Thirty-two
E wigkeit. Licht. Schmerzen. Mya schlug ein Auge auf. Sie lag in einem Bett. Einem Bett? Sie schluckte, spürte, dass ihr Mund völlig ausgetrocknet war. In ihrem Kopf hämmerte es und sie konnte ihr linkes Auge nicht öffnen. Panisch begann sie zu blinzeln. Ihr Kopf schien verbunden zu sein. Sie hob die rechte Hand, ließ sie wieder sinken. In ihrem Arm steckte eine Infusionsnadel. Sie hob die linke Hand, betrachtete ihre Finger und betastete ihr Gesicht. Die Hälfte davon verschwand unter einer dicken Mullbinde. Ihr gesundes Auge tränte und sie bemühte sich, die Erinnerungen aus dem Nebel des Vergessens emporzuheben. Man hatte auf sie geschossen. Sie hörte den Knall. Aber sie war noch da. Sie lebte. Verwirrt sah sie sich um.
Neben ihrem Bett stand ein Stuhl, daneben war ein weiteres Bett, doch es war leer. Ein Fenster. Sie sah Wolken. Es war Tag. Sie drehte den Kopf. An der gelbgestrichenen Wand gegenüber des Bettes hing ein Fernseher, den zwei Bilder mit Blumenwiesen umrahmten. Sie war in einem Krankenhaus. Draußen auf dem Flur waren Schritte zu hören. Stimmen. Ein Handy klingelte.
Mya schloss das Auge. Die Erinnerung kehrte mit einem Schlag zurück. Der Italiener hatte geschossen. Neben ihren Kopf in die Wand. Splitter hatten sie getroffen. Sie hatte aufgeschrien vor Schmerzen. Mr. Giovanni schrie ebenfalls, allerdings vor Wut. Er hatte sie hochgezerrt und geschworen, sie zu töten, wenn sie ihm nicht verriet, welchen Plan Lewis verfolgte.
»Er will das Scheiß-Kokain selbst verticken, habe ich recht? Will damit ein neues Leben beginnen. Er ist genau so dumm wie sein Bruder Filipe. Stronzo
Mya wurde panisch. Blut trübte ihren Blick, sie glaubte zu sterben, verstand nicht, dass die Kugel sie verfehlt hatte.
Mr. Giovanni übergab sie an einen seiner Männer. »Macht mit ihr, was ihr wollt. Hauptsache, sie redet endlich. Ich will mein Koks!«
Er ging davon und Mya hörte das dreckige Lachen ihres neuen Peinigers. Es vermischte sich mit dem Pfeifen in ihrem Ohr, das noch immer von dem Schuss nachhallte. Das Blut lief ihr übers Gesicht, tropfte zu Boden.
»Scheiße!« Der Mann stieß sie angewidert von sich. »Mach dich sauber.«
Mya stolperte rückwärts, fuhr sich mit dem Ärmel ihrer Jacke übers Gesicht. Es brannte. Blut. Überall war Blut. Sie drehte sich im Kreis, sah nichts mehr, verlor die Orientierung.
»Mamma mia !« Der Mann verpasste ihr einen harten Schlag gegen die Schulter, der sie zu Boden sinken ließ. »Das ist ja ekelhaft.« Er ging aus dem Raum, ließ sie allein. Sie hörte ihn mit den anderen reden, sie lachten. Mya robbte voran, suchte Schutz an der Wand und rollte sich zusammen wie ein kleines Kind. Die Zeit dehnte sich aus. Sie erinnerte sich an ihre Angst, ihren Schmerz, aber nicht daran, wie lange sie dort lag.
Irgendwann gab es einen Knall. Rauch strömte herein. Schreie. Schüsse. Jemand sprach sie an. Sie konnte nicht reagieren. Sie wurde hochgehoben und davon getragen. Der Himmel über ihr, war das Letzte, was sie bewusst erlebte.
