Twenty-nine
M ya kauerte in der Ecke eines baufälligen Gebäudes. Die Wand und der Boden auf der anderen Seite des Zimmers waren mit Blut besudelt und es stank dermaßen, dass sie würgte. Die Luft war klamm und sie fror erbärmlich. Niemand kümmerte sich um sie. Sie war weder gefesselt, noch war jemand mit ihr im Zimmer, aber sie wusste, dass ihre Peiniger da waren. Sie beobachteten sie und Mya spürte die Anspannung, die in der Luft lag.
Sie berührte ihr Gesicht. Man hatte sie geschlagen. Die Haut oberhalb ihres Jochbeins war aufgeplatzt und so angeschwollen, dass ihr Auge in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ihre gesamte linke Gesichtshälfte pochte schmerzhaft. Mya unterdrückte die Tränen, die mit einer Vehemenz an die Oberfläche drängten, dass es wehtat. Aber sie bezwang sie. Sie wollte nicht weinen. Nicht solange sie es verhindern konnte.
Aufgelöst umschlang sie mit den Armen ihre angezogenen Knie und verbarg ihr geschundenes Gesicht darin. Exx. Wieder einmal war er fort und sie bekam die schrecklichen Bilder nicht aus dem Kopf. Viel zu spät hatte sie bemerkt, dass es ihren Verfolgern gelungen war, die Klappe zu durchbrechen. Während sie noch mit sich selbst rang und sich zu überwinden versuchte, ihre Beine über den Dachrand zu schwingen, hörte sie Lewis’ Stimme.
»Lass es, Mya.«
Sie fuhr herum, erblickte ihn hinter sich auf dem Dach und vernahm das Schimpfen weiterer Männer, die die Plakatständer zur Seite zerrten, welche sie und Exx herangeschleppt hatten.
»Du hast uns verraten«, entfuhr es ihr und sie ignorierte die Waffen, die die Männer in Lewis’ Rücken auf sie richteten.
Er senkte den Blick, konnte ihr nicht in die Augen sehen. Mya spuckte ihm vor die Füße. »Du blöder Arsch hast uns auffliegen lassen!«
Einer der Italiener ging zu ihr und zerrte sie grob auf die Beine. Mya wehrte sich und ihr Peiniger verlor auf dem Schrägdach beinahe den Halt. Er schlug ihr derart hart ins Gesicht, dass ihr Kopf herumflog. Für kurze Zeit war sie gefangen im Schmerz und der kurzfristigen Orientierungslosigkeit. Ihr Schädel dröhnte und sie wollte schreien, um Exx zu warnen. Da traf sie ein weiterer Schlag.
»Muss das sein?«, murrte Lewis.
Mya starrte ihn an. Sie wollte losbrüllen, ihn beschimpfen und sich so Erleichterung verschaffen, doch in diesem Moment fielen Schüsse. Die Männer um sie herum warfen sich bäuchlings zu Boden oder verzogen sich ins Innere des Hauses, während Mya stehenblieb wie die Pappfigur in einer Schießanlage. Sie geriet mitten ins Kreuzfeuer.
»Exx!«, schrie sie, ohne auf den Beschuss um sich herum zu achten, setzte sich hin und robbte zurück an den Rand des Daches.
Zuerst konnte sie ihn nirgends sehen, aber dann rutschte er in ihr Blickfeld. Wie ein angeschossener Wolf kämpfte er gegen seinen Absturz an. Er blutete, hinterließ Spuren auf den Schindeln.
»Nein!« Mya wollte zu ihm, ihre Hände krallten sich an der Regenrinne fest. Direkt neben ihr stürzte ein Mann tödlich getroffen vom Dach. Er schlug in Exx’ unmittelbarer Nähe auf, bevor es ihn auf die Straße katapultierte und er ihrem Blick entschwand. Auch Exx konnte nicht mehr abbremsen. Er drehte sich um, sah sie an.
»Exx!« Mya glaubte, ihr Schrei könnte ihn aufhalten, wenn er nur laut genug war. Doch er glitt über die Kante und war fort.
