Twenty-eight
L ewis verharrte am Bergkamm, um Atem zu schöpfen. Seine beiden Verfolger starrten ihn an. Die Anstrengung der Tour stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Scheiß Italiener, verfluchte er sie innerlich, und fühlte sich, als würde es ihm die Lunge zerreißen. Mr. Giovanni hatte ihnen einen Tag gegeben, um das Koks zu bergen. Zu wenig Zeit. Aber was blieb ihm nach der letzten Nacht schon anderes übrig?
Er schimpfte leise vor sich hin. Es war alles schief gegangen, was nur hatte schiefgehen können. Er wollte Mya nicht verraten, doch er konnte nicht anders. Nach dem Schock von Nathans Tod fühlte sich Lewis nur noch wie eine Hülle. Er handelte, ohne nachzudenken. Er setzte auf Exx und seine Wehrhaftigkeit, hoffte sogar, dass Mya und ihr Stecher tatsächlich geflohen waren. Doch wie sich herausstellte, hatten sie auf ihn gewartet. Das überraschte ihn. Und führte dazu, dass er sich schuldig fühlte. Weil er schwach war. Weil er der Drecksmafia das Versteck zeigte, an dem sie sicher gewesen waren.
Aber dann stießen die Rizzutos auf Gegenwehr. Nicht etwa durch Exx, sondern durch die beschissenen Mexikaner. Sie tauchten wie aus dem Nichts auf und schossen Exx vom Dach. Es folgte eine Schießerei wie aus einem Film, die ganz Banff aus den Häusern lockte. Drei Itaker wurden getötet und in dem völligen Chaos ihres Rückzugs war sein Rucksack, den er bei seinem Aufbruch auf dem Dachboden zurückgelassen hatte, das Einzige, woran er denken konnte. Er spürte das beruhigende Gewicht auf seinem Rücken. Dieser Rucksack war alles, was er noch besaß.
»Che c’è, amico ?« Seine Begleiter forderten ihn unmissverständlich auf, weiterzugehen. Lewis gehorchte. Er wusste, Mr. Giovanni würde seine Drohung wahrmachen. Er würde Mya töten. Aber zuerst musste Lewis für ihn diesen Botengang machen und das Kokain zurückbringen. Es war wie ein Initiationsritual. Er hatte seine Freundin verraten und nun durfte er bei ihrer Hinrichtung zusehen. Sollte er dabei nicht mit der Wimper zucken, bestand die Chance, dass man ihn am Leben ließ. Doch man konnte nie wissen.
Die Tatsache, dass die Mexikaner den Italienern auf offener Straße die Stirn geboten hatten, brachte Mr. Giovanni zum Ausrasten. Das kam einer Kampfansage gleich. Seine Raserei hielt ihn zum Glück davon ab, Fragen zu stellen, die Lewis zum Verhängnis hätten werden können. Wieso hatten die Mexikaner Exx mitgenommen? Weshalb hatte Lewis gewusst, dass sich seine Freundin und der Kerl auf dem Dachboden des Kinos versteckten? Warum hatte Mya ihn geschlagen?
Lewis rieb sich die Stirn. Mya hatte jeden Grund dazu. Er hatte sie verraten und wer wusste schon, was Mr. Giovannis Gehilfen ihr in diesem Moment antaten. Er wollte nicht darüber nachdenken. Manchmal redete er sich ein, dass ihm keine Wahl geblieben war. Dass er ihr nichts schuldete und dass er ohne sie nicht in diese ganze Scheiße hineingeraten wäre. Doch dann verglich er sich mit Exx, der in einer vergleichbaren Situation steckte, und der Myas Versteck niemals preisgegeben hätte. Das führte ihm vor Augen, wer er war. Lewis stapfte weiter bergauf. Tiefhängende Wolken hüllten die Bergspitzen ein und die Luft war nicht mehr so eisig wie vor einer Woche. Es war völlig windstill. Das war gut.
In etwa zwei Stunden würden sie den Platz erreichen, an dem vor fünf Tagen die Kokainpäckchen abgeworfen worden waren. Fünf Tage. Lewis hatte das Gefühl, als wenn sein Martyrium schon viel länger andauerte. Doch innerhalb dieser kurzen Zeit war es ihm gelungen, Banff völlig auf den Kopf zu stellen. Ein derartiges RCMP Aufgebot hatte es in der kleinen Stadt noch nie zuvor gegeben. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was inzwischen für Gerüchte über ihn im Umlauf waren.