Mya öffnete ihr Auge wieder. Sie war tatsächlich in einem Krankenhaus. Sie war nicht tot. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Exx! Wo war er? Hastig setzte sie sich auf, sank jedoch sofort auf das Kissen zurück. Der Schwindel nahm ihr die Orientierung. Alles drehte sich. Ihr wurde übel. »Verdammt«, stöhnte sie.
»Sie sind wieder unter uns.« Mya erschrak, versuchte, den Mann zu fixieren, der zur Tür hereinschaute. Das Herz pochte immer heftiger in ihrer Brust.
»Wer sind Sie?« Sie wollte sich befreien, riss an ihrem Infusionsschlauch.
»Scht!« Der Mann eilte auf sie zu und drückte sie behutsam zurück aufs Bett. »Mein Name ist Sam Whitman. Sie sind in Sicherheit. Alles ist gut.«
Whitman? Mya beruhigte sich. »Der U.S. Marshall?«
»Genau der.« Er grinste. »Mr. Jones hat Ihnen von mir erzählt.«
»Exx?« Mya griff nach Whitmans Jacket. Er durfte nicht wieder gehen, bevor er ihr nicht alles gesagt hatte. »Wo ist er? Ist er hier?«
Whitman tätschelte ihren Arm. »Er ist hier.«
Sie erkannte an seinem Gesichtsausdruck, dass er ihr etwas verschwieg. »Lebt er?«, brach es aus ihr heraus. Gütiger Gott, lass ihn leben . Sie war nie religiös, aber in diesem Moment wollte sie an eine Macht glauben, die ihr zur Seite stand.
»Nun, er ...« Whitman brach ab. »Er atmet.«
»Er atmet«, wiederholte Mya. »Das ist gut. Oder?«
»Vermutlich.«
Heiße Tränen liefen über ihr Gesicht und brannten in ihrem verletzten Auge. »Er lebt.« Die Erleichterung traf sie wie eine Flutwelle. Sie schluckte und ihr trockener Hals ließ sie husten. Whitman reichte ihr die Schnabeltasse mit Wasser, die neben dem Bett stand. Mya trank in großen Schlucken und gab ihm die Tasse zurück.
»Was ist passiert?«, fragte sie heiser.
»Ihr Freund Lewis hat sich mit dem Kokain der Italiener vom Berg gestürzt. Mit einem Fallschirm. So etwas Verrücktes habe ich noch nie gehört.« Er kratzte sich amüsiert am Kopf. »Er alarmierte die Polizei und ließ sich festnehmen. Anschließend erzählte er uns von seiner Vermutung, wo die Mafia sie gefangen halten könnte. Und er gab uns die Nummer des Handys, das er bei Mr. Jones zurückgelassen hatte. Ich muss gestehen, seine Vorschläge waren recht durchdacht und haben uns Erfolg beschert.«
»Wie geht es Lewis?«
»Wesentlich besser als Ihnen und Mr. Jones.«
»Wird er ins Gefängnis müssen?«
Whitman lächelte. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Miss. Noch ist es zu früh, um darüber eine Aussage zu treffen. Er sitzt in Untersuchungshaft, aber nachdem seine Hinweise zu Ihrer Rettung führten und dazu, dass die Behörden hochrangige Mitglieder der Rizzuto-Mafia und der Nuestra Familia fassen konnten, stehen seine Chancen auf Strafmilderung gut.«
»Sie haben Mitglieder der Nuestra Familia verhaftet?« Ihre Nervosität kehrte mit einem Schlag zurück.
»Das haben wir. Und es war ein großer Fang dabei. Ein Puzzleteil, das uns vielleicht etwas über die Mesa verraten kann.«
»Aber wenn die wissen, dass wir leben ...« Mya fasste sich an den Hals. Der Gedanke, auf ewig verfolgt und gejagt zu werden, schnürte ihr die Kehle zu.
