4. Miesepeter und Zickenalarm
Sofie joggte am Strand, als die Sphäre über der Villa aufriss. Wenig später spürte sie, wie ein unsichtbarer Schatten über sie hinweg zog. Sie kannte die Aura. Ignorieren machte die Sache nicht besser, das war ihr klar, also wischte sie sich die verschwitzten rotbraunen Locken aus der Stirn und rief laut: „Ich weiß, dass du da bist, Karvin. Zeig dich!“
Der Schatten drehte um und kam wieder näher. Eine Welle der Verärgerung klatschte über Sofie zusammen.
„Reg dich nicht so auf!“, motzte sie zurück und hielt an. „Ich brauche einfach mal ein paar Minuten für mich. Allein!“
Der Schwarze kreiste über der jungen Frau, doch er blieb weiterhin unsichtbar. Seine Aura war so stachelig wie eine Distel. Es bestand kein Zweifel daran, dass Karvin stinksauer war.
„Warum landet er nicht endlich und macht mich lang? Worauf wartet der Miesepeter noch? Will er mich etwa zappeln lassen?“ , wunderte sich Sofie und starrte nach oben.
„Ach nee, er sammelt sich, damit er nicht ungerecht wird oder über die Stränge schlägt. Diszipliniert wie immer. O Mann!“
Genervt rollte sie mit den Augen. Seine Beherrschtheit machte sie fuchsig und das wusste der Schwarze haargenau.
„Dann eben nicht, du Knalltüte“, schnaubte Sofie und setzte sich erneut in Bewegung. Sollte er ihr doch da oben folgen. Das ewige Kreisen würde ihm schnell auf den Keks gehen und das wiederum wusste SIE.
Karvin war eigentlich kein schlechter Kerl, immerhin hatte er dafür gesorgt, dass Jan und sie in den letzten Monaten zusammenbleiben durften. Außerdem hatte er sie geduldig unterrichtet und ihr viel beigebracht. Aber er war es eben auch gewesen, der darauf bestanden hatte, dass Sofies Ausbildung an der Akademie und nicht hier in Travemünde fortgesetzt wurde.
„Und er pocht kleinlich auf die Einhaltung sämtlicher Regeln, egal ob die nun sinnvoll sind oder nicht. Damit macht er mich noch wahnsinnig!“
Für Karvin war ein Befehl ein Befehl. Spielräume gab es nicht. Wurde ihm eine Aufgabe übertragen, so führte er sie aus. Präzise. Ohne Wenn und Aber. Stets hatte er alles unter Kontrolle.
„Das ist so zum Kotzen.“
„Naja, DICH hat er offensichtlich nicht unter Kontrolle“, mischte sich ihr Verstand ein. „… ich übrigens auch nicht.“
Das war mal wieder typisch! Die Margareta in ihr hegte nicht unerhebliche Sympathien für diesen linientreuen Pedanten. Kein Wunder, waren sie einander doch sehr ähnlich. Wenn Sofie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie als Margareta jahrelang genauso ein Erbsenzähler gewesen war wie Karvin.
„Ja, ja, sich immer schön an die Vorgaben halten. Bloß nicht aus der Reihe tanzen. Pah! Aber jetzt nicht mehr.“
„Nein, jetzt nicht mehr“, stimmte ihr Verstand betrübt zu.
Die erwachende Magie hatte ihren Gefühlen Tür und Tor geöffnet und die Empathieübungen mit Eliande brachten alles noch mehr in Aufruhr. Bei einigen der Übungen sollte Sofie ihren Emotionen freien Lauf lassen und nichts zurückhalten. «Nur wer seine Gefühle kennt, kann sie gezielt in sich wachrufen und lenken oder bei Bedarf auf andere projizieren.»
„Manchmal ist es, als würde ich ungebremst gegen eine Wand rasen“ , seufzte Sofie und tat so, als würde sie Karvins Aura über sich nicht bemerken. Sie atmete tief durch, füllte ihre Lungen mit Seeluft und versuchte, ihren Laufrhythmus wiederzufinden.
