2. Höllenfeuer
Sofie lief am Strand entlang, dort wo der Sand feucht und fest war und die Steine nicht allzu groß. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, aber die Morgenröte am Horizont sorgte für ausreichend Licht, so dass Sofie sehen konnte, wohin sie trat.
„Außerdem kenne ich diese Strecke wie meine Westentasche. Jan und ich sind in den vergangenen Monaten fast täglich hier lang gerannt.“
Dank der Ostsee hatte sich die Luft über Nacht etwas abgekühlt. Sofie spürte, dass es auch heute wieder heiß werden würde. Der Hochsommer zeigte sich von seiner besten Seite. In wenigen Stunden würde die Tour doppelt anstrengend sein, doch jetzt waren die Temperaturen angenehm und eine leichte Brise sorgte zusätzlich für Kühlung. Lächelnd fand Sofie in ihren Rhythmus. Die Bewegung, das gleichmäßige Rauschen der Wellen und der weite Blick über das Wasser taten ihr gut. Sie atmete tief ein und genoss den vertrauten Geruch von Meersalz und Seetang.
„Ganz allein muss auch mal sein.“
Eigentlich war sie keine Sportskanone, aber Jan hatte sie überredet, ihre Fitness auf Vordermann zu bringen. Er kannte die Lehrpläne der Akademie in Steinburg und wusste, dass den Studenten ein umfangreiches Sportprogramm bevorstand.
„Einige Zauber können körperlich sehr anstrengend sein“, hatte er erklärt, „und um mit einem Drachen fliegen zu können, brauchst du ebenfalls eine gute Konstitution. Je eher du dir die aneignest, desto leichter hast du es hinterher.“
Sofie hatte daraufhin eine Grimasse gezogen. „Du bist ja mal wieder sehr fürsorglich. Ich dachte, wir zwei sind uns einig, dass ich keinen Gefährten will!“
„Das sind wir, Phönix!“ Ein besitzergreifendes Funkeln hatte sich in Jans Augen geschlichen. „Trotzdem müssen alle Magier in der Lage sein, sich sicher auf einem Drachenrücken zu bewegen. Du darfst nicht vergessen, dass ihr für den Ernstfall ausgebildet werdet. Sollten Dämonen durch die Tore kommen, wird es von Vorteil sein, wenn ihr nicht am Boden bleiben müsst und notfalls mit einer Himmelsechse durch die
Nebel fliehen könnt.“
Dann hatte er ihr breit grinsend einen Klaps auf den Po gegeben und gemeint: „Außerdem siehst du heiß aus in den Sportklamotten und ich finde es viel netter, mich nicht allein abmühen zu müssen.“
„Typisch Jan! Immer einen flotten Spruch auf den Lippen.“
Es war nicht so, dass ihr Freund die Situation nicht ernst nahm, doch er weigerte sich standhaft, sich davon unterkriegen zu lassen.
Sofie seufzte. „Um diese Lebenseinstellung beneide ich ihn wirklich.“
Sie war da anders gepolt. Ihr Verstand analysierte alles ungefragt und warnte permanent davor, was schiefgehen könnte. Und bei der Geschichte mit den Toren und Dämonen war das so einiges.
Die Sonne verbarg sich noch hinter dem Horizont, dennoch strahlte sie die Wolken bereits glutrot an und steckte so den Himmel in Brand.
„Höllenfeuer!“
, zuckte es unwillkürlich durch Sofies Geist.
„Korrekt“, bestätigte ihr Verstand. „Ob das ein Omen ist? Wenn bloß die Hälfte von dem stimmt, was Karvin über die Dämonen erzählt hat, dann sind wir schon so gut wie tot.“
„Sind wir nicht!“
, widersprach Sofie vehement und beschleunigte ihr Tempo.
