1. Morgenlicht
Sofie wälzte sich im Bett hin und her. Es war Montagfrüh. Die Leuchtziffern ihres Weckers zeigten 4 Uhr 13 an. Sie konnte nicht schlafen und der Grund dafür lag neben ihr: Jan. Es war nicht Jan an sich, der sie wachhielt, obwohl er seit ein paar Tagen unruhig schlief. Nein, was Sofie hatte hochschrecken lassen, waren Jans Träume. In ihnen verarbeitete sein Unterbewusstsein die Ängste, die er tagsüber rigoros verdrängte. Da er nachts den Karfunkel ablegen musste, hatte er keine Chance, seine Gedanken abzuschirmen und badete Sofie unabsichtlich darin.
„Seine Befürchtungen sind meinen viel zu ähnlich, als dass ich sie fortwischen könnte.“
Sofie fröstelte und strich ihrem Freund tröstend über den Rücken. Seine Haut war warm und fühlte sich herrlich vertraut an. Ein Hauch Minze gemischt mit Aftershave und seinem markanten Duft stieg ihr in die Nase. Bittersüße Geborgenheit breitete sich in Sofie aus. Sie liebte diesen Mann mit jeder Faser ihres Herzens. Die Berührung tat ihr gut. Dessen ungeachtet spürte sie jetzt noch deutlicher, was Jan träumte:
Sofie sah sich selbst Auge in Auge mit einem Drachen. Plötzlich grinste das Schuppenwesen selig wie ein liebestrunkener Teenager. Sofies Gesichtsausdruck war ebenfalls verzückt. Jan wusste, dass sein Mädchen sich in diesem Moment mit der Himmelsechse verbunden hatte. Dieser Anblick zerriss ihm das Herz, denn ihm war klar, dass er sie auf ewig verloren hatte. Er fiel ins Bodenlose.
„Spacken!“, schimpfte Sofie leise und fügte trotzig hinzu: „Das wird nicht passieren. Ich will keinen Drachen. Ich will dich!“
Doch Jan hörte sie nicht. Er war gefangen in seinem Traum. Eine einzelne Träne lief ihm aus dem Augenwinkel und versickerte im Kopfkissen.
Sofie empfand seinen Schmerz, als wäre es ihr eigener. Hinter der lässigen weltmännischen Fassade des WyvernPower Chefs steckte ein sensibler Kerl, der um keinen Preis der Welt ohne sie leben wollte. Auch wenn er tagsüber nicht müde wurde zu betonen, dass er sie freigeben
würde, wenn es an der Zeit wäre.
„Mich freigeben? Das kann er doch gar nicht mehr. Er will es mir nur leichter machen.“
Sofie seufzte. Ein Teil von Jan starb mit diesem Traum, das fühlte sie überdeutlich. Seine Trauer schnürte ihre Kehle zu.
Die Tatsache, dass Sofie die Gefährtin eines Drachen werden sollte, blendeten sie beide bewusst aus. Den Sommer über hatte diese Taktik einwandfrei funktioniert, doch nun, da Sofie die Akademie in Steinburg besuchte, holte die Realität sie ein.
Sofie schnaufte unwillig. Sie hatte dort grade mal vier Tage verbracht, aber das hatte gereicht, um ihr zu zeigen, wie sehr sie Jan vermisste. Freitagmittag war gegen zwölf Uhr Feierabend gewesen. Sie war in ihren Golf gestiegen und so schnell es die mit unzähligen Ortschaften gespickte Strecke erlaubte, zurück nach Travemünde gedüst. Zurück in Jans Arme. Zurück in ihr Zuhause.
„Ich habe nicht gewusst, dass Vermissen sich so anfühlen kann. Und ihm ging es offenbar genauso.“
Sie musste grinsen. Eigentlich hatte Jan sie Freitagabend groß zum Essen ausführen wollen, um ihren 23. Geburtstag nachzufeiern, doch sie hatten die Finger nicht voneinander lassen können.
„Essen gehen wird eindeutig überbewertet.“
Ein erotisches Prickeln breitete sich in ihrer Mitte aus. Sie waren das ganze Wochenende kaum aus dem Bett gekommen mit Ausnahme von Sonntagnachmittag, als Ursula und Henriette zum Geburtstagskaffee vorbeigekommen waren.