Die Wut, die sie teilweise empfand, machte ihr selbst Angst. Mitunter verlor sie sich regelrecht in ihrem unbändigen Zorn. Das war nicht ungefährlich, da Sofie über ein beträchtliches astrales Potenzial verfügte. Meist sprühte sie dann magische Funken oder feuerte unbeabsichtigt. Und fast immer übertrug sie ungewollt ihre Gefühle. Die Drachen waren diesen Ausbrüchen gewachsen, aber normale Menschen konnte sie damit ernsthaft verletzen.
Ihre grüne Lehrerin versicherte ihr, dass das nicht passieren würde, solange Sofie ihre angestauten Emotionen regelmäßig herausließ. Eliande war klar, dass Menschen dazu erzogen wurden, insbesondere ihre negativen Gefühle zu unterdrücken. Sofie sollte sich das wie einen Luftballon vorstellen, in den alle unerwünschten Emotionen hineingeblasen wurden. War der Ballon voll oder geriet er unter Druck, zerplatzte er mit lautem Knall. Ließ man jedoch regelmäßig Dampf ab, so passierte nichts.
Durch den viel zu frühen Tod ihrer Eltern hatte Sofie ein großes Reservoir an Hilflosigkeit, Trauer und Zorn in sich angesammelt. Auch wenn Jan ihr half und mit ihr über die Dinge sprach, hatte sie die alten Geschichten noch lange nicht verarbeitet. Sie wusste ja noch nicht einmal, was damals tatsächlich mit ihrer Mutter und ihrem Vater geschehen war und allein diese Tatsache konnte sie nur schwer ertragen.
Instinktiv wanderte ihre linke Hand zur Halskette. Ihre Finger umschlossen die hauchzarten Ranken. Sie waren kunstvoll miteinander verflochten und in ihrer Mitte umhüllten sie zwei Ein-Cent-Münzen große Steine: ein weiß glitzerndes Herz und ein mattschwarzes Oval. Diese beiden Steine hatte Sofie als Kind für ihre Eltern am Ostseestrand gesammelt und Bill hatte sie mit einem bezaubernden silberfarbenen Metallgespinst eingefasst, damit Sofie sie immer bei sich tragen konnte. Die Steine trösteten Sofie, sie erdeten sie auf merkwürdige Art und Weise.
Sofie ließ ihren Blick über die endlosen Wellen schweifen und konzentrierte sich auf ihre Atmung.
„Irgendwer weiß etwas über meine Eltern“ , dessen war sie sich sicher. „Die Antwort ist irgendwo da draußen. Und ich werde sie finden. Bis dahin muss ich mit der Ungewissheit leben.“
„… und ab und an etwas Dampf ablassen“, riet ihr Verstand.
«Ableiten» nannte Eliande die Übungen, in denen Sofie sich unter ihrer Aufsicht erst in die Emotionen hineinsteigern und sie dann ausleben musste.
„«Ausrasten» trifft es besser.“
Mittlerweile brauchte Sofie mit dem richtigen Trigger bloß noch wenige Sekunden, um aus der Haut zu fahren. Blöderweise galt das nicht nur für die Übungen mit der Grünen, sondern ebenfalls für ihr normales Leben. Sie war erheblich aufbrausender und reizbarer geworden. Eliande lobte das als großen Fortschritt und wurde nicht müde zu unterstreichen, dass Empathen in ihrer sogenannten Tempestaszeit sehr leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen seien. Dies sei vollkommen normal und würde sich nach einigen Jahren oder Jahrzehnten von allein wieder geben. Hatte ein Empath seine Emotionen einmal in allen Höhen und Tiefen erkundet, so könne ihn kaum noch etwas aus der Ruhe bringen.
„Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, dass ich überhaupt zu solchen Gefühlen fähig bin, hätte ich dem einen Vogel gezeigt“ , brummte Sofie und ignorierte hartnäckig die schwarze Aura über sich, die mit jedem Atemzug glatter und besonnener wurde.
„Ach, Süße. Ist ja nicht mehr lang“, witzelte ihr Verstand. „So schnell wie du derzeit austickst, brauchst du maximal noch fünf Jahre und dann hast du das ganze Spektrum verinnerlicht. Übrigens: unser geschuppter Miesepeter geht grade in den Sinkflug über.“
Tatsächlich beschrieb Karvins beruhigte Aura eine abwärts gerichtete Kreisbewegung um die junge Frau herum.