»Die tun erst einmal gar nichts«, beruhigte sie Whitman. »Das FBI wird sich um sie kümmern.«
»Die Familia hat mich in Kanada gefunden!«
»Und das wird ihnen nicht wieder gelingen. Wir werden auf Sie aufpassen, Miss. Darum kümmere ich mich persönlich.«
»Zeugenschutz?« Mya horchte auf. »Aber Exx ist abgehauen, er ...«
»... war offiziell auf der Suche nach seiner Frau.«
»Seiner ... Frau?«
»Hm.« Whitman nickte. »Ist in unserem Programm keine Seltenheit. Die Schützlinge müssen meist sehr spontan entscheiden, wen sie mitnehmen. Da kann es schon mal vorkommen, dass die Sehnsucht zu groß wird. Mr. Jones hat das Programm nicht verlassen. Er war nur mal kurz weg.«
Mya konnte kaum glauben, was sie hörte. »Dann kann er jederzeit zurückkommen?«
»So ist es. Und Sie können das ebenfalls.« Er lehnte sich vor. »Sie werden in Sicherheit sein.«
Erneut kamen Mya die Tränen. »Tun Sie das wegen meines Vaters?«
»Kann gut sein. Aber sollten Sie das je erwähnen, muss ich Sie leider umlegen, um meine Rente nicht zu gefährden.«
Mya musste lachen. Sie weinte und lachte gleichzeitig. Dann wurde sie ernst. »Exx will nicht zurück. Er hat gesagt, er möchte nie wieder als Travis Jones in Storm Lake leben.«
»Warten wir’s ab.« Whitman neigte den Kopf. »Nach dem, was er erlebt hat, ist er eventuell anderer Meinung.«
»Wann kann ich zu ihm?«
»Sobald er außer Lebensgefahr ist.«
Mya stockte der Atem. »Aber sie sagten ...«
»... dass er atmet. Mehr tut er momentan nicht.« Whitman verzog den Mund. »Entschuldigen Sie meine Ehrlichkeit. Ich bin zu alt, um Dinge zu beschönigen.« Er stand auf und tätschelte Myas Arm. »Ruhen Sie sich aus. Alles Weitere klären wir, wenn Sie wieder bei Kräften sind.«
Mya nickte. Sie starrte an die Decke und hörte, wie Whitman die Tür hinter sich schloss. Die Unterhaltung hatte sie erschöpft. Ihr Augenlid zog nach unten. Exx. Sie war unendlich müde. Exx, bleib bei mir .
Mya wurde in den Besucherraum geführt. Es war eine Woche her, dass man sie ins Krankenhaus gebracht hatte und sie fühlte sich noch immer schwach. Eigentlich hatte sie gehofft, nie wieder den Besucherraum eines Gefängnisses betreten zu müssen, doch es ging nicht anders. Sie wollte Lewis sehen und deshalb hatte Sam Whitman sie hergefahren. Manchmal in all den Jahren hatte Mya sich vorgestellt, wie es wäre, Großeltern zu haben. Sam Whitman erschien ihr wie der Opa, den sie nie hatte. Auch jetzt stand er hinter der Scheibe und wachte über sie. Mya lächelte.
Vieles am Gefängnis in Canmore war anders als in Salinas. Es wirkte geradezu gemütlich. Die Wärter waren freundlich, die Luft angenehm und der Besucherraum sah aus wie das Wartezimmer einer Zahnarztpraxis: hell, sauber und mit Magazinen, um die Zeit zu überbrücken. Mya sah Lewis entgegen, der auf einer Krücke zu ihr humpelte. Er trug Freizeitklamotten, seine rechte Hand steckte in einem Gipsverband und die letzten Meter hüpfte er auf einem Bein voran, bevor er sich vor ihr auf den Stuhl plumpsen ließ.
»Du siehst beschissener aus als ich«, sagte er anstelle einer Begrüßung. Die Haare standen ihm zu Berge und Mya stellte fest, dass sie ihn noch immer sexy fand.