„Na, hoffentlich hast du recht. Ich frage mich allerdings, wie groß der Vorteil wohl sein kann, dass frisch ausgebildete Menschenmagier auf Drachen reiten? In den ersten Jahren ist das Potenzial von uns Humanoiden so gering, dass wir eh kaum was ausrichten können. Von unseren kümmerlichen Fertigkeiten mal ganz abgesehen. Unsere Möglichkeiten sind ein Pups im Vergleich zu denen der Himmelsechsen. Selbst die jungen Drachen stecken uns mit einer Schwingenspitze in die Tasche. Also, warum sollen wir Menschen fliegen lernen? Wenn es so schlecht um uns steht, dass DAS tatsächlich einen Vorteil darstellt, können wir gleich einpacken.“
„Egal. Aufgeben gilt nicht!“
Sofie schnaufte angestrengt.
„Ich gebe zu, bei den Gefährten ist das anders“, ging ihr Verstand über die Parole hinweg. „Sowohl bei den Menschen als auch bei den Drachen steigert sich das Potenzial durch die Verbindung enorm. Zusätzlich werden bei einigen besondere Talente freigelegt. Ganz klar: jedes Gefährtenpaar verstärkt die Schlagkraft der echsisch-humanoiden Allianz
merklich. Aber normale Jungmagier…“
„Pessimist!“
, schimpfte Sofie. Vor ihr tauchte ein Priel auf. Der kleine Wasserlauf floss vom Ufer zur See. Im Mündungsbereich breit und flach, war er weiter oben schmaler. Hier hatte er sich tief in den Sand gegraben. Sofie hatte keine Lust auf nasse Füße und bog Richtung Uferböschung ab. Keuchend kämpfte sie sich erst über faustgroße Steine, dann durch lockeren Sand. Jeder ihrer Schritte sank ein. Trotzig erhöhte sie ihre Anstrengung und behielt das Tempo bei. Gleich musste sie springen.
„Drachen sind stolze Wesen“, lamentierte Margareta weiter. „Wenn sie einverstanden sind, junge Magier durch die Lüfte zu tragen, dann nur, falls es wirklich schlecht um diese Welt bestellt ist.“
„Halt doch endlich mal die Klappe!“
Sofie drückte sich ab.
Schon beim Abheben wusste sie, dass sie ihren Sprung zu knapp bemessen hatte. Bei der Landung brach prompt der Sand unter ihrem linken Fuß weg und rutschte in den Priel. Entschlossen fing sie sich mit den Händen und dem anderen Fuß ab.
„Aufgeben gilt nicht!“
, wiederholte Sofie energisch. Sie rappelte sich auf, lief weiter und klopfte den Sand von ihren Händen. Jans Training hatte eindeutig etwas gebracht.
In diesem Moment schob sich die Sonne riesengroß über das Meer und goss ihr karmesinrotes Feuer in die Wellen. Es sah aus, als brannte nun auch die Ostsee.
Erneut spukte das Wort „Höllenfeuer“
durch Sofies Kopf und spülte Adrenalin in ihre Adern.
Der Schweiß rann ihr über Rücken und Brust, trotzdem beschleunigte sie weiter. Dieses Tempo konnte sie nicht lange durchhalten, doch hinterher würde es ihr besser gehen.
Sie wollte es nicht leugnen: Es WAR schlecht um diese Welt bestellt. Sie konnte zwar noch immer nicht in die Gedanken anderer sehen, sofern man von Jan und in Ansätzen von Bill einmal absah, aber sie spürte, wie es den anderen ging, sobald die Tore oder ein möglicher Dämonenangriff zur Sprache kamen. Alle Eingeweihten nahmen die Situation sehr ernst und fühlten sich durch die dunklen Wesen bedroht. Niemand zweifelte daran, dass sich in wenigen Jahren die Tore öffnen und erbitterte Kämpfe
den Planeten in Angst und Schrecken versetzen würden.