Sofie beherrschte den Aurenzauber noch nicht richtig, stattdessen konnte sie die Auren anderer Geschöpfe erfühlen. Das «Rieseln», wie sie ihren magischen Sinn nannte, bescherte ihr Einblick in das wahre Wesen und die Stimmung ihres Gegenübers.
Karvins Stimmung war mies, als er nur wenige Meter vor ihr landete und ihr so den Weg versperrte. Notgedrungen hielt sie an und stemmte angriffslustig ihre Fäuste in die Hüften.
Karvin ließ seine Tarnung fallen. Für den Bruchteil einer Sekunde stand ein riesiger mattschwarzer Drache vor ihr im Sand, rollte seine Schwingen ein und verwandelte sich im gleichen Moment in seine Menschengestalt. Wie immer trug Karvin als Kevin Hiller einen dunklen Anzug und ein blütenweißes Hemd mit einer viel zu akkurat gebundenen Krawatte. Die schwarzen Schuhe waren auf Hochglanz poliert, seine braunen Haare ordentlich gekämmt. Die ganze Erscheinung war makellos.
„Er sieht aus wie ein mustergültiger Konfirmand. Baah!“
Schon bei seinem Anblick schwoll Sofie der Kamm.
Karvins Miene war unbewegt, doch diese Fassade konnte Sofie nicht darüber hinwegtäuschen, dass er wütend war. Trotzdem würde er sie das nicht spüren lassen. In solchen Situationen war er so emotional wie eine Marmorstatue.
„Argh! Karvin hat echt ‘nen Stock verschluckt. Heute Morgen traut sich nicht mal die Brise, seine Frisur durcheinander zu bringen.“
Plötzlich hatte Sofie für einen Wimpernschlag den Eindruck, in einen Spiegel zu sehen. Sie sah sich selbst, wie sie vor nicht einmal einem Jahr gewesen war: Damals hatte sie jeden Morgen ihre wilden Locken in einer strengen Frisur gebändigt und ihre Sommersprossen unter Makeup versteckt. Auch ihre Garderobe war tadellos gewesen. Margareta war stets souverän, zuverlässig und nie aus der Ruhe zu bringen gewesen. Sie hatte genau gewusst, wo ihr Platz gewesen war, was sie zu tun und zu lassen hatte. Alles war geregelt gewesen. Das hatte ihr Sicherheit gegeben. Sie war zufrieden gewesen.
„Und jetzt?“
Jetzt trieb sie ziellos dahin wie ein Blatt im Wind. Sie war Spielball der Lüfte. Das, was sie wollte, sollte sie nicht und das was sie sollte, wollte sie nicht.
„Damals gab es so ein Gefühlschaos nicht. Warum muss ich überhaupt was wollen?!“
Frustriert bemerkte Sofie, wie Neid in ihr aufkeimte und ihre Emotionen ins Rutschen gerieten. Früher hätte sie die unerwünschte Missgunst im Ansatz erstickt, aber heute war ihr das nicht möglich.
„Das Wochenende liegt hinter uns“, erinnerte sie ihr Verstand. „Du hast seit drei Tagen nicht mehr abgeleitet.“
„Stimmt.“
Karvin, der Musterknabe, stand direkt vor ihrer Nase. Wie ein Fels in der Brandung. Er war haargenau dort, wo er sein sollte und bereitete sich auf eine moderate Standpauke vor.
„Bei der Sphäre, mir wäre es lieber, er würde mich mal anranzen! Immer dieses zurückhaltende oberkorrekte Gefasel. Ich kann es echt nicht mehr hören!“
Finstere Gefühle wuchsen in Sofie.
„Jetzt bringt er gleich wieder vollkommen zutreffende Argumente. Und recht haben wird er auch noch. Aaaaaaarrrrahg! Ich könnte KOTZEN!“
„Drei Tage nicht ableiten ist zu lang“, wisperte ihr Verstand. „Das wird nicht gut gehen.“
„Nein, das wird es nicht“ , stimmte Sofie zu. Hinterlist wucherte in ihr. „Tja, der arme Miesepeter…“
„He!“, rief ihr Verstand alarmiert. „Karvin kann nichts dafür!“
„Besser er als Jan“ , entgegnete Sofie trocken. Sie konnte sich selbst nicht leiden, wenn sie so drauf war, aber Eliande hatte immer wieder betont, dass sie ALLE Facetten ihrer Persönlichkeit kennenlernen musste, also auch die niederträchtigen. Und hier war eine davon.