»Ich bin auch froh, dass es dir gutgeht«, erwiderte sie und deutete mit dem Kinn auf seine Hand. »Falsch gelandet?«
Er grinste. »Hab mir zu oft einen runtergeholt. Hier ist es ziemlich langweilig.«
Mya musste ebenfalls grinsen. »Vielleicht sollte ich dich mal in deiner Zelle besuchen kommen.«
»Bitte nicht!« Lewis hob seine gesunde Hand. »Du bist Gift für uns Canuckleberries
»Schon klar.« Ihr Blick fand den seinen. »Es tut mir alles so unendlich leid. Ich weiß, das hilft dir nicht weiter, aber ich musste kommen, um es dir zu sagen. Und um dir zu danken. Ohne dich wäre ich ganz sicher nicht mehr am Leben.«
»Hm.« Er betrachtete sie und Mya wusste, was er sah. Ihr Gesicht war übel zugerichtet und sie würde Narben zurückbehalten. Die Splitter der Wand hatten sich tief in ihre Haut gebohrt. Sie konnte von Glück sagen, dass sie ihr Auge nur knapp verfehlt hatten. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Lewis nach einer Weile. »Je länger ich hier sitze, desto mehr erkenne ich den Sinn dahinter. Meine Eltern waren da und ich konnte ihnen zum ersten Mal erzählen, wie Phil tatsächlich umgekommen ist. Ich weiß nicht, ob sie das je verarbeiten. Ob sie mir je verzeihen werden oder verstehen, warum wir taten, was wir taten. Aber am Ende habe ich es zu einem Abschluss gebracht. Ich habe wieder ein Leben. Ganz sicher nicht in Banff, doch wo immer es sein wird, es wird nicht auf einer Lüge basieren. Das alles hätte ich nie durchgezogen, wenn du nicht dieses ganze Chaos verursacht hättest.«
»Dann habe ich dich am Ende gerettet?«
»Vielleicht haben wir uns gegenseitig gerettet.« Er nickte ihr zu. »Wir schulden uns nichts, Mya. Sehen wir einfach zu, dass wir diese Scheiße hinter uns lassen.«
Sie war erstaunt, wie gefasst er sich gab, obwohl sie in seinem Gesicht lesen konnte, wie sehr ihn das alles mitnahm.
»Du hättest draufgehen können«, sagte sie. »Warum zum Teufel hast du das ganze Kokain mitgenommen?«
»Ich hatte Angst, dass mir die Bullen sonst nicht glauben. Ich wollte Beweise vorlegen. Und was den Sprung angeht ...« Er grinste breiter. »Das war verdammt nochmal das Geilste, das ich je getan habe.«
Sie wussten beide, dass sie alle tot wären, hätte Lewis es nicht überlebt. Es war ein enormes Risiko. Ein Risiko, das niemand anderes eingegangen wäre.
»Du bist völlig verrückt.« Mya ließ ihre Hand über den Tisch gleiten, bis ihre Fingerspitzen die seinen berührten. »Ich hoffe, du findest eines Tages dein Glück.«
Lewis erstarrte. Es dauerte etwas, bis er seine Hand über die ihre legte. »Und was ist mit dir?«, fragte er.
»Ich denke, ich werde meine Verletzungen nicht überleben.« Sie warf Sam Whitman einen Blick zu, bevor sie sich wieder an Lewis wandte. »Das ist meine einzige Chance.«
Der Druck seiner Hand verstärkte sich. Er verstand. »Hat der Hoser überlebt?«
Mya nickte und unterdrückte die Tränen. »Es heißt, er atmet. Die Familia hat ihn gefoltert und ich durfte noch nicht zu ihm.« Sie sammelte sich, blinzelte die Schmerzen ihres verletzten Auges fort. »Eigentlich ist es mir verboten, das Krankenhaus zu verlassen. Wir sind dort abgeschottet wie in einem Hochsicherheitsgefängnis, aber ich wollte zu dir.«
Lewis’ Finger umschlossen ihre. »Das weiß ich zu schätzen.« Er schluckte. »Schade, dass du sterben musst.«
»Ja.« Nun weinte sie doch. Das war das eigenartigste Gespräch, das sie je geführt hatte.