„Geburtstage! Hmpf. Meinetwegen hätten sie den ersten August in diesem Jahr echt aus dem Kalender streichen können“
, dachte Sofie, denn es war ausgerechnet ihr Geburtstag gewesen, an dem ihre Ausbildung an der Akademie begonnen hatte. Die vier Tage in dem Internat hatten jeden Zweifel daran ausgeräumt, dass Jan und sie zusammengehörten.
„Aber sowas von! Nicht, dass er oder ich Zweifel daran gehabt hätten. Doch das interessiert ja leider niemanden.“
Seit sie Jan in der Psychiatrie kennengelernt hatte, waren sie noch nie so lange voneinander getrennt gewesen. Natürlich hatten sie miteinander
telefoniert und Sofie hatte ihn in ihren Träumen zu sich gerufen, aber das war nicht dasselbe.
„Wirklich! Wie kann man jemanden so dermaßen vermissen?!“
Jan war es nicht anders ergangen. Er hatte am Freitag kurzfristig alle Nachmittagstermine abgesagt und ihre Rückkehr auf seinem Anwesen erwartet. Bill und seine Haushälterin Frau Bröcker hatte er unter einem Vorwand aus der Villa geschickt. Er wollte Sofie für sich allein haben.
Kaum hatte sie den Motor abgestellt, hatte Jan auch schon neben ihrem Auto gestanden und die Fahrertür geöffnet. Charmant hatte er ihr aus dem Wagen geholfen.
Die bloße Erinnerung an den intensiv hungrigen Blick aus seinen saphirblauen Augen beschleunigte Sofies Herzschlag. Erregung pulsierte durch ihre Adern. Jan hatte es nicht abwarten können. Noch in der Garage hatte er sie schwindelig geküsst und auf dem Weg ins Erdgeschoss achtlos ihre Klamotten auf der Treppe und im Flur verstreut.
Sofie schüttelte leicht den Kopf. Früher war sie prüde gewesen, aber mit Jan war das anders. Er war das Gegenteil von verklemmt. Sie fühlte keine Scham, wenn er ihren nackten Körper mit seinen Augen verschlang, denn sie konnte sehen, was in seinem Kopf vorging. Verlangen und Liebe mischten sich dort zu einem berauschenden Cocktail, der keinen Raum für Verlegenheit ließ. Seine Leidenschaft entflammte die ihre. Sofies Wangen glühten und sie lächelte.
Sie hatte sich bei Jan revanchiert und ihn von der beengenden Jeans befreit. Ihre beiläufigen Berührungen hatten ihn aufstöhnen lassen. Das, was er in diesem Moment empfand, war zu ihr herübergeschwappt und dann war sie es gewesen, die nicht mehr hatte abwarten können, seine Haut auf ihrer zu spüren.
Sofie schluckte und befeuchtete ihre Lippen. Ihr Körper reagierte auf die Erinnerungen. Sie wollte ihn.
Eigentlich hatten Jan und Sofie im März, nachdem ihre Beziehung offiziell geworden war, das große Schlafzimmer im ersten Stock bezogen: einen Tanzsaal mit Ankleidezimmer, Meerblick und dem gigantischen Bett, in dem sie auch jetzt lag. Doch am Freitag war das zu weit gewesen. Jan und sie hatten es lediglich zu ihrem ehemaligen Gästezimmer geschafft und waren dort übereinander hergefallen. Als
gäbe es kein Morgen, hatten sie sich geliebt. Wieder und wieder, bis sie irgendwann erschöpft und eng aneinander gekuschelt eingeschlafen waren.
Sofie atmete tief ein. Mit schlechtem Gewissen bemerkte sie, dass sich ihre sinnliche Stimmung auf Jan übertragen hatte. Sein Bewusstsein dämmerte an die Oberfläche.
„Das ist nicht seine Lust, die er jetzt fühlt. Ich habe ihn manipuliert.“
Das war nicht ihre Absicht gewesen. Eliande, die Grüne, die Sofies empathischen Fähigkeiten ausbildete, hatte sie eindringlich davor gewarnt, die Emotionen anderer zu beeinflussen oder ihre eigenen zu übertragen. Eliande hielt dies aus zwei Gründen für gefährlich: Erstens verlor der Manipulierte das Gefühl dafür, welche Emotionen tatsächlich zu ihm gehörten und welche fremd waren. Das konnte verwirrend für den Betroffenen sein und zerstörte Vertrauen.