Neben Sofie schwappten kleine Wellen an den Strand. Da sie still stand, lief ihr nun erst recht der Schweiß. Ihr T-Shirt klebte unangenehm am Rücken.
„Auch Mr Ich-Habe-Immer-Alles-Im-Griff hat seine Schwachstellen.“
„Mach’s nicht“, bat ihr Verstand, doch Sofies Augen verengten sich provozierend. Ihre Stimme troff vor Sarkasmus: „Na sowas?! Fällt mir ein Anzugträger vom Himmel direkt vor die Füße. Wie unauffällig! Soviel also zur geheiligten Tarnung…“
Karvins Aura flackerte zerknirscht.
„Treffer!“ , flötete Sofie innerlich.
„Ich habe die Gegend gescannt“, rechtfertigte sich der Schwarze scheinbar gelassen. „Es ist niemand in der Nähe, der mich hätte sehen können.“
„Wenn du es sagst…“ Sofie zuckte mit den Schultern und stichelte weiter: „Aber deine guten Schuhe bekommen Salzränder, wenn du auf dem nassen Sand läufst.“
Ärger ließ ein paar Stacheln in Karvins Aura hervorschnellen. Er hatte seine Sachen gern ordentlich.
Sofie grinste voller Genugtuung. „Touché!“
Entschieden glättete der Drache seine Aura und blickte die junge Frau mitleidig an. „Na, Sofie? Bist heute Morgen mal wieder auf Krawall gebürstet, was? Ihr Empathen habt es aber auch nicht leicht. Ihr erlebt die Pubertät ein zweites Mal und das über Jahre.“
Sein Mitgefühl war echt und frei von Vorwürfen.
„Verdammt! Ich will ihn auf die Palme bringen, doch statt sauer zu werden, tue ich ihm einfach nur leid! Mist!“
Das war nicht das, was sie wollte! Sie wollte Zoff.
„Du Schaf“, mischte sich ihr Verstand ein, „das Wesen vor dir ist über 500 Jahre alt und ein Meister der Diplomatie. Und du glaubst, ihn mit zwei popeligen Sprüchen aus dem Gleichgewicht bringen zu können?“
„JA! Ich muss bloß die Voraussetzungen angleichen.“
Das düstere Gefühlsgewächs in Sofie brachte ein paar hässliche Zornesblüten hervor. Sie kannte Karvin gut. In den vielen Unterrichtsstunden mit ihm hatte sie herausgefunden, wie sie seine emotionalen Barrieren unterwandern konnte. Es wurde Zeit, das auszutesten.
„Wenn ich keine Kontrolle habe, soll er auch keine haben.“
„Du bist sowas von kindisch!“, zischte ihr Verstand, doch da hatte Sofie bereits gehandelt.
Einen Atemzug später erinnerte die Aura des Drachen wieder an eine Distel und sein Gesichtsausdruck an saure Milch.
Sofie lächelte liebenswürdig. „Danke für dein Verständnis. Und auch dafür, dass du in aller Herrgottsfrühe hierher kommst und dir deine Lieblingsschuhe ruinierst, nur um mir das zu sagen.“
„Nein, Phönix, deswegen bin ich nicht hier“, gab Karvin genauso liebenswürdig zurück. Seine Aura flackerte beunruhigend.
Zufrieden stellte Sofie fest, dass der Schwarze aufgewühlt war.
„Jetzt ist Schluss mit dem Kuschelkurs!“
„Ich bin hier“, säuselte der Drache, „weil DU einen Babysitter brauchst, denn offensichtlich bist du außerstande, dich an die simpelsten Regeln zu halten.“
Er schüttelte herablassend seinen Kopf. „Geh. Nicht. Allein. Raus! Vier Worte. Und du bist schon überfordert.“
Sofie erstarrte. „Er rastet nicht aus. Er dreht den Spieß um! Er macht sich über mich lustig.“
„Hab ich’s dir nicht gesagt!“, brummte ihr Verstand. „Du bist echt so blöd.“
Aber diese Worte kamen bei Sofie nicht an. Zorn rauschte heiß in ihren Ohren und der Ballon mit den angestauten Gefühlen drohte in ihr zu platzen. Verwirrt machte sie den Mund auf, doch Karvin kam ihr zuvor.