Sam Whitman klopfte gegen die Scheibe. »Ich muss los.« Mya zog Lewis’ Hand zu sich heran und küsste sie. »Danke für alles, Lewis. Ich werde dich nie vergessen.«
Sein Daumen fuhr sanft über ihr Kinn. »Es ist gut, dass wir uns nie wiedersehen. Es hat mir nie gefallen, dass du ihm gehörst.«
Mya ließ seine Hand los und stand auf. Sie versuchte gar nicht erst, die Tränen fortzuwischen. Ihr Blick verhakte sich ein letztes Mal mit dem von Lewis, bevor sie sich umdrehte und ging.
»Alles in Ordnung?« Sam Whitman empfing sie an der Tür und legte fürsorglich den Arm um sie. Mya konnte nicht antworten. Sie schniefte und folgte Whitman zum Auto, das auf der rückwärtigen Seite des Gebäudes geparkt war. Eine Zivilstreife eskortierte sie. Niemand wusste, ob die Nuestra Familia nicht doch noch Abgesandte in Kanada zurückgelassen hatte. Mya stieg ein und schlug die Tür zu. Sie fühlte sich seltsam leer.
»Wenn es sein Anwalt geschickt anstellt, werden die Kanadier Lewis ebenfalls in den Zeugenschutz aufnehmen. Die Rizzutos sind nicht die Familia, aber er hat genug Einblick in ihr System, um einige ihrer Mittelsmänner hochgehen zu lassen«, sagte Whitman und startete den Motor.
Mya lehnte ihren Nacken gegen die Kopfstütze und schloss die brennenden Augen. »Solange er sich von Bergen stürzen kann, wird er zufrieden sein.«
Sie fuhren vom Parkplatz und zurück in Richtung Highway. Das Geräusch des Motors lullte Mya ein, doch ihre Gedanken kreisten und hielten sie wach. Sie drehte den Kopf und sah Whitman an.
»Wie war mein Vater so?«, fragte sie.
»Hm ...« Whitman zupfte sich am Ohr. Seine raue Stimme vermischte sich mit dem Surren der Reifen. »Rene Carnero war kein übler Kerl, wenn man ihn kannte. Ein typischer Norteño ohne Schulbildung und mit einem hohen Aggressionspotential. Aber er hatte Träume. Er hat mir von Ihnen erzählt. Davon, dass er Sie zu sich holen will. Er wollte clean werden, ein anständiges Leben führen. Wir hatten schon alles eingefädelt, doch dann liefen die Dinge aus dem Ruder. Ich kann nicht sagen, wessen Schuld es war. Entweder war das FBI zu forsch oder Carnero bekam Schiss und machte einen Fehler. Sie kennen das Ende. War das erste Mal in meiner Karriere, dass ich einen Schützling verlor.«
Ihr Vater hatte sie zu sich holen wollen. Mya wusste nicht, was sie davon hielt. »Was ist mit meiner Mutter?«, hakte sie nach. »Wissen Sie etwas über sie?«
»Ihnen ist bewusst, dass ich darüber nicht sprechen darf?«
»Haben Sie diesen Grundsatz nicht längst gebrochen?«
Whitman schnaubte. »Die ganze Sache bricht mir am Ende vermutlich das Genick, Mädchen. Und das nur, weil ich im Alter plötzlich ein zu weiches Herz habe.« Er warf Mya einen Seitenblick zu. »Ihre Mutter lebt noch immer in Kalifornien. Sie kam nie von den Drogen weg, obwohl sie mehrere Male einen Entzug machte. Inzwischen arbeitet sie für eine soziale Stiftung und verdient sich nebenbei etwas, aber soweit ich weiß, investiert sie das meiste davon in Alkohol.«
»Verstehe.« Mya starrte auf die Straße, die sich schnurgerade vor ihnen ausbreitete. »Es ist frustrierend, wenn man feststellt, dass das Leben im Kinderheim besser war, als bei den eigenen Eltern.«
»Sehen Sie es als Chance.« Whitman zögerte.