Allen voran Victoria und Jaromir. Bei dem Königspaar der Schwarzen konnte Sofie die Furcht vor der Zukunft am stärksten wahrnehmen. Auf ihre flapsige Frage an Jan, ob die zwei Angsthasen seien, hatte er tadelnd seinen Kopf geschüttelt. „Vici und Jaro sind vieles, aber keine Angsthasen. Ich weiß, dass du auf Victoria nicht gut zu sprechen bist, doch mit dieser Einschätzung tust du ihr und ihrem Gefährten Unrecht. Die zwei gehören zu den Leuten auf dieser Welt, die die Lage am realistischsten einschätzen können. Du weißt, dass Vici selbst die abgeschirmten Gedanken der Drachen lesen kann. Sie ist die Königin der Schwarzen und gehört als Mitglied des Kaleidoskops zum engsten Beraterstab des Vorsitzenden. Victoria hat sich in unzähligen Strategiesitzungen ein präzises Bild von der Bedrohung und unseren Verteidigungsmöglichkeiten gemacht. Außerdem hat Abrexar, der Graue Krieger, Jaromir vor dem Tod sein Wissen und seine Erinnerungen übertragen. Für die zwei ist es so, als hätten sie selbst die Torkriege und die Dämonenangriffe erlebt. Jaro und Vici kennen das Grauen, was über uns hereinbrechen wird, sollten sich die Tore tatsächlich öffnen. Wenn du mich fragst, ist das Bild, was die zwei von unserer Zukunft haben, viel zu präzise. Ich bin verdammt dankbar dafür, dass ich bloß einen Bruchteil davon weiß.“
Die rot glühende Sonne erhob sich aus der Ostsee.
„Verfluchte Dämonen“, keuchte Sofie und boxte in die Luft. „Gäbe es diese verflixte Bedrohung aus der fremden Welt nicht, würde mich niemand dazu nötigen, mich auf eine Himmelsechse einzulassen.“
Sie hatte sich mit dem hohen Tempo verausgabt und konnte nicht mehr. Schwer atmend wurde sie langsamer. Schließlich blieb sie stehen und stützte sich auf den Knien ab. Unwillig wandte sie ihren Kopf dem Meer zu, der dramatische Sonnenaufgang zog ihren Blick geradezu an.
„Mistviecher!“, zischte Sofie. „Nur euretwegen sieht sich die Allianz gezwungen, alles in die Waagschale zu werfen, was sie hat. Euretwegen habe ich keine Wahl! Ich MUSS an die Akademie in Steinburg. Ich muss lernen, so schnell ich kann und vor allem muss ich zulassen, dass ich mich in einen Drachen vergucke. Argh!“
Genau so lief es nämlich in der Steinburg: Die mit «Triff die Drachen»
so harmlos benannte Kennenlernzeremonie war in Wahrheit eine Gegenüberstellung. Die menschlichen Studenten stellten sich in Reihen auf und die Himmelsechsen schritten diese Reihen ab. Dabei wurde angeblich locker miteinander geplaudert.
„Das Rumgeschnacke ist sowas von überflüssig!“
Sofie wusste, dass es viel mehr auf den Augenkontakt ankam. Gefährten erkannten einander auf den ersten Blick, Worte waren unnötig. Traf der «richtige» Drache auf den «richtigen» Menschen und schauten sie einander in die Augen, war es um die beiden geschehen.
„Boumm! Ein Blick und du bist lebenslänglich an einen Drachen gekettet. O Mann! Letzte Woche haben sie uns damit noch verschont, doch diese Woche sind wir dran. Ich will das nicht.“
„Da bist du die Einzige“, kicherte ihr Verstand. „Deine Kommilitonen sind ganz heiß auf «Triff die Drachen». Sie können es kaum erwarten, der Liebe ihres Lebens zu begegnen.“
„Ja, ja, mag sein. Ich habe meine aber schon gefunden. Ich liebe Jan. Ich will kein Schuppending!“
„Vielleicht hast du ja «Glück»“, murmelte Margareta. „Die statistische Wahrscheinlichkeit, sich während der Zeit an der Akademie mit einer Himmelsechse zu verbinden, liegt nur bei ungefähr zehn Prozent. Erinnerst du dich nicht mehr? Bill hat das extra für dich ausgerechnet, um dich aufzumuntern. Zu 90 Prozent geht der Gefährtenkelch an dir vorüber.“
Darauf hoffte Sofie, doch irgendwie konnte sie nicht daran glauben. Sie hatte ein mieses Gefühl, was diese Gegenüberstellungen betraf. Einmal im Monat würde ein neuer Schwung Drachen kommen und für drei Wochen bleiben. In dieser Zeit verbrachten Himmelsechsen und Menschen jede Menge Zeit miteinander. Sie wohnten zusammen, wurden gemeinsam unterrichtet, trieben Sport und verbrachten die Freizeit miteinander. Networking wurde das zu Neudeutsch genannt. Man sollte sich austauschen und kennenlernen. Dabei wurde jeder Kontakt zwischen Drache und Mensch von der Führung ausdrücklich begrüßt.