„Du weißt, dass wir dich nicht orten können. Was denkst du dir dabei, allein die Villa zu verlassen?“
„Nichts!“, motzte Sofie zurück. „Ich brauchte einfach mal frische Luft! Und wie du grade eben so brillant festgestellt hast, ist hier keine Menschenseele.“
Der Schwarze richtete sich wütend auf. „Ach! Und woher wusstest DU das, als du losgelaufen bist?!
Sofie machte sich ebenfalls gerade. „ICH habe Augen im Kopf!“
„Pah!“, stieß der Drache verächtlich aus. „Und mit diesen Augen kannst du selbstverständlich auch hinter die Steilküste gucken. Sicher! Na los, Fräulein! Erzähl mir mal, was da in 400 Metern hinter der nächsten Biegung ist!“
„Nichts ist da! Was soll da schon sein?!“
Karvin überging ihre Antwort und fuhr gefährlich leise fort: „Du hast keine Ahnung, was sich in deinem Umfeld befindet. Du bist quasi blind und…“
„DAS IST DOCH VÖLLIG WURST“, unterbrach Sofie ungehalten. „Selbst wenn da irgendwer ist, was soll denn schon passieren?! Hä?!“
„Du willst es einfach nicht wahrhaben, oder?“, zischte der Schwarze.
„Ich bin kein hilfloses Menschlein. Ich kann mich wehren, schon vergessen?“
„So? Glaubst du das?!“ Die Halsschlagader des Drachen pulsierte.
„JA, VERDAMMT!“
Karvin schüttelte abschätzig den Kopf. „Deine Fähigkeiten werden nicht helfen, wenn dir jemand auflauert und dich aus der Ferne betäubt.“
„Bist du irre?“ Sofie schnappte entsetzt nach Luft. „Wer sollte denn sowas tun?!“
„Du hast keinen Schimmer, in was du dich hineinmanövriert hast.“
„Hör auf in Rätseln zu sprechen, Karvin! Seit Wochen diese Andeutungen. RED ENDLICH MAL KLARTEXT.“
„Du willst Klartext?!“ Der Drache schnaubte spöttisch. „Kannst du haben: Du hast dich selbst zur Zielscheibe gemacht, als du uns davon abgehalten hast, die Bilder von dir und Jan zu löschen. Seit die in der Zeitung gedruckt wurden, stehst du im Visier von…“
„Ahaaaa! DAHER weht der Wind. Es geht mal wieder um die Bilder! Das wird dich wohl ewig wurmen, was?“
„Mich wurmt gar nichts“, knurrte Karvin. „Von mir aus können die Zeitungen so viele Knutschfotos von dir und dem Karfunkel bringen, wie sie wollen“ – das war gelogen. Sofie spürte, dass er sich sehr wohl darüber ärgerte – „…aber ich bin für deine und J‘s Sicherheit verantwortlich. Der Firmenchef von WyvernPower hat sich bei einigen Menschen ziemlich unbeliebt gemacht. Und als seine offizielle Freundin bi st du ein gefundenes Fressen für alle, die Jan Hendrik Meier ans Bein pinkeln wollen. Du hast ja keine Vorstellung davon, WER seitdem Nachforschungen über dich anstellt.“
„BLÖDSINN! Dir geht es doch nur gegen den Strich, dass Jan sich öffentlich zu mir bekennt“, giftete sie zurück.
„Selbstverständlich geht mir das gegen den Strich! Denn es erschwert MEINE Arbeit! Und das alles bloß, damit Henriette und Ursula nicht schlecht von J denken!“ Karvin rollte mit den Augen. Er war tatsächlich auf hundertachtzig.