Mya spürte, dass er ihr noch nicht alles gesagt hatte, und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Travis ist seit drei Tagen wach. Er hat den Behörden wertvolle Hinweise zu den Verbindungsmännern der Familia geliefert. Es laufen bereits Razzien gegen das Chatsworth Chapter der Green Army. Außerdem konnte mit Travis’ Hilfe das Phantombild eines Mannes erstellt werden, den wir für ein Mitglied der Mesa halten.«
Mya setzte sich aufrecht hin. Sie ahnte nichts Gutes.
»Travis weigert sich tatsächlich, seine WITSEC-Identität wieder aufzunehmen. Er sagt, er will das Krankenhaus auf eigene Gefahr verlassen, sobald er laufen kann.«
»Verdammt!« Mya ballte Hände zu Fäusten. »Ich will zu ihm!«
»Er will Sie nicht sehen.« Whitman wirkte peinlich berührt.
»Ich trete ihm in seinen sturen Arsch«, murmelte Mya. »Geben Sie Gas, Whitman!«
Keine Stunde später hastete Mya durch das Krankenhaus. Sie hatte inzwischen herausgefunden, auf welchem Zimmer Exx lag. Ihre Wut auf ihn war grenzenlos. Sam Whitman gelang es gerade noch, den wachhabenden Polizisten zu besänftigen, der vor Exx’ Zimmertür Wache stand, bevor Mya wie ein Orkan in den Raum stürmte.
»Du bist der rücksichtsloseste, egoistischste, dümmste Hurensohn den ich je ...« Sie brach abrupt ab, als sie ihn sah. Er lag bäuchlings auf einem erhöhten Bett, beide Beine und sein linker Arm waren eingegipst, der rechte war bandagiert. Sein gesamter Rücken war mit einer Art Gelkissen abgedeckt und sein Gesicht ruhte nach unten auf einer Öffnung, wie man sie von Massageliegen kannte.
»Babe«, hörte sie seine Stimme.
Mya hielt sich erschrocken die Hände vor den Mund. Zwei Infusionsflaschen hingen an Ständern, die rechts und links von ihm platziert waren, und pumpten Nährlösung und vermutlich Schmerzmittel in seinen Körper. Mya ging vorsichtig um sie herum und fiel am Kopfende des Bettes auf die Knie. »Scheiße!« Sie wollte ihn berühren, aber seine Augen verrieten ihr, dass er Schmerzen hatte. »Was haben die dir angetan?«
»Die waren so nett und haben mir die Tattoos meines Clubs ausgebrannt.« Er ächzte. »Wenn nicht irgendwann das Telefon geklingelt hätte, würde mir jetzt vermutlich die Zunge aus meiner aufgeschlitzten Kehle hängen.«
Mya zitterte. Die Vorstellung, dass er so hatte leiden müssen, machte sie völlig fertig.
»Du siehst auch verändert aus«, bemerkte er und Mya fasste sich unwillkürlich ins Gesicht.
»Halb so schlimm«, wiegelte sie ab.
Seine Augen fanden ihre. »Whitman hat es dir also gesagt?«
»Ich bin so wütend auf dich, Exx!« Sie fing an zu weinen. Es schien, als könnte sie nicht mehr damit aufhören.
