis lange, bevor er antwortete. »Ruf sie zurück. Reg dich auf, dass dein Kumpel tot ist, brüll ins Telefon. Werd deinen ganzen Frust los und frag sie, warum sie dich nicht informiert haben, dass jemand hinter ihrem Stoff her ist. Mach sie für Daniels Tod verantwortlich und dafür, dass die RCMP dich sucht. Erklär ihnen, dass du dich tagelang durch die Berge zurück nach Banff durchschlagen musstest und dich jetzt versteckst. Schrei sie an. Sag ihnen all das, was dir auf der Seele brennt. Die müssen merken, dass du in Bedrängnis bist.«
Lewis schnaubte. »So einfach soll das sein? Die werden wissen wollen, woher ich Nathans Handy habe und weshalb ich mich nicht früher gemeldet habe.«
»Weil du andere Dinge zu tun hattest! Überleben zum Beispiel. Beschissene Mexikaner waren hinter dir her. Du konntest sie erledigen. Daniel ist tot und Nathan hat sich aus dem Staub gemacht. Du bist allein. Diese Tatsache wird dafür sorgen, dass sie dir nicht völlig misstrauen. Du standest in ihrer Gunst, warst der Organisator. Sie werden es dir anrechnen, dass du dich bei ihnen meldest. Mut kommt gut an. Schwäche wittern diese Aasgeier jedoch zehn Meilen gegen den Wind. Also gib nicht nach. Was immer sie dir zunächst vorschlagen, lehn es ab. Sie werden auf deine Forderungen eingehen.«
»Was sind denn meine Forderungen?« Lewis schüttelte den Kopf, als würde er nicht an den ganzen Plan glauben.
»Du willst Geld.«
»Wie bitte? Wofür das denn?«
»Für das entstandene Risiko. Du wärst beinahe draufgegangen. Du hast deinen Kumpel verloren. Du musst untertauchen.«
»Darauf gehen die niemals ein!«
»Darum geht es auch nicht. Aber sie laden dich zu einem Treffen ein. Wenn alles glatt läuft, werden sie dir zwar kein Geld geben, doch vermutlich schicken sie dich in die Berge, um ihr Koks zu holen. Dort kannst du dich aus dem Staub machen. Das ist unsere Chance.«
»Ich soll mich mit denen treffen?« Lewis Kopfschütteln verstärkte sich. »Auf gar keinen Fall!«
»Du musst«, sagte Exx eindringlich. »Die wollen dir ins Gesicht sehen, wenn du von den Mexikanern erzählst. Nur dann werden sie den Köder schlucken. Die gieren nach Informationen aus erster Hand und die wollen sich versichern, dass du nichts mit der ganzen Scheiße zu tun hast, die dort oben passiert ist.«
»Aber das habe ich!« Man sah Lewis die Panik förmlich an. »Ihr Beide habt diese Gang hierher gelockt. Was ist, wenn sie das wissen?«
»Woher sollten sie das?«
»Keine Ahnung.« Lewis warf die Hände in die Luft. »Du bist der Gangster. Sag du es mir!«
»Es gibt keine Garantie«, gab Exx zu. »Vielleicht haben sie Kontakte zur Polizei. Dann wissen sie das mit den Leichen längst. Trotzdem ist ansonsten jeder tot, der mich und Mya gesehen hat.« Er stand auf und stellte sich vor Lewis. »Du musst das nicht tun. Es war nur eine Idee, okay? Aber ich denke, uns ist allen bewusst, dass wir nicht auf diesem Dachboden bleiben können, bis wir alt und grau sind.«
Vorsichtig, um nicht zu viel Lärm zu machen, ging er zurück zur Chaiselongue und legte sich darauf, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Mya atmete tief durch, während Lewis erneut aus dem Fenster starrte, als ob er dort Antworten suchen würde. »Ich bin im Streit mit meiner Mutter auseinandergegangen. Wenn ich gewusst hätte ...« Er brach ab und Mya strich ihm über den Rücken, obwohl sie wusste, dass sie ihm nicht helfen konnte. Zum ersten Mal ging es in Lewis Leben nicht um den Nervenkitzel, den er bewusst suchte, sondern um etwas, dass auch ein Fallschirm nicht abbremsen konnte. Er raste in voller Fahrt auf die Realität zu und der Aufprall brach ihm mit großer Wahrscheinlichkeit das Genick. Den Lewis, den er kannte, gab es danach nicht mehr.
»Ich habe nie wirklich begriffen, dass ich an dem Tag, als Phil uns alle verpfiffen hat, auch hätte sterben können«, flüsterte er. »Als er fiel, sah ich in seinen Augen, dass er damit nicht gerechnet hat. Er war sich zu sicher.« Lewis schluckte. »Das war ich ebenfalls. Ich war mir zu sicher. Die ganze verdammte Zeit über.«
Mya wusste nicht, was sie sagen sollte. Ein weiteres ›Tut mir leid‹ erschien ihr unangebracht. Es war nur ein leerer Satz, der ihnen allen nicht weiterhalf.
»Okay.« Lewis senkte den Kopf. »Ich tue es.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Exx hinter ihrem Rücken.
Lewis nickte. »Was zum Teufel habe ich für eine Wahl?«
»Ist verdammt mutig, Mann.«
»Sag mir das, wenn ich es überlebe.«
»Dann nenne ich dich sogar Bro.«
Lewis grinste gequält. »Ihr Amerikaner mit euren bescheuerten Abkürzungen. Nenn mich Buddy, so halten wir das hier in Kanada.«
»Was immer du meinst, Mann.«
Unter ihnen ertönte das eingängige Intro einer Columbia-Filmstudio-Produktion. Exx lachte leise. »Hätte ich nicht dramatischer inszenieren können.«
Lewis und Mya setzten sich hin. »Die nächsten zwei Stunden können wir nichts tun«, erklärte Mya.
»Was läuft?« Exx schloss die Augen.
»Venom.«
»Was is’n das?«
»Noch nie was von den Marvel-Comics gehört?« Lewis legte den Kopf in den Nacken und schloss ebenfalls die Augen. »Du lebst echt in einem anderen Universum.«
»Ein Journalist wird von einer außerirdischen Lebensform befallen und die beiden bilden eine Art Symbiose, um die Bösen zu bekämpfen«, erklärte Mya.
Exx’ Lachen wurde lauter. »Ist wie bei uns, Biberfresser. Ich erkläre dir, wie’s geht und du ziehst aus, um gegen das Böse anzutreten.«
Lewis verzog den Mund. »Jetzt weiß ich, warum ich den Film nicht mag.«
Sie schwiegen und Mya beobachtete die zwei Männer, mit denen sie hier festsaß. Exx kam aus ihrer Vergangenheit, Lewis aus der Gegenwart. Es war beinahe, als hätte sich unverhofft ein neues Kleeblatt gefunden. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, wenn sie daran dachte, wie das letzte geendet hatte.