Sofie ballte wütend die Fäuste. „Meine Großmutter hat noch VOR euch ach so wachsamen Himmelsechsen mitbekommen, dass uns ein Paparazzi am Strand abgeschossen hat. SIE war es, die von der Redakteurin gewarnt wurde. Offensichtlich haben du und deine Leute gepennt!“
Karvins Blick verdüsterte sich bedrohlich. „Zu dem Zeitpunkt hätten wir die Bilder noch problemlos verschwinden lassen können.“
„ACH JA?!“ Sofie bot dem Schwarzen entschlossen die Stirn, ihr Kiefer verspannte sich. „Dann hätten Henriette und Uschi gedacht, dass Jan seine Finger im Spiel hat und es nicht ernst mit mir meint.“
„NA, UND WENN SCHON?“ Karvin hob gereizt die Arme in die Luft, seine Aura brodelte. „Das ist doch eh egal! Mit ein bisschen Glück hast du in ein paar Wochen einen neuen Partner, und dann ist das mit dir und J sowieso Geschich…“
WUUUUUSCH!
Blassblaue Flammen zischten funkensprühend über den instinktiv von Karvin hochgerissenen Schutzschild. Er kollabierte, bevor der Schwarze ihn bewusst verstärken konnte. Das magische Feuer züngelte über die Menschengestalt des Drachen und steckte seine Haare und Kleidung in Brand.
Ungläubiges Erstaunen verzerrte Karvins sonst so ebenmäßigen Züge. Entsetzt erstickte er die Flammen mit einer kleinen Geste seiner linken Hand.
Aus dem Augenwinkel nahm Sofie wahr, wie sich drei Möwen hastig aus dem Staub machten.
Sie war schockiert. Der Nachhall der astralen Energie brannte in ihren Meridianen. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie in den letzten Minuten so viel Kraft aus der Umgebung in sich aufgesogen hatte. Eine dermaßen heftige Entladung hatte sie nicht kommen sehen.
„Was habe ich getan!?“
Karvins Anzug war ruiniert, das weiße Hemd hatte Brandflecken. Und seine ordentlich frisierten Haare qualmten. Sanft trug die leichte Brise kleine Rauchsträhnen mit sich fort.
„Wann hast du das letzte Mal abgeleitet?“, presste der Drache mühsam beherrscht hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. Die oberflächlichen Verbrennungen schmerzten ihn.
„Freitag“, antwortete Sofie tonlos und schluckte. Die Wut in ihrem Inneren war verschwunden. Sie fühlte sich merkwürdig hohl. Langsam füllten Bestürzung und Reue das Vakuum.
„Ich bin zu weit gegangen.“
„Freitag? Das reicht offensichtlich nicht mehr aus“, stellte Karvin fest. „Ich werde Eliande darüber informieren.“
Sofie nickte stumm. Sie schaute beschämt zu Boden und bemerkte, dass das eben noch hochglänzende Leder von Karvins Schuhen hässliche Blasen schlug.
„O Gott! Ich habe seine Lieblingsschuhe ruiniert!“
Karvins Blick folgte dem ihren. Erst jetzt schien ihm klar zu werden, wie er aussehen musste. Der Drache versteifte sich und hob mechanisch seinen Kopf. Seine Aura verlor jegliche Zurückhaltung.
Ängstlich guckte Sofie in sein Gesicht und wurde von zwei zornig funkelnden Augen empfangen.
„OoooOoo! So hat er mich noch nie angesehen. Jetzt habe ich ihn wirklich sauer gemacht.“
„Sauer? Falsch!“, korrigierte die Margareta in ihr. „Du hast dir dein Grab geschaufelt.“
Sofie schluckte erneut. Ihr Hals war trocken.
„Ich weiß, dass die Tempestaszeit für Empathen nicht leicht ist“, fauchte Karvin gefährlich leise. „In den Übungen kannst du dich gehen lassen, aber ansonsten hat dein Verhalten Konsequenzen. Für dich, vor allem jedoch für dein Umfeld.“
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als er herausfordernd fragte: „Falls du einen Gefährten findest, was glaubst du wird passieren, wenn die Presse das mitbekommt?“
Reißerische Schlagzeilen und Fotos wirbelten durch Sofies Kopf. Ihr wurde übel.