Eine Schießerei mitten in der Innenstadt, ein aufgebrochenes Kino, drei tote Italiener. Presse und Bevölkerung würden zuverlässig dafür sorgen, dass diese Tatsachen mit seinem Verschwinden und dem von Nathan und Daniel in Verbindung gebracht wurden. Vermutlich hatte die RCMP längst herausgefunden, dass der Heli mehr Flugstunden absolviert hatte, als in den Büchern von Parks Canada vermerkt war. Er war geliefert. Seine Kumpels waren tot und sein eigenes Schicksal hing an einem seidenen Faden. Zum ersten Mal bereute Lewis, das Geschäft mit den Rizzutos angefangen zu haben. Der Preis dafür stellte sich am Ende als zu hoch heraus. Warum zum Teufel hatte er nicht eher darüber nachgedacht?
Lewis zwang sich, seine Gedanken auf die bevorstehende Aufgabe zu lenken. Er betete, dass die RCMP das Kokain nicht gefunden hatte. Das würde ihm endgültig das Genick brechen. Nur mit den Päckchen besaß er eine gewisse Macht gegenüber Mr. Giovanni. Es war die einzige Chance, die ihm noch blieb. Wie in Trance konzentrierte er sich darauf. Er sah die Abwurfstelle vor sich, sah Daniels Leiche und Nathan, der aus östlicher Richtung auf ihn zurannte. Er wusste auch ohne Peilsender, wo die Kokainpakete lagen. Es hatte in den letzten Tagen nicht geschneit, sodass sie leicht zu finden sein mussten. Wenn sie noch da waren.
Lewis beschleunigte das Tempo, holte alles aus seinem Körper heraus, was er an Reserven zu bieten hatte. Er hörte das Rufen seiner Bewacher und ignorierte sie. Sie würden nicht auf ihn schießen. Sie brauchten ihn. Aber er musste zuerst bei der Hütte sein. Er musste einfach!
Meter für Meter, Anstieg für Anstieg zog er bergauf. Das Pfeifen seines Atems vermischte sich mit den Flüchen der Italiener. Einer von ihnen schoss in die Luft, aber Lewis wurde nicht langsamer. Er spürte die herannahende Taubheit in seinen Gliedmaßen, die ihn darauf aufmerksam machte, dass er an sein Limit geriet. Er war trainiert, doch die psychische Belastung der letzten Tage machte sich bemerkbar. Lewis kämpfte sich voran. Er dachte daran zurück, wie sein Vater ihn zum ersten Mal mit zum Bergsteigen genommen hatte. Sie fingen an einer einfachen Felswand an und sein Vater zeigte ihm alles, was er wissen musste. Dieser Tag hatte ihn infiziert wie eine Droge. Anschließend gab es kein Zurück mehr. Er begann mit dem Freeclimbing und verliebte sich in die Spannung, die ihn erfasste, wenn er einen Berg bezwang. In der Höhe gab es nur noch ihn. Jede Bewegung musste effizient und konzentriert erfolgen und das Bewusstsein, dass er sterben konnte, wenn er einen Fehler machte, machte ihn high. Dieses Gefühl wollte er immer wieder erleben. Er überschritt Grenzen und erhöhte die Dosis der Gefahr, in die er sich begab, ohne zu begreifen, dass man irgendwann den Absprung schaffen musste, wenn man nicht wirklich dabei draufgehen wollte. Genauso war es in diesem Augenblick. Er musste effizient und konzentriert handeln, um zu überleben. Das Risiko musste kalkulierbar bleiben.
Lewis warf einen Blick über die Schulter. Seine Verfolger fielen immer mehr zurück. Das war gut. Er brauchte nur fünf Minuten ohne sie.
»Stronzo !« Die Männer hoben ihre Fäuste und verfluchten ihn. Lewis erhöhte das Tempo. Er wusste, er war dabei, sich völlig zu verausgaben, aber es ging nicht anders. In der Ferne sah er bereits die Hütte. Ein erneuter Schuss knallte. Dieses Mal schlug die Kugel neben ihm ein und entsandte Felssplitter in alle Richtungen.