Jemand packte sie von hinten und zog sie mit sich. Mya wehrte sich nicht länger. Wie eine schlaffe Puppe hing sie in den Armen eines fluchenden Italieners. Sie wurde weitergereicht, über den Dachboden geschleift und durch die Klappe in den Vorführraum geworfen. Niemand fing sie auf und sie prellte sich Knie und Schulter. Anschließend zerrte man sie die Wendeltreppe hinunter, hielt ihr eine Waffe an den Kopf, damit sie endlich selbstständig ging, und bugsierte sie in einen Transporter, der vor dem Hintereingang parkte. In der Ferne erklangen Polizeisirenen. Die Italiener schrien und gestikulierten, zwängten sich ins Innere und schlossen die Schiebetür. Als der Van rückwärts aus der Einfahrt schoss, wurde Mya gegen Lewis gedrückt. Er hielt sie fest, doch sie wehrte seine Hände ab und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.
Die Italiener lachten, bevor weitere Schüsse ihnen das Lachen austrieben. Der Fahrer sackte tödlich getroffen am Lenkrad zusammen. Der Beifahrer reagierte blitzschnell. Er beugte sich rüber, stieß die Tür auf und ließ seinen Kollegen aus dem Auto fallen. Dann setzte er sich selbst ans Steuer. Die restlichen Italiener feuerten aus der halbgeöffneten Schiebetür. Überall schlugen Kugeln ein und der Van beschleunigte. Mit quietschenden Reifen schoss er um die nächste Ecke. Alle redeten durcheinander und Mya war froh, dass der Van hinten keine Scheiben hatte. Sie hatte Angst, Exx auf der Straße liegen zu sehen. Ihr war klar, wer auf sie geschossen hatte. Ihre alten Feinde, die Nuestra Familia waren wieder im Spiel. Sie wollten zu Ende bringen, was sie angefangen hatten, bevor es ihnen in der Stadt zu heiß wurde.
Mya brachte sich in die Realität zurück. »Gegen diese Gegner gewinnt ihr nicht«, flüsterte sie und bereitete sich auf das Schlimmste vor.
Als sie Schritte hörte, sah sie auf. Ein Mann kam auf sie zu. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und hellbeige Lederschuhe. Seine Haare glänzten feucht und Hals und Handgelenke zierten Goldketten. Einige Meter von ihr entfernt blieb er stehen und legte den Kopf schief.
»Mia Mya!«, sagte er. »Jetzt bist du mein, eh?«
Sie erwiderte nichts und ein Lächeln flog über sein Gesicht. »Luigi meinte, er hat dich gefickt. Ist das wahr?«
Sie presste die Zähne aufeinander. Lewis schien mehr Details preisgegeben zu haben, als sie ihm zugetraut hatte.
Der Mann nickte. »Ich verstehe, dass du nicht darüber reden willst. Immerhin hast du einen Freund.« Er verengte die Augen. »Was ist das für ein Kerl?«
Mya schwieg eisern und er schürzte die Lippen. »Man nennt mich Mr. Giovanni. Ich bin Pietro Rizzutos rechte Hand. Und seine linke. Je nachdem, was er gerade tut.« Er machte eine obszöne Geste. »Ich mache gelegentlich Frauen für ihn gesprächig, wenn du verstehst, was ich meine. Das ist ein angenehmer Zeitvertreib. Die anderen Dinge überlasse ich gerne meinen Freunden.« Er grinste. »Nun, da wir uns einander vorgestellt haben, fällt uns das Gespräch vielleicht etwas leichter.«
Mya sah zu der Wand auf der anderen Seite des Zimmers und Mr. Giovanni folgte ihrem Blick.
