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ewis saß in einem grell beleuchteten Raum. Vor ihm lagen die Kokain-Päckchen. Er sah sich unauffällig um. Die Wände waren weiß gestrichen, die Neonröhren an der Decke unangenehm und hinter dem obligatorischen Spiegel spürte er die Blicke der Beamten auf sich gerichtet. Er verlagerte sein Gewicht. Der knarzende Plastikstuhl führte nicht dazu, dass seine Schmerzen abgemildert wurden. Doch noch hatte er genug Adrenalin im Blut, das ihn aufrecht hielt.
Der Sprung in den Nebel war das krasseste gewesen, das er je abgezogen hatte. Nathan hätte ihm dafür ein Denkmal errichtet. Gleichzeitig war es auch das Dümmste, das er je getan hatte, aber ihm blieb kein anderer Ausweg. Als er seinen Rucksack wiedergefunden hatte, wusste er, was zu tun war. Die Italiener hatten seine Sachen zwar gefilzt und ihm alles abgenommen, was sie für gefährlich hielten, doch mit dem Fallschirm konnten sie nichts anfangen. Er sah für sie nur wie ein weiterer Rucksack aus. In einem unbeobachteten Moment hatte Lewis ihn sich umgeschnallt, die Jacke darüber gezogen und seinen normalen Rucksack geschultert, sodass niemandem auffiel, was er alles mit sich herumtrug. Es war ein Risiko, doch das größere Risiko
war der anschließende Sprung. Er hatte den Fallschirm schon nach seinem letzten Basejump für einen weiteren Absprung von der Razor’s Edge gepackt. Die war jedoch viel höher, als das Plateau, von dem er sich stürzen wollte. Er hatte keinen Höhenmesser und durch den Nebel sah er auch nichts. Es war buchstäblich ein Sprung ins Leere und alles, worauf Lewis sich verlassen konnte, war sein Erinnerungsvermögen. Er kannte die Gegend, wusste um die Beschaffenheit der Felswand und des Bodens, auf den er zuraste. Kaum, dass er sich rückwärts hatte fallen lassen, zog er die Reißleine. Er drehte sich blitzschnell, breitete Arme und Beine aus, um seine Fallgeschwindigkeit abzubremsen, und betete, dass sich sein Schirm rechtzeitig öffnete. Er tat es, wenn auch später als geplant. Lewis’ Landung auf dem Geröllboden war entsprechend hart. Er überschlug sich mehrmals und nur dank des Kokains, das ihn polsterte, brach er sich keine Rippen. Aber er war sich sicher, dass sein Handgelenk gebrochen und sein Kreuzband gerissen war. Doch das waren jetzt seine geringsten Probleme.
Wie erhofft, war er direkt neben dem Sawback Trail gelandet, wo seine Kollegen der PCMS damit beschäftigt waren, Holzpfähle in den Boden zu rammen, um den Weg auch im Schnee erkennen zu können. Er wurde im Winter als Rettungsweg freigehalten. Lewis wusste, dass diese Arbeiten anstanden und sein Rufen um Hilfe wurde schnell erhört. Die Kollegen konnten kaum glauben, ihn zu sehen, und alarmierten auf seinen Wunsch sofort die RCMP. Innerhalb einer halben Stunde saß er im Hubschrauber nach Banff und nun in diesem Verhörraum. Es schien, als seien alle überfordert mit seiner Rückkehr und dem Kokain, das er bei sich hatte.
Die Tür ging auf und zwei Beamte traten ein. Der eine trug ein graues Hemd mit schwarzer Weste und einer schwarzen Hose mit gelben Streifen an der Außenseite. Der andere einen dunkelblauen Anzug mit Krawatte. Lewis konnte sich sofort
ausmalen, dass letzterer vom FBI war. Er sah von einem zum anderen, während sie ihm gegenüber Platz nahmen und ihm zunickten.
»Lewis Kenwood?« Der FBI-Mann ergriff das Wort.
Lewis bejahte und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Die Zeit drängte. Wenn die Italiener Wind davon bekamen, was er getan hatte, würden sie Mya womöglich sofort töten.
»Ich bin Special Agent Rick Frey vom U.S.-Justizministerium. Und das hier ist mein kanadischer Kollege Jacob Landry von der RCMP. Er ist mit Ihrem Fall vertraut.« Frey starrte auf die Päckchen vor ihm auf dem Tisch. »Ist das Ihr Kokain?«
»Nein, das gehört der italienischen Mafia. Wie ich Ihren Kollegen schon versucht habe zu erklären ...«, setzte Lewis an, doch Frey unterbrach ihn: »Das tut jetzt nichts zur Sache. Sie müssen von vorne beginnen, Mr. Kenwood. Ihr Verschwinden liegt acht Tage zurück und ich würde gerne wissen, was seitdem geschehen ist.«
»Sie verstehen nicht!« Lewis hob seine unverletzte Hand. »Dort draußen sind zwei Menschen, deren Leben in Gefahr ist.«
»Wer sind diese Menschen?«
»Mya Munroe und ein Exx ...« Er zögerte. »So ein Harleyfahrer. Er tauchte auf, um Mya vor dieser Gang zu retten. Ich wollte ihm zunächst nicht glauben, aber dann wurde auf uns geschossen. Wir waren auf der Flucht und jetzt hat die Mafia Mya in ihrer Gewalt. Und diese Gang vermutlich den Hoser
.«
»Den Hoser
?« Frey sah von den Notizen auf, die er sich machte.