»Fuck!« Er hob instinktiv die Hände und drehte sich um, ging jedoch rückwärts weiter. »Das Wetter schlägt um«, rief er und deutete auf den aufsteigenden Nebel. Er hoffte, dass die Italiener keine Ahnung hatten, dass sie in spätestens einer Stunde völlig eingehüllt sein würden. Sinkender Luftdruck führte immer dazu, dass der Nebel aufstieg. In diesem Gebiet konnte es tagelang neblig sein, bevor der Dunst endgültig hochstieg, Wolken bildete und seinen Niederschlag zur Erde schickte. »Wir müssen uns beeilen!«
Die Italiener fluchten erneut, ehe sie mit den Händen wedelten und ihm zu verstehen gaben, dass er weitergehen sollte. Das ließ sich Lewis nicht zweimal sagen.
Trotz seiner übersäuerten Muskeln kämpfte er sich voran. Gib jetzt nicht auf, trieb er sich selbst an, und fixierte die Hütte.
Als sie über eine Stunde später endlich in Reichweite war, war sich Lewis nicht mehr sicher, ob er es schaffen würde. Sein Tempo war zu hoch. Er hatte Herzrasen und glaubte, kurz vor einem Kreislaufkollaps zu stehen. Doch seine Verfolger war er los. Der Nebel hatte sie verschluckt, auch wenn er ihr Keuchen in einiger Entfernung hören konnte. Mit letzter Kraft erklomm er den Anstieg zur Hütte und verharrte dort, eine Hand gegen den Seitenpfosten gestützt, während er nach Luft rang.
»Weiter!«, forderte er sich selber auf und ließ den Rucksack von der Schulter rutschen. Die Italiener hatten ihn durchsucht, seine Waffe an sich genommen sowie die Gabeln, Kerzen und das Feuerzeug. Für die Bergtour hatte er nur Wasser und etwas Brot mitnehmen dürfen. All das brauchte er jetzt nicht mehr. Er ließ den Rucksack stehen und zog den Reißverschluss seiner Jacke nach unten. Die Luft kühlte ihn augenblicklich ab und er wusste, dass er sich vermutlich den Tod holen würde. Eine Ironie, über die er lächelte.
Rasch ging er weiter. Der Schnee war in der gesamten Gegend um die Hütte plattgetreten worden. Eine Linie aus roter Sprühfarbe umrandete die Stelle, an der Daniels Leiche gefunden worden war. Weitere Markierungen fanden sich in unmittelbarer Nähe. Es war unübersehbar, dass die RCMP hier nach Beweismaterial gesucht hatte. Lewis ging weiter. Der Nebel verdichtete sich immer mehr.
»Luigi!« Der Ruf seiner Verfolger verhallte im weißen Nichts.
Lewis schritt voran, folgte in Gedanken der Richtung, aus der er Nathan hatte kommen sehen, bevor sie geflohen waren. Sein Suchgerät hatte ihm denselben Weg gewiesen. Doch das Funksignal der Päckchen war längst erloschen. Die Batterien hielten nur für wenige Stunden. Jetzt musste er sich auf sein Gefühl verlassen. Lewis tauchte zwischen jungen Tannen unter, keine von ihnen so hoch, dass sie ihn überragten.
»Luigi!«
»Ich bin hier!« Er wollte, dass sie ihm folgten. Sie sollten sehen, was er tat.
Hinter der Ansammlung der Bäume verliefen sich die Spuren. Er erkannte Pfotenabdrücke, vermutlich von Spürhunden, die hier oben nach Leichen gesucht hatten. Zum Glück waren sie nicht dafür ausgebildet, Rauschgift zu erschnüffeln, ansonsten wäre er jetzt leer ausgegangen. Je weiter er ging, desto weniger Spuren waren zu sehen. Lewis ließ den Blick schweifen. Er wusste, dass die Pakete nie besonders weit auseinander lagen. Das Flugzeug flog so tief, dass es von den Radaren verschwand, weil die Berge wie Störsender wirkten. Das passierte in den Rockies gelegentlich und sorgte für gewöhnlich nicht für Aufregung, wenn sich die Piloten kurze Zeit später wieder meldeten. Private Kleinflugzeuge wurden nicht so präzise überwacht wie zivile Linienmaschinen.
»Wo seid ihr?«, flüsterte Lewis und unterdrückte die aufsteigende Panik. Die Schritte seiner Verfolger kamen immer näher.
Da! Er sah das erste Paket. Es war mit silberfarbenem Gaffa-Tape umwickelt und wirkte unter dem Tannenbaum wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk.
»Komm zu Daddy, Baby.« Lewis bückte sich und schob sich das Päckchen unter seinen Pullover. Von einem Moment auf den anderen war er um viele tausend Dollar reicher. Er atmete tief durch und ging weiter.