»Schade um Nataniele«, sagte er. »Ein zuverlässiger Kerl, aber redselig wie ein Weib.«
Mya durchzuckte es. Nataniele ... Nathan. Mr. Giovanni bemerkte ihre Verunsicherung. »Ganz recht. Luigi brauchte etwas Motivation. Nachdem er gesehen hat, was mit Verrätern passiert, wurde seine Zunge lockerer.«
Myas Finger krampften sich ineinander. Nun verstand sie, warum Lewis geplaudert und die Mafia zu ihrem Versteck geführt hatte, auch wenn ihr noch immer nicht klar war, was die Rizzutos von ihr wollten.
»Nun, mia Mya, solange Luigi unterwegs ist, sollten wir ein wenig Licht ins Dunkel bringen, eh.«
Sie bemühte sich, Mr. Giovanni ins Gesicht zu sehen. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.«
»La verità «, erwiderte er gefährlich leise. »Die Wahrheit. Was hattet ihr in diesem Kino zu suchen? Und wer hat auf uns geschossen?«
Mya überlegte. Sie hatte keine Ahnung, was Lewis dem Schwein alles erzählt hatte. War er bei ihrem Plan geblieben oder hatte er Mr. Giovanni in seiner Panik jede Kleinigkeit offenbart? Ihre Antwort war wie eine Tretmine und konnte sie zerfetzen. Sie schluckte.
»Die Nuestra Familia hat sie beschossen«, erwiderte sie und beobachtete die Reaktion ihres Gegenübers. Er spannte sich an. Das war ein gutes Zeichen, denn dann war ihm der Name nicht unbekannt.
»Merde !«, murmelte er und fixierte sie. »Hat Luigi dir das gesagt? Habt ihr euch abgesprochen?«
Mya schüttelte den Kopf. »Ich stamme aus Kalifornien. Diese Gang ist mir nicht unbekannt.«
»Ist das so?« Er hob eine Augenbraue.
»Mein Vater war Mitglied bei ihnen.« Sie ließ die Informationen tröpfchenweise raus, um Mr. Giovanni aus der Reserve zu locken. Sie hoffte, dass er dann etwas von dem preisgab, was Lewis ihm erzählt hatte.
Ihr Gegenüber lachte. »Du willst mir weismachen, dass du ein Mobsterkind bist?«
»Das war der Grund, warum ich Kalifornien verlassen habe.«
»Dann weißt du, weshalb diese mexikanischen Kojoten hier sind?«
Sie nickte. »Bei der Nuestra Familia geht es immer nur ums Geschäft.«
»Porca miseria !« Er verzog den Mund. »Die wollen mein Kokain. Das ist es, eh?«
»Vermutlich.« Mya gab sich unwissend. »Ich habe keine Ahnung von Ihrem Geschäft.«
»Hat Luigi dir nichts erzählt? War es nicht das, was dich heiß gemacht hat?«
»Ich denke eher, es war umgekehrt.«
Mr. Giovanni schlug sich amüsiert auf den Oberschenkel. »Ich wusste schon immer, dass Luigi geil auf böse Mädchen ist.« Er wurde schlagartig wieder ernst. »Ist dein muskulöser Freund ebenfalls in dieser Gang?«
»Dann hätten sie ihn wohl kaum vom Dach geschossen.« Mya blieb der Satz beinahe im Hals stecken.
»Das ist wahr. Ich vermute, sie waren sauer, weil er einige ihrer Leute in den Bergen ausgeschaltet hat.«
»Das denke ich auch.«
Mr. Giovanni rieb sich das Kinn. »Habt ihr euch deswegen versteckt?«
»Ja, ich habe Angst vor dieser Gang. Sie sind nicht zimperlich.«
Ihr Gegenüber lachte. »Fühlst du dich jetzt besser?«
Mya sah ihm in die Augen. »Die Nuestra Familia tötet mehr von ihren eigenen Leuten als von ihren Feinden. Ich bin froh, dass ich hier bin.« Das war gelogen, aber sie wollte ihrem Gegenüber Angst einjagen und ihn davon abhalten, weitere Fragen zu stellen. Fragen, die sie womöglich nicht beantworten konnte.