Zweitens war Sofie weder in der Lage, ihre Fähigkeiten zuverlässig zu dosieren noch sie ausreichend zu kontrollieren. In den Übungsstunden kam es Sofie immer so vor, als sollte sie mit einem Vorschlaghammer einen winzigen Nagel in eine Styroporwand schlagen. Meistens ging es gründlich schief. Es würde Jahre dauern, bis sie ihr Talent beherrschte. Das erste Ziel des Unterrichts bestand darin, dass Sofie ihre Fähigkeiten nicht mehr unabsichtlich benutzte.
Sie seufzte. „Das Training meiner Meridiane hat diese Sache noch schwieriger gemacht. Früher hatte ich nur meine körpereigene Kraft und konnte damit wenig Schaden anrichten. Doch Bill und Karvin haben mich so gedrillt, dass ich gar nicht mehr darüber nachdenken muss, meine Meridiane zu öffnen, um astrale Energie aufzunehmen. Das passiert jetzt automatisch wie das Atmen. Ich kann mich nun zwar nicht mehr aus Versehen umbringen, aber dafür ist der Vorschlaghammer noch größer geworden. Das ist Mist. Häufig ist mir gar nicht bewusst, was ich da mache… Bei meiner Mutter muss es ähnlich gewesen sein. Sobald Sarah lachte, ging für alle anderen im Raum die Sonne auf. War sie traurig, verlor die Welt ihren Glanz. Das jedenfalls hat mir Großmutter erzählt.“
Jan wurde unruhig. Seine Hand tastete schlaftrunken über das Laken. Er suchte sie, noch immer in ihrer Leidenschaft verstrickt. Dabei war er eigentlich todmüde, das konnte Sofie spüren
.
„Wir sollten jetzt nicht miteinander schlafen. Das wäre nicht echt. Außerdem haben wir uns in den letzten Tagen kaum erholt. Jan muss einfach mal für ein paar Stunden zur Ruhe kommen. Ohne Albträume. Und ohne mein Verlangen.“
Sofie suchte in ihrem Inneren nach einem Gefühl von Harmonie und Gelassenheit.
„Ja, das ist perfekt.“
Zufrieden konzentrierte sie sich auf das Bild der Ostsee in der Morgensonne. Möwen, Wellen, Weite und frischer Wind. Jan liebte diesen Anblick vom Strand aus. Das war der Grund, warum er seine Villa hier gebaut hatte.
Sofie betrachtete ihren Freund lächelnd im fahlen Dämmerlicht, griff nach der ausgewählten Emotion und ließ sie los.
Bei Jan war das anders mit der Übertragung. Sie beide hatten sich auf dieselbe Frequenz eingestellt, anders konnte Sofie es nicht in Worte fassen. Die Grenzen zwischen ihnen verwischten immer mehr. Sofie konnte sich Jans Gefühlen nicht entziehen. Selbst wenn er seine Gedanken mit Hilfe des Stirnreifs abschirmte, nahm sie jede Nuance seiner Emotionen wahr. Und er ahnte meist ebenso, wie es in ihr aussah, ohne dass sie etwas sagen musste.
Jetzt genügte ein winziger Stups und das friedliche Bild der Ostsee breitete sich in Jans Geist aus. Er wurde ruhiger und sank tiefer in den Schlaf zurück. Liebevoll strich Sofie ihm über den Rücken.
„Na, du bist ja echt ‘ne Heldin“, spottete ihr Verstand. „Manipulierst die Folgen deiner Manipulation mit einer weiteren Manipulation. Soviel also zur Ethik von euch Empathen. Herzlichen Glückwunsch!“
„Ach, sei still“
, murrte Sofie, wohl wissend, dass die Margareta in ihr recht hatte.
„Warum hast du ihn denn nicht vernascht?“, stichelte ihr Verstand voller Ironie weiter. „Wo ihr das ganze Wochenende nicht aus dem Bett gekommen seid, macht dieses eine Mal den Kohl auch nicht mehr fett. Du willst ihn, er will dich. Also warum nicht?“
Sofie widerstand der verlockenden Vorstellung und erklärte: „Es geht nicht um den Sex an sich, wenn wir miteinander schlafen. Das weißt du. Eigentlich hat der Sex bloß eine untergeordnete Bedeutung.
“
„Na klar! Logisch“, kicherte Margareta sarkastisch. „Seid ihr unter die Matratzentester gegangen oder was?!“
Gegen ihren Willen musste Sofie schmunzeln. Sobald sie mit Jan intim wurde, zog sich ihr Verstand zurück und überließ ihrer inneren Stimme, ihrem Gefühl das Feld. An diesem Wochenende hatte Margareta nicht viel zu melden gehabt.