»Ist nichts Neues.«
»Warum willst du mich nicht sehen?«
»Macht den Abschied leichter.«
»Du blödes stures Arschloch!«
Er verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Ich habe dich gewarnt, Mya. Ich bin ein Streuner. Lass mich einfach laufen.«
Sie schlug gegen sein Bett und er stöhnte auf. Mya war es gleichgültig. »Du hast dir eine Zecke eingefangen, du räudiger Köter! Ich werde dich ganz sicher nicht laufen lassen. Was zum Teufel ist dein Problem? Stehst du auf die Schmerzen? Willst du wirklich, dass das alles niemals aufhört?«
»Fuck«, brummte er. »Würdest du aufhören, gegen das Bett zu schlagen?«
»Nur wenn du endlich zur Vernunft kommst.«
»Was kann ich dir denn schon bieten?«, presste er hervor. »Ich bin hergekommen, um dich zu retten, und jetzt sieh dir an, in welchem Zustand wir sind. Am Ende haben wir nur wegen des Biberfressers überlebt.«
»Ganz recht.« Mya verengte die Augen. »Und das kratzt an deinem Ego, stimmt’s?«
»Hm.«
»Werd erwachsen, Exx! Du warst eine große Nummer in Salinas, doch du hast die Welt verraten, die du kanntest. Du bist wie ich, sieh es ein. Ich bin ebenfalls abgehauen und als ich zurückkam, brach die Hölle über uns herein. Das wird wieder passieren, wenn du nach Salinas gehst.«
»Du redest und redest ...« Exx schloss die Augen. »Du treibst mich in den Wahnsinn.«
»Ich weiß.« Mya lächelte trotz ihrer Wut. »Weil ich will, dass du endlich an dich glaubst. An uns. An das, was sein könnte, und nicht an das, was war.« Sie hob die Hand und berührte sanft sein Gesicht. Er öffnete die Augen wieder. »Wir haben die schlechten Zeiten durchgestanden, Exx. Denkst du, wir werden an den guten zerbrechen?«
»Ich denke, ich werde an dir zerbrechen.«
Die Tür ging auf und Sam Whitman lugte hinein. »Ich will nicht drängeln, aber mein Boss möchte endlich den Bericht sehen ...«
»Hauen Sie ab, Whitman!« Exx bewegte den Kopf und zog sofort zischend die Luft zwischen den Zähnen ein. »Kann man hier nicht einfach nur seine Ruhe haben? Die letzten Tage kauerte ihr Zeichner vor mir am Boden, damit ich ihm den verfickten Mexikaner aus der Videokonferenz beschreiben konnte. Ich denke, ich habe genug für Sie getan, verdammt!«
Whitman senkte die Stimme und sah Mya an. »Geht er zurück? Ich muss das wissen.«
»Einen Scheiß werde ich tun!«, protestierte Exx.
Mya presste die Lippen aufeinander und nickte Whitman zu. »Er ist gerade ziemlich wehrlos. Das sollten wir ausnutzen.«
»Babe.« Exx starrte sie wütend an. »Ich versohle dir den Arsch, wenn ich dazu wieder in der Lage bin.«
»Darauf bestehe ich sogar.« Sie gab Whitman zu verstehen, dass er gehen sollte, und positionierte ihr Gesicht genau vor dem von Exx. »Rap und du, ihr wart die großen Lieben meines Lebens«, sagte sie, kaum dass Whitman die Tür wieder geschlossen hatte. »Rap ist nicht mehr da, aber du bist es, und obwohl es dir so schwerfällt, es zuzulassen, fühle ich, dass wir noch immer diese Verbindung haben und sie immer haben werden. Ich liebe dich.«
Seine Augen weiteten sich und Mya wusste, dass er es hasste, derart ausgeliefert vor ihr zu liegen, wo er nicht vor ihr davonlaufen konnte.
»Ich dich nicht«, murrte er und Mya lachte auf.
»Ich weiß«, flüsterte sie, bevor sie ihn vorsichtig auf den Mund küsste. »Ich weiß.«