Mr. Giovanni sprang darauf an. Er beugte sich vor. »Diese mexikanischen Ratten haben keine Ahnung, mit wem sie sich anlegen.«
»Ich will nicht unhöflich sein, aber ich denke, Sie haben keine Ahnung«, beharrte Mya. »Mein Vater wurde gefoltert und zerstückelt. Die Familia hat mehr Leben auf dem Gewissen, als alle Gangs in Kanada zusammen.«
Mr. Giovanni lachte erneut. Dieses Mal weniger begeistert. »Puttana !«, wetterte er. »Wer bist du, dass du mir hier Vorträge hältst?«
»Jemand, der nicht zum ersten Mal vor der Familia flieht!«
Er knurrte wie ein tollwütiger Hund. »Dann können sie nicht so gefährlich sein. Du lebst noch.«
»Noch«, wiederholte sie und las in seinem Gesicht, dass es genauso war. Sie kapitulierte. Es war gleichgültig, was sie Mr. Giovanni erzählte. Lügen oder Wahrheit änderten nichts mehr. Sie fror, hatte Schmerzen und wusste mit plötzlicher Sicherheit, dass die Rizzutos sie nicht gehen ließen. Dafür hatte sie zu viel gesehen. Egal, was sie sagte, am Ende machten diese Typen sie kalt. Sie wollten, dass Lewis ihnen ihr Kokain besorgte. Dann würden sie ihn ebenfalls töten, um neu anzufangen, wenn sich die ganze Aufregung gelegt hatte. An einem anderen Ort, mit einer anderen Masche. Ihre Selbstbeherrschung bröckelte und die Tränen, die sie bis vor kurzem noch hatte zurückhalten können, begannen zu fließen. Sie brannten auf ihrer Wunde. Verzweifelt wischte sie sie aus dem Gesicht. Sie war alleine. Exx war vermutlich schon tot oder würde es in den Händen der Familia bald sein. Ihr Plan, gemeinsam unterzugehen, war gescheitert. All die Worte, die sie sich auf dem Dachboden anvertraut hatten, kreisten wie leere Wünsche durch ihr Innerstes, verdammt dazu, auf ewig unerfüllt zu bleiben.
Mr. Giovanni fixierte sie mit sichtlicher Genugtuung. »Mia Mya, was machen wir jetzt nur mit dir?«,
Sie sah ihn an. »Das wissen Sie doch schon längst.«
Er studierte ihr Gesicht, grinste hinterhältig. In diesem Moment kam einer seiner Männer zu ihm. Sie flüsterten gedämpft miteinander und Mr. Giovanni ballte die Hände zu Fäusten. Seine Stimme wurde lauter, er gestikulierte und schrie sein Gegenüber an. Mya zog die Beine noch enger an ihren Körper heran. Etwas war geschehen. Etwas, das die Situation eskalieren ließ. Sie spürte Mr. Giovannis Zorn, der sich gegen sie richtete.
»Hast du das gewusst?«, brüllte er.
Sie reagierte nicht. Konnte es nicht angesichts der drohenden Gefahr. Mr. Giovanni zog eine Waffe und Mya brach der Schweiß aus den Poren, ihr Herzschlag verselbstständigte sich. Panik. Starre. Sie sah alles wie in Zeitlupe. Mr. Giovanni entsicherte die Pistole, richtete sie auf sie.
»Luigi hat sich mitsamt unserem Koks von einem Berg gestürzt«, durchdrang seine Stimme den Nebel ihres Grauens.
Lewis. Es tut mir leid . Mya starrte in die Mündung der Waffe. Vielleicht hatte sie es verdient, so zu sterben. Sie hatte das Kleeblatt zerstört und nun auch das Leben von Lewis. Sie dachte an Rap und daran, dass sie alle in der Ewigkeit ihren Frieden finden würden. Sie war nicht bereit dafür, aber wer war das schon?
Sie sah, dass sich Mr. Giovannis Finger am Abzug bewegte. Ihr letzter Moment. Der letzte Atemzug. Ewigkeit.