»Idiot«, erklärte Landry und Frey zuckte sichtbar zusammen.
»Hoser
ist ein kanadischer Ausdruck für Idiot«, stellte Landry seine Aussage klar.
»Dann geht es hier um eine Meinungsverschiedenheit zwischen rivalisierenden Gangs?«
»Das ... nun ja ... nicht direkt. Aber Sie müssen mir glauben. Es ist dringend! Die Mafia tötet Mya ...«
In diesem Moment öffnete sich die Tür hinter ihrem Rücken und Frey sprang auf. »Was soll denn das, verdammt?«, entfuhr es ihm und er starrte den Mann an, der im Türrahmen stand. »Was tun Sie hier? Ich habe gesagt, ich will nicht gestört werden!«
Der Mann ignorierte ihn und wandte sich an Lewis. »Exx sagten Sie? Das ist ein Spitzname, oder?« Seine Stimme klang wie ein Reibeisen und ihm wuchsen büschelweise Haare aus den Ohren. Auf seinem Kopf thronte ein beigefarbener Cowboyhut.
Lewis nickte. »Ja, er nannte sich Travis. Travis Jones, glaube ich.«
»Ha!« Der Mann warf Frey einen siegessicheren Blick zu. »Damit ist das auch mein Fall!«
»Sie sind U.S. Marshall, Whitman! Ermittlungen sind ganz und gar nicht Ihre Angelegenheit! Ich weiß überhaupt nicht, was Sie hier tun.«
»Das ist mein Schützling, der sich in den Händen der Nuestra Familia befindet!«
Frey schnaubte. »Ihr Schützling hätte niemals aus Ihrer Obhut entweichen dürfen, Whitman! Weshalb ist er in Kanada?«
»Er sucht seine Frau!«
»Seine Frau?«, erwiderten Frey und Lewis wie aus einem Mund.
Whitman zuckte die Schultern. »Was sonst?«
»Verflucht!« Frey sah von einem zum anderen, bevor er wieder Lewis ins Visier nahm. »Sie sind sich ganz sicher, dass hier Leben in Gefahr sind?«
»Das bin ich, Sir. Sonst wäre ich nicht hier. Ich kenne die Mafia und ich werde auspacken, aber wenn Sie sich nicht beeilen,
werden Mya und Travis ...«, er brachte es kaum über sich, es auszusprechen, »... gelyncht.«
»Schön und gut.« Frey hob die Hände. »Doch wir können nicht hellsehen. Wir wissen nicht, wo die beiden sind. Ansonsten hätten wir sie ja längst befreit.«
Whitman grinste und Frey verzog wütend den Mund.
»Ich denke, Mya ist in einem der verlassenen Häuser bei Dead Man’s Flats. Ich war dort. Und Nathan Tremblay ebenfalls. Die Mafia hat ihn erschossen«, erklärte Lewis.
»Wie bitte?« Frey horchte auf. »Was zum Teufel geht denn hier vor?«
»Ein Bandenkrieg«, fiel ihm Whitman ins Wort. »Ich mag nur ein Marshall sein, aber damit kenne ich mich aus.«
Jacob Landry, der kanadische Beamte, erhob sich ebenfalls. »Wir sind hier eine Touristenregion! Bandenkriege sind unser sicherer Tod! Was haben die Mexikaner überhaupt hinter der amerikanischen Grenze verloren? Ich dachte, ihr habt das Problem mit der Nuestra Familia im Griff!«
Frey rieb sich den Nacken. »Ich habe doch gestern schon gesagt, dass ich keine Ahnung habe! Es gab keinerlei Hinweise auf eine Verlagerung Ihres Geschäfts.«
»Wenn Sie nicht noch mehr Leichen in Ihrem Touristenort haben wollen, dann sollten Sie jetzt handeln«, sagte Whitman.
»In Ordnung, Sie warten hier.« Frey sah Lewis an. »Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie einen Arzt?«
»Wäre nicht schlecht.« Lewis zögerte. »Augenblick! Auch auf die Gefahr hin, dass ich Sie wieder verwirre, aber Travis hatte mein Handy. Ich sollte mich bei ihm melden. Vielleicht hat er es noch bei sich, keine Ahnung.«
Landry schob ihm einen Notizblock und einen Kugelschreiber über den Tisch. »Notieren Sie die Nummer.«
Lewis schrieb mit der linken Hand, da die rechte so angeschwollen war, dass er den Stift nicht einmal halten konnte.