«Stark voneinander abgegrenzte Facetten der Persönlichkeit», so bezeichnete Eliande die deutliche Trennung zwischen Sofies emotionaler Seite und ihrem Verstand. Über Jahre hinweg hatte sie ihre Gefühle ausgeblendet, um mit dem Tod ihrer Eltern klarzukommen. Damals war sie Margareta gewesen und hatte nichts von Magie und Drachen gewusst.
„Was übrigens bedeutend übersichtlicher war“, maulte ihr Verstand. „Ein Psychiater würde das Chaos in meinem Kopf wohl als beginnende Schizophrenie diagnostizieren.“
„Und wenn schon. Ich will es nicht anders haben“
, entschied Sofie selbstbewusst und kam auf das ursprüngliche Thema zurück: „Wenn ich mit Jan schlafe, bin ich ihm nah und das meine ich nicht nur körperlich. Ich sehe in seine Gedanken, fühle, was er fühlt. Es ist, als würden wir unsere Empfindungen miteinander teilen, als würden unsere Seelen miteinander verschmelzen. Ohne ihn bin ich unvollständig.“
„Vielleicht seid ihr ja doch Gefährten. Eine gemeinsame Seele, miteinander verschmelzen – das hört sich ganz nach dem Gefährtenkram an, den die Kommandantin der Wölfe erzählt hat.“
„Stimmt. Nur leider gibt es keine rein menschlichen Gefährtenpaare“
, widersprach Sofie resigniert. Wie sehr wünschte sie sich, dass sie sich mit Jan anstatt mit irgendeinem Drachen verbinden konnte! Aber so ein Paar hatte es nie gegeben.
„Ja, das hat Eliande auch erzählt. Sehr bedauerlich. «Empathen gehen innige Beziehungen mit ihren Partnern ein»“, zitierte ihr Verstand die Grüne. „«Die Partner des Empathen können sich aus eigenem Willen nicht aus so einer Beziehung lösen. Sie sind regelrecht abhängig von dem Empathen.»“
Sofort meldete sich Sofies schlechtes Gewissen. „So wie du das sagst, hört sich das hinterhältig und ungesund an. Als hätte ich ihn mutwillig an mich gekettet. Aber das stimmt nicht! Am Anfang wollte ich ihn doch gar
nicht.“
Margareta entgegnete nichts darauf.
„Ich möchte Jan keinen Schaden zufügen. Er liebt mich und ich liebe ihn. Das ist echt.“
„Naja, zumindest manipulierst du ihn nur selten bewusst“, räumte ihr Verstand zögerlich ein. „Aber was ist, wenn du dich tatsächlich in einen Drachen verguckst? Laut der Kommandantin kannst du das nicht beeinflussen.“
Sofies Herz krampfte sich zusammen.
„Was wird dann aus Jan?“, bohrte Margareta unbarmherzig nach.
Das war genau die Frage, vor der Sofie Angst hatte. Und noch schlimmer, sie kannte die Antwort bereits: Ein Teil von Jan würde sterben. Obwohl er nicht müde wurde, zu betonen, dass er sie freigeben würde, sollte sie sich an einen Drachen binden, spürte Sofie, dass Jan das gar nicht mehr konnte. Dafür liebte er sie viel zu sehr. Er war ohne sie genauso unvollständig wie sie ohne ihn.
„Sollte ein Drache mich an sich binden, so wird es für uns mit Leid und Schmerz enden. Besonders für Jan. Ganz wie die Kommandantin der Wölfe es vorausgesagt hat.“
Bittersüße Hilflosigkeit flutete Sofies Inneres. Sie betrachtete Jans Gesicht im fahlen Morgenlicht und konnte sehen, wie ihre düstere Stimmung zu ihm herüberschwappte. Es war ihr unmöglich, sich von ihm abzugrenzen.
„So geht das nicht weiter! Ich muss hier raus. Allein. Wenn Karvin das mitbekommt, gibt es zwar Ärger, aber mir wird schon nichts passieren.“
Entschlossen schenkte sie Jan ein zweites Mal Ruhe und Gelassenheit, hauchte einen Kuss auf seine blonden Strubbelhaare und flüsterte: „Schlaf ein bisschen, mein Liebster. Ich gehe eine Runde joggen.“