„Wirklich jeder! Pah. Wir dürften sogar mit den Himmelsechsen ins Bett gehen.“
Sofie rollte mit den Augen und schüttelte sich. „Oah nee!
“
Obgleich die Drachen in ihrer Menschengestalt attraktiv aussahen, erschien Sofie diese Option vollkommen abwegig. Sobald sie in die Nähe einer Himmelsechse kam, sah sie bloß noch deren Schuppen vor ihrem geistigen Auge. Das konnte sie unmöglich ausblenden. Drachen waren keine Menschen, selbst wenn sie zeitweise so aussehen mochten.
Einige Kommilitonen hatten damit kein Problem. Auch Tyra Sjöberg, die kleine Schwedin, mit der sich Sofie das Zimmer im Internat teilte, war den Drachen gegenüber aufgeschlossen. Sie hatte Sofie in der letzten Woche augenzwinkernd erklärt, dass Drachen keine schlechten Liebhaber seien und sich zuvorkommend um die Menschen bemühten. Sofern die Echsen keine Gefährtenbindung eingegangen waren, neigten sie anscheinend nicht zur Eifersucht, was lockere Beziehungen einfach machte.
„Bei der Sphäre, bin ich froh, dass diese Art von «Austausch» freiwillig ist“, brummte Sofie. Kopfschüttelnd schob sie den Gedanken weg und richtete sich auf.
Die Sonne war höher gestiegen. Das bedrohliche Rot hatte sich in ein versöhnliches Orange gewandelt und die Größe des Feuerballs schien geschrumpft zu sein.
„Mach dich nicht verrückt, kleiner Phönix. Alles wird gut“, hallte Jans Stimme in Sofies Erinnerung durch ihre Gedanken. „Glaub mir, die Akademie ist klasse. Dort wird niemand zu einer Beziehung gezwungen. Die Drachen sind nett und die Menschen nicht anders als an anderen Hochschulen.“
„Na, damit hat er zweifellos recht.“
Sofie atmete noch einmal tief durch und machte sich auf den Rückweg, diesmal in gemäßigterem Tempo.
„Die Leute an der Steinburg passen in dieselben Schubladen wie die an der Nordakademie: Es gibt Diven, Nerds, Streber, Aufreißer, Klassenclowns und Mauerblümchen. Die meisten sind allerdings ganz normal – naja, zumindest solange man von der Tatsache absieht, dass sie über astrale Kräfte verfügen.“
Sie grinste. „Auch an der Steinburg versucht so mancher Student, sich vor der Arbeit zu drücken und Bock auf Prüfungen hat ebenfalls niemand. Also, alles wie gehabt.“
Die Neulinge waren in der letzten Woche gemeinsam unterrichtet
worden. Sofies empathischer Sinn hatte ihr ein ziemlich klares Bild davon vermittelt, wie ihre Kommilitonen tickten.
Neben Sofie kreischte es. Offenbar hatte die Sonne die Seevögel munter gemacht. Im flachen Wasser zankten sich zwei Möwen um einen Fisch.
An der Akademie gab es Fächer, die jeder belegen musste, wie zum Beispiel die echte Geschichte, Kommunikation via Geistesmagie, naturwissenschaftliche Grundlagen beim Umgang mit der astralen Kraft, kurz NaGru genannt, Dämonologie, Verteidigungs- und Schildzauber, Überleben im Ernstfall und natürlich Latein, die Sprache der Drachen. Hinzu kam ein umfangreiches Fitnessprogramm sowie modularer Kleingruppen- oder Einzelunterricht, der den Neigungen der Studenten entsprach. In diesem Rahmen würde Eliande Sofies Empathieunterricht an der Steinburg fortsetzen und auch Bill durfte weiter an Sofies Feuerkraft feilen.