Der Drache nickte kühl. „Ganz genau. Wie Hyänen werden sich die Reporter darauf stürzen. J wird unzählige Interviewanfragen deswegen bekommen und auch sonst ständig darauf angesprochen. Er wird dich und deinen Neuen auf jedem Titelblatt sehen. Und jedes Mal wird ihm vor Augen geführt, dass er dich verloren hat. Unwiderruflich.“
Karvins Worte trafen Sofie, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Jan und sie hatten die Zukunft ausgeblendet. „Ich habe nicht darüber nachgedacht, was später sein wird.“
„Und weil J sich offen zu dir bekannt hat, wird die Presse den Finger erst recht in die Wunde legen und nachbohren“, fuhr der Schwarze unbarmherzig fort. „J wird sich dem Rummel nicht entziehen können. Das wird wochenlang so gehen. Es wird die Hölle für ihn.“
„Verdammt, da hat er recht. Und dem Miesepeter war das offenbar schon damals alles sonnenklar!“ Erneut wallte Zorn in Sofie auf. Wütend klagte sie ihn an: „Warum bei der Sphäre sagst du mir das ERST JETZT?“
„Weil J es mir VERBOTEN hat!“
„Aber das ist unmöglich!“, widersprach Sofie. „Ich kann in seine Gedanken sehen. Das hätte ich doch bemerkt.“
„Ach, hättest du das?“ Karvin lachte freudlos. „J trägt tagsüber den Karfunkel. Sein Geist war abgeschirmt.“
„Ja, und?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte es später …“
„Du verstehest NICHTS von Geistesmagie“, unterbrach der Drache sie unwirsch. „J wurde JAHRELANG intensiv von uns ausgebildet. Auch ohne astrale Kraft verfügt er über einen disziplinierten Geist und kann seine Gedanken gezielt lenken oder sie unterdrücken. Wenn er vor einem Laien etwas verbergen will, so ist das kein Problem. Und ganz nebenbei: Sogar Gefährten in der Bindungsphase können Geheimnisse voreinander haben.“
„Aber ich hätte doch etwas GESPÜRT“, beharrte Sofie. „Spüren müssen!“ Sie schaute Karvin zweifelnd an. „Da war nichts…“
„… außer seinem Wunsch, dich zu schützen! Das WEISS ich!“, knurrte de r Schwarze und schnaubte grimmig. „J will es dir recht machen! DEIN GLÜCK steht für ihn an erster Stelle. Das ist auch der Grund, warum ich dir nichts über die Kriminellen sagen darf, die Nachforschungen über dich anstellen. J will, dass du dich frei fühlst. Und wer darf unter diesen Voraussetzungen für deine Sicherheit sorgen?!“
Karvin wartete ihre Antwort nicht ab, sondern rollte genervt mit den Augen. Ein Igel war im Vergleich zu seiner Aura ein flauschiges Schmusetier. „Weißt du eigentlich, wie schwierig es ist, dich im Blick zu behalten, ohne deine Gedankenmuster orten zu können?“
Sofie schwieg. So gereizt hatte sie den Drachen noch nie gesehen. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, ließ er sie seinen Ärger spüren. Seine Aura verdunkelte sich unheilvoll.
„Es ist, als wärst du GAR NICHT DA!“, polterte der Schwarze weiter und funkelte sie vorwurfsvoll an. Seine Emotionen übertrugen sich auf Sofie.
„Blöderweise ist es mein Job, dafür zu sorgen, dass dir tatsächlich niemand ein Haar krümmt“, regte er sich auf. „Bah! Bewach mal etwas, das du nicht sehen kannst. Ich sage dir, das ist schlimmer als auf einen Wurf soranischer Panikrenner aufzupassen. Die Viecher sind genauso ungehorsam wie DU! Bei den Schuppen des Grauen Kriegers, manchmal würde ich am liebsten alles hinschmeißen!“
Sofie hatte genug und giftete zurück: „Denn mach das doch endlich!“
Die Worte waren raus, bevor sie es verhindern konnte.
Schweigen.
„Das ist nicht dein Ernst!“ Karvins Stimme ließ Sofie unwillkürlich an einen zufrierenden See denken.