Er schob den Notizblock zurück. »Die Nuestra Familia will Blutrache an Mya verüben. Wenn jemand ans Telefon geht, dann geben Sie sich als ein Mitglied der italienischen Mafia aus und schlagen Sie einen Handel vor. Mya gegen einen kompletten Rückzug aus der Region.«
Frey lachte herablassend. »Lassen Sie uns unsere Arbeit machen, Mr. Kenwood! Wir sind darauf spezialisiert.«
»Das ist Ihre einzige Chance«, beharrte Lewis. »Die Familia will Blut sehen. Das ist alles. Sie werden danach so oder so gehen. Aber das weiß die Mafia nicht.«
»Ich dachte, es ist ein Bandenkrieg«, meinte Landry und Whitman trat vor.
»Denken Sie an den Tourismus«, murmelte er und schlug Landry auf die Schulter. Dann wandte er sich an Frey: »Lassen Sie endlich Ihre Hunde von der Leine!«
Die Beamten sahen sich an und verließen das Büro. Whitman sank auf einen der Stühle und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Einen Arzt!«, rief er dann in Richtung Spiegel und wartete, bis sich die Tür des Nebenraums öffnete und wieder schloss.
»Gute Arbeit, mein Junge«, sagte er an Lewis gewandt und zwinkerte ihm zu. »Jetzt sollten wir beten.«
»Was hat es mit dem Bandenkrieg auf sich?« Lewis senkte die Stimme.
»Interner Druck.« Whitman grinste. »Ist so eine USA-Kanada-Sache. Hätten wir die Geschichte mit der Blutrache erzählt, wären diese Affen viel langsamer in die Gänge gekommen. So hat ihnen die Furcht, dass man eine Staatsaffäre daraus machen könnte, die Eier zusammengezogen.«
Lewis holte tief Luft. »Denken Sie, die finden Mya rechtzeitig?«
Whitman kratzte sich am Ohr. »Sie mögen das Mädchen, was?«
»Sie war mein persönlicher Albtraum.« Lewis lächelte gequält. »Keine Braut vorher hat mich derart fertig gemacht.«
Whitmans Gelächter klang wie das Wiehern eines Pferdes. »Das sind die besten Frauen, nicht wahr?« Er sah Lewis an. »Keine Sorge, Junge, die werden dich nicht jahrelang in den Knast stecken.«
»Weshalb denken Sie, ich müsste ins Gefängnis?« Lewis Magen zog sich schmerzhaft zusammen. In den letzten Stunden hatte er an alles Mögliche gedacht, aber nicht daran, was für Konsequenzen sein Handeln haben würde.
»Du hattest etwas mit der Mafia am Laufen, nicht wahr?«
Lewis schielte zum Spiegel hinüber. War das eine Falle?
Whitman bemerkte seine Sorge und schüttelte den Kopf, um ihn zu beruhigen. »Dein Verhör wurde offiziell unterbrochen. Der Bienenschwarm ist in Aufruhr, wenn du verstehst.«
»Hm.« Lewis rang mit sich selbst. »Steht mir kein Anwalt zu?«, wollte er wissen.
»Und ob!« Whitman klopfte auf den Tisch. »Darauf würde ich an deiner Stelle sogar bestehen, wenn die zurückkommen.« Er machte eine Pause. »Niemand, der keine Insider-Informationen hat, nimmt der Mafia so viel Kokain ab, Kleiner. Das ist dein Pfand für die Verhandlungen. Du packst aus und forderst dafür Strafminderung. Würde mich wundern, wenn die nicht darauf eingehen. Außerdem hast du dein Leben riskiert, um zwei Menschenleben zu retten. Dein Anwalt sollte das herausstellen.«
»Warum tun Sie das?« Lewis runzelte die Stirn.
»Dir helfen?« Whitman stand auf. »Tue ich doch gar nicht.«
Schritte waren im Gang zu hören und eine Beamtin erschien. »Kommen Sie bitte mit, Mr. Kenwood. Ich bringe Sie zum Arzt.«
Lewis erhob sich. Sein linkes Knie war völlig versteift. Whitman schlug ihm auf die Schulter. »Alles Gute, mein Junge. Dein Einsatz war erstaunlich.«
»Danke.« Lewis humpelte neben der Beamtin her. Sie führte ihn über den Gang der Polizeistation. In den Büros hörte er Telefone klingeln. Aufgeregte Stimmen redeten durcheinander. Es ging zu wie in einem Taubenschlag. Lewis atmete aus. Er fühlte sich seltsam befreit. Seit sein Bruder Phil ums Leben gekommen war, hatte er eine Last gespürt, die er bisher verdrängte. Doch jetzt war sie weg. Er hatte dem Schrecken ein Ende bereitet und zum ersten Mal war er bereit dafür. Durch ein Fenster sah er Polizisten eines Sondereinsatzkommandos in drei schwarze Vans springen. Es ging los. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät. Lewis senkte den Blick und setzte seinen Weg fort.