Noch immer konnte weder jemand Fremdes Bilder an Sofie senden noch sie selbst in die Gedanken anderer schauen. Da Jan bei WyvernPower dringend gebraucht wurde, sollte Bill in einigen Fächern als Übersetzer fungieren. In den Gedanken des weißen Drachen konnte Sofie immerhin Schemen erkennen. Bill und sie verstanden sich ausgesprochen gut. Sie waren auf einer Wellenlänge und hatten in den vergangenen Monaten eine Art Sprachcode für magische Sachverhalte entwickelt, der, unterstützt durch die Schemen aus dem Kopf des Weißen, dafür sorgten, dass Sofie erahnen konnte, worum es ging. Das war nicht mit den klaren Geistesbildern zu vergleichen, aber besser als nichts.
„Also, ob mein Freund bei WyvernPower wirklich so unabkömmlich ist, wie sie behaupten, wage ich mal zu bezweifeln.“
„Ach, tatsächlich?“, meldete sich ihr Verstand ironisch. „Der Plan ist, dass du dich auf einen Schuppenträger einlässt. Da ist es wohl kontraproduktiv, wenn du deinen Freund täglich siehst und dann auch noch in seinen Gedanken herumspazierst. Pah. Manchmal frage ich mich, wie ich bei der ganzen Wir-lieben-uns-so-sehr-Gefühlsduselei in den letzten Monaten überhaupt etwas lernen konnte. Meine Herren! Ihr zwei habt euch aber auch ablenken lassen…“
„Auch wieder wahr.“
Ein Lächeln huschte über Sofies Gesicht. Jans astrales Potenzial war so gering, dass er nicht zaubern konnte. Ohne
seinen Stirnreif konnte er nicht einmal seine Gedanken abschirmen oder auf der Geistesebene gezielt Kontakt zu anderen aufnehmen. Die Magie war ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Trotzdem hatte er die Bilder von Bill und Karvin bereitwillig an Sofie weitergeleitet. „Der Ärmste hat kaum etwas verstanden und sich furchtbar gelangweilt. Kein Wunder, dass er abgeschweift ist.“
„Ja, ja“, brummte Margareta. „Kein Wunder ist es, dass die Führung ihn zu WyvernPower zurückbeordert. Das Geturtel war ja nicht mehr auszuhalten… Außerdem wette ich, dass du mit Bill unterm Strich genauso viel lernst. Ihr seid ein gutes Team.“
„Das sind wir.“
Sofie mochte den weißen Drachen. Bill war neugierig, hochintelligent, ständig zerstreut, aber vor allem ein herzensguter Kerl. „Und ihn werde ich an der Akademie jeden Tag sehen.“
Warmes Glück breitete sich in ihr aus. „Freundschaft ist etwas Wunderbares.“
Offiziell war die Steinburg-Akademie eine Elitehochschule, die maßgeschneiderte duale Studiengänge gemeinsam mit renommierten Firmen anbot. Sofie war beispielsweise für den Master in Wirtschaftsinformatik eingeschrieben, aber man konnte auch Abschlüsse in BWL, Mathematik, verschiedenen Naturwissenschaften, Germanistik oder Erziehungswissenschaften machen. Einige Kommilitonen belegten sogar Fitness- und Gesundheits- oder Pferdemanagement. Es war für jeden Geschmack etwas dabei. WyvernPower hatte etliche Plätze für seine Mitarbeiter reserviert. Die anderen Firmen, die sich an der Ausbildung beteiligten, waren ebenfalls in der Hand von Himmelsechsen und so war garantiert, dass während der Ausbildung und in den Jahren danach niemand im Umfeld der Studenten Fragen stellen würde.
„Es ist unglaublich, wo die Drachen überall mitmischen. Die Schwarzen haben den Kontakt zu uns Menschen sehr ernst genommen. Um dauerhaft Zutritt zu den Toren zu behalten, brauchten sie Einfluss und den haben sie sich in den vergangen Jahrhunderten reichlich verschafft. Und genug Kohle haben sie auch… Ach, ich will gar nicht wissen, was diese Akademie kostet. Allein so viele Studiengänge anzubieten, ist aufwendig. Und dann erst das Gelände und die Gebäude...