„Auch wenn du dir das vielleicht nicht vorstellen kannst, Phönix: Ich bin J’s Freund! Sollte ich gehen, wer ist dann für ihn da, sobald du dich an einen der unseren bindest?“ Seine Aura verdichtete sich ungesund. „J ist dir verfallen, mit Haut und Haaren. Er liebt dich mehr, als ihm guttut. Viel mehr. Ich glaube nicht, dass er sich jemals wieder einer anderen Frau zuwenden wird, wenn du ihn verlässt.“
„Aber ich WILL ihn doch gar nicht verlassen!“, begehrte Sofie auf. „Ich will MEIN LEBEN MIT IHM VERBRINGEN!“
„Das weiß ich sehr wohl!“ Karvin versuchte, sich zu beruhigen. „Du vergisst jedoch, dass diese Entscheidung nicht in deiner Hand liegt.“
Farblose Schlieren der Niedergeschlagenheit durchzogen seine Aura.
Sofie schüttelte den Kopf. „Die Wahrscheinlichkeit, dass es mich erwischt, liegt bloß bei zehn Prozent.“
„Wer sagt denn das?“ Der Drache runzelte verächtlich die Stirn.
„Bill hat das ausgerechnet.“ Und Sofie hoffte von Herzen, dass er recht hatte.
„Wie nett von Bill“, grummelte Karvin ironisch. „Nur leider treffen die allgemeinen Zahlen nicht auf dich zu.“
Schweigen.
Sofie fühlte sich plötzlich ganz ausgelaugt. Sie hatte keine Kraft mehr und hörte auf zu kämpfen. Tonlos fragte sie: „Warum? Was weißt du?“
Karvin rang mit sich.
Im gleichen Maße, wie Sofies Widerstand erstarb, hellte seine Aura sich auf und er fand zu seiner üblichen Selbstbeherrschung zurück.
„Für heute reicht es, Sofie. Ich habe sowieso schon zu viel gesagt und damit diverse Versprechen J gegenüber gebrochen.“
Er hielt kurz inne, seufzte und meinte versöhnlich: „Tu uns allen den Gefallen und mach es für J nicht noch schwerer, als es ohnehin ist. Ich weiß, dass du ihn liebst. Du willst ihm nicht wehtun, also…“
Hilflos zuckte er mit den Schultern. Er blickte ihr prüfend in die Augen, murmelte: „Durstig, wie sollte es nach dem Feuerwerk eben auch anders sein“, und holte ein Päckchen Kaugummi aus der Innentasche seines Jacketts. „Nimm besser zwei Streifen.“
Mechanisch griff Sofie nach dem HotSpice.
„Es tut mir leid“, brummte Karvin und entfernte sich ein paar Schritte von ihr. „Ich bleibe in deiner Nähe, bis du in der Villa bist.“
Dann drückte er sich vom Boden ab, verwandelte sich in einer fließenden Bewegung in seine Drachengestalt und breitete die Schwingen aus. Einen Atemzug später war er unsichtbar.
Sofie blieb allein am Strand zurück. Neben ihr rauschten die Wellen und vereinzelt kreischten Möwen in sicherer Entfernung. Der Himmel war blau, die Wolken hatten sich aufgelöst und die Sonne versprach einen wunderschönen Sommertag.
„Nicht für mich.
Das unkontrollierte Zaubern hatte Sofie erschöpft. Resigniert wickelte sie das Kaugummi aus und steckte es sich in den Mund. Es schmeckte angeköselt und ungewöhnlich nach Karamell. Dennoch entfaltete der Zimt seine Wirkung. Sofie konnte spüren, wie sich ihre Meridiane weiteten und astrale Kraft in ihren Körper floss.
„Schon besser“ , stöhnte sie erleichtert und setzte sich erneut in Bewegung. Sie würde mindestens noch zehn Minuten brauchen, bis sie wieder zu Hause war.
Wohl eher 15“, meldete sich ihr Verstand zurück. „Was übrigens kein Wunder ist, bei all den Schuldgefühlen, die wir mit uns rumschleppen.“
„Ach, sei still!“
„Gut, dann verkneife ich mir auch die Bemerkung, dass mir von Anfang an klar war, dass dein Zickenalarm mit Karvin eine ECHT blöde Idee ist. Und auch, dass ich dich gewarnt habe.“
„Oh danke, wie nett von dir.“
„Bitte schön.“
„Klappe. Ich will jetzt laufen. Sonst dauert es 20 Minuten.“