»Luigi! Dove sei? «
»Immer meiner Stimme nach!«, rief er seinen Verfolgern zu und drehte sich im Kreis. Bei jeder Übergabe wurden fünf Pakete abgeworfen. Kokain im Wert von 100.000 kanadischen Dollar. Auf dem Markt würde der Stoff das Vierfache bringen.
Lewis fand das zweite und dritte Päckchen und schob sie ebenfalls unter seinen Pullover. Inzwischen sah er aus wie ein schwangeres Känguru.
»Ich hab die Pakete gefunden«, ließ er die Italiener wissen und kniff die Augen zusammen. Wo waren die restlichen zwei Päckchen?
Seine Verfolger stapften aus dem Nebel auf ihn zu, die Waffen erhoben.
»Keine Spielchen mehr!«, befahl der eine von ihnen.
Lewis fand endlich, wonach er suchte, und hielt das Kokain in die Höhe. »Keine Sorge, es ist alles da!« Er klemmte sich das Paket unter den Arm und lief weiter.
Wo zum Teufel war das letzte Päckchen? Er brauchte sie alle, verdammt!
»Komm her, Luigi!« Offenbar hatten die zwei Italiener keine Lust, sich durch die jungen Tannen zu zwängen und warteten auf ihn. Doch Lewis stellte sich taub. Er hatte, was sie wollten. Sie würden ihm folgen.
Zu seiner Erleichterung fand er endlich das fünfte Paket und stopfte es zu den anderen.
»Was tust du da, eh? Gib uns das Kokain, cazzo
Lewis drehte sich nicht um. Während des Gehens schlüpfte er aus einem Ärmel seiner Jacke. Noch wollte er sich nicht von der Wärme trennen, die ihn umgab.
»Luigi!« Er hörte, dass sie sich nun doch überwanden und die Verfolgung aufnahmen. Es war so weit. Der Felsvorsprung war nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Lewis kamen erste Zweifel an seinem Vorhaben.
»Stehenbleiben!« Die Italiener wurden ungeduldig und Lewis drehte sich um.
Schritt für Schritt tastete er sich rückwärts weiter. Die Idee war ihm im Van gekommen. Mya saß neben ihm und er spürte ihre Angst und ihre Abneigung ihm gegenüber. Obwohl er bei der PCMS gearbeitet hatte, war er kein Held. Dafür war er viel zu egoistisch. Und ebendieser Egoismus trieb ihn an. Er wollte nicht dabei zusehen, wie diese Dreckskerle Mya kalt machten. Er hatte keine Lust, Mr. Giovanni erneut zu begegnen. Es war an der Zeit, dass er die Arschlöcher mit seinen eigenen Mitteln schlug. Lewis schloss die Augen. Er fühlte die Neigung des Felsens. Das Plateau, auf dem sie standen, stürzte nach Norden hin ab. Über eintausend Meter Steilwand befanden sich hinter ihm. Im Sommer war es ein herrlicher Aussichtspunkt, im Winter wurde dieser Teil des Plateaus gesperrt. Zu gefährlich wurde die Felskante bei Eis und Schnee. Erst vor einigen Jahren war ein Wanderer hier in den Tod gestürzt. Sie hatten seinen zerschmetterten Körper vom Boden bei Block Lakes Junction kratzen müssen.
»Was hast du vor?« Misstrauisch sahen sich seine Verfolger um und wedelten mit ihren Pistolen. »Gib uns das Kokain!«
Lewis schlug die Augen wieder auf. Seine Ferse erfühlte das Ende dessen, was ihm festen Halt bescherte. Er zog die Jacke aus und warf sie hinter sich. Sie trudelte lautlos in die Tiefe wie ein abgeschossener Vogel, bevor sie im Nebel verschwand.
Die Italiener sahen ihn verwundert an und Lewis stopfte sich den Pullover in die Hose. Die Päckchen schmiegten sich an seinen Körper.
»Was machst du, eh? Sollen wir dich hier erschießen?«
»Nein.« Lewis schüttelte den Kopf und machte sich bereit. »Ich will, dass ihr Mr. Giovanni eine Nachricht von mir überbringt.«
Die Männer richteten ihre Waffen auf ihn. Lewis grinste. Er streckte seine Hände aus und hob ganz langsam beide Mittelfinger. Dann ließ er sich rückwärts fallen.