“
Sofie war wieder beim Priel angelangt und lief das Stückchen Richtung Uferböschung bis zu der weniger breiten Stelle.
„Pass diesmal besser auf“, stichelte ihr Verstand.
„Aber sicher.“
Sofie grinste breit und konzentrierte sich auf den Absprung. Das Wasser hatte unter ihr ein regelrechtes Becken in den Sand gespült und war bestimmt einen halben Meter tief. Beim Überqueren des Priels sah Sofie darin zwei größere Fische schwimmen.
„Die müssen sich hierher verirrt haben, als der Wind letzte Nacht das Wasser an die Küste getrieben hat. Jetzt sind sie gefangen.“
Als Sofie landete, flog eine Möwe das Becken an.
„Es ist angerichtet!“, kicherte Margareta.
„Jep! Genau wie für die Studierenden der Steinburg!“
Sofie wandte sich erneut zum Meer.
Die Akademie in Steinburg war bestens ausgestattet. Das Gelände war mehrere Hektar groß und weitläufig. Im vorderen Bereich zur Straße hin gab es ein großes modernes Gebäude, das an eine Burg erinnerte. Hier waren die Verwaltung und einige der Theorieschulungsräume sowie nichtmagische Labore untergebracht. Daneben gab es einen schicken Bau mit Gastunterkünften und einer kleinen Kantine für die Verwaltungsmitarbeiter. Diesen Teil durften auch Nichteingeweihte betreten und so wurde er ab und zu der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Das gesamte Areal dahinter war Sperrgebiet für normale Menschen. Magisch gezüchteter Bambushopfen umwucherte das Gelände meterhoch und hielt neugierige Blicke fern. Tarnschilde spiegelten Flugzeugen und Satelliten falsche Tatsachen vor und ein Desinteressezauber sorgte dafür, dass potenzielle Schnüffler und Schaulustige dann doch nicht hinter die Kulissen gucken wollten.
Durch ein imposantes Tor, das architektonisch hervorragend zur Verwaltungsburg passte, gelangte man in den geheimen Bereich. Natürlich nur, wenn man zuvor eine magische Zutrittsberechtigung erhalten hatte. Hierbei handelte es sich um eine simple Chipkarte, die mit Hilfe eines Zaubers an eine Person gebunden werden konnte. Kopien oder Fälschungen waren nutzlos. Zusätzlich gab es selbstverständlich umfangreiches Wachpersonal
.
„Ein Hochsicherheitstrakt“
, schnaufte Sofie unwillig.
„Wohl eher ein goldener Käfig“, korrigierte Margareta. „Vergiss nicht eure Bungalows. Nur zehn Leute wohnen in einem Haus und ihr teilt euch zu zweit ein Zimmer. Es gibt eine Küche, einen Aufenthaltsraum und sogar eine überdachte Terrasse. Jedes Zimmer hat ein eigenes Bad und die Ausstattung ist vom Feinsten. Wenn du mich fragst, ist das eher ein Luxusferienzentrum und kein Internat.“
„Ja, ja, bloß dass die Häuser sowohl für Drachen als auch für Menschen ausgelegt sind. Ich frage mich echt, wie sie das mit der optischen Täuschung hinbekommen haben. Von außen sehen die Bungalows viel kleiner aus, als sie es tatsächlich sind.“
„Das muss ein Zauber sein. Frag doch Bill, wenn er diese Woche an die Steinburg kommt. Der kann dir das bestimmt erklären.“
„Ja, sicher! Bill wird sich freuen.“
Sofie musste lachen, als sie an die vor Begeisterung leuchtenden Augen des Weißen dachte. „Seine Worte werden sprudeln wie ein Wasserfall. Nur ob ich die auch begreife, steht auf einem ganz anderen Blatt…“
Die Bungalows nahmen zwei Drittel des Geländes in Beschlag. Allerdings waren sie in der parkähnlich gestalteten Landschaft so geschickt angeordnet, dass man immer bloß wenige Häuser gleichzeitig sah und so der Eindruck von Großzügigkeit und Privatsphäre entstand.
Dann gab es noch eine gigantische Arena. Sie war der offizielle Landeplatz für die Drachen. Außerdem fanden dort Flugunterricht und Wettkämpfe statt.
Das große Schulungszentrum stand direkt daneben. Es beherbergte die magische Verwaltung, diverse Unterrichts- und Versammlungsräume sowie eine Krankenstation und die Büros der Professoren.
Die magischen Labore hatte man vorsichthalber unterirdisch errichtet, denn es kam gelegentlich vor, dass die Versuche mit der astralen Energie aus dem Ruder liefen.
„Und ich mag den kleinen Laden. Dort duftet es immer so herrlich.“
Sofie musste schmunzeln. „Der Tarnung wegen verbieten sie zwar den Verkauf von offensichtlich magischen Artikeln, aber die Auswahl an Zimtprodukten ist sowas von verräterisch groß, dass jeder Uneingeweihte sofort misstrauisch werden muss.
“
„Ach, die Sportanlagen sind doch auch verdächtig, findest du etwa nicht?“, hakte Margareta nach. „Welche Uni hat schon eine Sporthalle, eine Freiluftkletterwand, ein Fitnesscenter und ein Schwimmbad mit großzügiger Sauna?“
„Stimmt! Und vergiss den See nicht. Und die Laufwege. Die ziehen sich über das ganze Areal.“
„Lauf- und Reitwege“, verbesserte Margareta. „Den Reitstall und die Halle sollten wir ebenfalls nicht unterschlagen, selbst wenn sie ganz weit hinten liegen, damit die Pferde nicht wegen der Drachen austicken.“
„Also, ICH würde die Pferde schon gern unterschlagen…“
„Angsthase!“
„Grmpf.“
Sofie mochte Pferde nicht. Sie waren ihr zu groß und zu unberechenbar. Außerdem hatte sie einen gehörigen Respekt vor deren Zähnen und Hufen. Beißen und Treten konnten die Viecher allemal. Und Lust aufs Putzen und Füttern hatte Sofie auch nicht.
„Na, das wird ja ein Spaß!“, spottete ihr Verstand.
Als Vorbereitung fürs Fliegen absolvierten alle Anfänger einen Grundkurs im Reiten.
„Davor werde ich mich drücken“
, dachte Sofie entschieden. „Immerhin habe ich mit Bill geübt. Wir haben schon einige Runden in der Luft gedreht und sind sogar durch die Nebel gesprungen. Beides hat halbwegs geklappt. Den Reitkurs schenke ich mir.“
„Wenn du meinst…“
„Was denn? Ich brauch das nicht.“
„Ich stehe diesen Tieren zwar genauso skeptisch gegenüber wie du, nichtsdestotrotz halte ich es für sinnvoll, den Kurs zu belegen.“
„Warum?“
„Pferde können nicht reden.“
„Großartige Erkenntnis, Superhirn.“
Stille.
Die Wellen rollten rauschend an den Strand.
„Also gut. Pferde können nicht reden. Und?“
„Mit den Drachen kannst du ebenfalls nicht reden, wenn ihr in der Luft seid. Dein Kopf ist Fort Knox, hast du das vergessen? Nichts geht rein,
nichts geht raus.“
„Ich weiß!“
, gab Sofie gereizt zurück. „Worauf willst du hinaus?“
„Also, ich muss schon sagen“, lästerte Margareta, „du bist echt eine Meisterin im Verdrängen! Du hast keine Lust auf die Zossen, also redest du dir die Welt schön.“
„O Mann! Hör auf rumzulabern, komm auf den Punkt! Mit Bill kann ich auch nicht kommunizieren, wenn wir in der Luft sind und trotzdem kla...“
„Quatsch. Ihr zwei kennt euch gut. Du kannst Schemen in seinen Gedanken erkennen und eure Bewegungen sind aufeinander abgestimmt. Ihr…“
Plötzlich riss in einiger Entfernung die Sphäre auf und spuckte eine schwarze Präsenz aus. Sofie zuckte zusammen und hielt inne.
„Das muss in der Nähe der Villa sein! Wer ist das?“
Zwei Atemzüge später hatte sie die Aura erkannt. Ihr Kiefer verspannte sich. „Verdammt, das gibt Ärger!“