6. Tyra Sjöberg
„Danke fürs Taschetragen, Bill.“ Sofie lächelte den Weißen an. „Diese Sprünge durch die Nebel schaffen mich echt. Mir ist immer noch schlecht.“
„Das geht doch fast allen so“, winkte der Drache ab. „Nach ein- bis zweihundert Jahren hast du dich dran gewöhnt. Ich finde jedenfalls, du machst dich immer besser auf meinem Rücken.“
„Das liegt nur an dir, mein Lieber.“ Sofie umarmte Bill freundschaftlich. „So, nun sollte ich mich aber beeilen. In zehn Minuten muss ich in meinem Klassenraum sein.“ Sie kramte mit einer Hand in ihrer Hosentasche nach dem Schlüssel für den Bungalow Nummer 23.
„Oh, stimmt. Bis später.“ Bill strahlte. „Ja, dann gehe ich jetzt mal … Oder…“ Er sah sich auffällig unauffällig um und flüsterte: „Was meinst du? Kann ich nicht ausnahmsweise gleich von hier durch die Nebel springen?“
„Hmm. Offiziell sollen alle Drachen in der Arena starten und landen“, meinte Sofie. „Du weißt schon, damit die Neuen nicht erschreckt werden.“
„Ach, die Menschen sind alle hinter den Hecken oder in ihren Häusern. Mich sieht keiner.“
„Du bist ab heute ein Professor“, gab Sofie amüsiert zu bedenken. „Das entspricht den Mentoren bei euch Himmelsechsen. Sind die für euch keine Vorbilder?“
„Ääh. Uh. Doch.“ Bill setzte einen seriösen Gesichtsausdruck auf. Der wirkte neben dem zu engen Wacken-T-Shirt und seinen im Nacken mit Kabelbinder zusammengehaltenen Haaren grotesk. Er hüstelte. „Selbstverständlich werde ich von der Arena aus starten. Bis später, meine Schülerin.“
„Bis später, Bill!“, schmunzelte Sofie. „Und danke nochmal!“
„Da nicht für!“
Der Weiße winkte zum Abschied und machte sich mit stolzgeschwellter Brust auf den Rückweg.
„Immerhin sehe ich Bill jeden Tag“ , dachte Sofie dankbar. Sie hatte ihren Schlüsselbund gefunden und öffnete die Tür.
Für alle anderen Studenten lief die Zutrittsberechtigung auf dem Gelände der Akademie via Gedankenkontrolle.
„Tja, bis das bei mir klappt, wird es wohl noch einige Zeit dauern. Wenn es überhaupt jemals klappt. Meine bekloppte Abschirmung ist echt nervig.“
„Hey, Sofie! Da bist du ja endlich“, begrüßte ihre Zimmergenossin Tyra Sjöberg sie. „Ich wollte grade losgehen. Ich hatte schon befürchtet, du wärst mit dem Auto irgendwo liegengeblieben.“
Prompt spürte Sofie eine verräterische Röte in ihrem Gesicht aufsteigen. „Nee, ich bin einfach nur spät dran.“
„Na, dann beeil dich lieber“, trieb Tyra sie an. „Wir haben den ersten Kurs zusammen. Vorn in der Burg an der Straße.“
Die kleine Schwedin schulterte ihre Umhängetasche. Sie war zierlich und hatte schulterlange blonde Haare. Ihre Haut war hell und mit unzähligen Sommersprossen übersät, genau wie bei Sofie. Ein leichter skandinavischer Akzent verstärkte den kindlich elfenhaften Eindruck, doch der täuschte. Tyra war weder schwach noch naiv.
„Mach ich!“ Mit schnellen Schritten ging Sofie in das gemeinsame Zimmer, warf die Tasche aufs Bett und holte ihren Rucksack aus dem Schrank. „Welches Fach haben wir denn jetzt?“
„Latein.“ Tyra lehnte schmunzelnd im Türrahmen. „Was denn? Du alte Streberin hast deine Unterlagen noch nicht mal gepackt?“
„Das wollte ich heute Morgen eigentlich hier in Ruhe machen, aber…“ Seifenschaum und die Erinnerung an einen sehr hilfsbereiten und vor allem sehr nackten Jan zuckten durch ihren Geist. Ihre Wangen wurden heiß. Sie brach ab. „Verdammt! Geht das schon wieder los?!“
„Und dann kommst du so spät?“ Die kleine Schwedin grinste. In ihren grünen Augen blitzte der Schalk auf. „Mensch Sofie, so kenne ich dich ja gar nicht!“
„Ich…“
„Und du bist knallrot.“ Tyra lachte ungeniert. „Ich wette, du hattest Sex mit deinem Batterie-Freund.“
„Nenn Jan nicht so“, schimpfte Sofie. Endlich fand sie das Lateinbuch und die Mappe mit den Unterlagen der letzten Woche. Sie ließ beides in ihren Rucksack gleiten und wandte sich zum Gehen.
„Vergiss das Geschichtsbuch nicht! Mein lieber Schwan, Sofie, du bist ja voll durch den Wind. Mr WyvernPower muss echt ‘ne Granate im Bett sein.“ Tyra zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Erzähl mir alles!“
„O Mann, Tyra“, jammerte Sofie. Auch ohne Spiegel wusste sie, dass ein Feuermelder neben ihrer Gesichtsfarbe verblasste. „Ich … was soll ich … das geht nicht!“
Tyra grinste von einem Ohr zum anderen. „Was geht nicht? Heute Morgen schien alles bestens gegangen zu sein. Oder sollte ich lieber «geflutscht» sagen?“
„Tyra!“
„Das ist mein Name“, flötete die Schwedin. Sie amüsierte sich ganz offensichtlich köstlich. „Na los. Raus damit!“
„Ich…“ Sofie langte nach dem besagten Geschichtsbuch. Achtlos stopfte sie es zu ihren anderen Sachen und verließ das Zimmer. „Ich... bin konservativ erzogen worden. Ich kann solche Mädchengespräche nicht führen! Das ist mir voll peinlich.“
„Warum?“ Tyra folgte ihr kichernd. „Menschen haben Sex. Ansonsten wären wir ausgestorben.“
„Theoretisch vielleicht“, ächzte Sofie. „Praktisch sieht das im Hause Fredenhagen aber anders aus.“
„Das merke ich, mein Blümchen.“ Tyra hakte sich feixend bei ihr unter. „Du musst lockerer werden. Mal ehrlich: An deiner feuerroten Birne kann jeder Depp ablesen, was ihr zwei heute Morgen getrieben habt. Dazu noch das Rumgestammel… Da bringt dir deine ganze Fort-Knox-Abschirmung rein gar nichts.“
„Ich weiß!“, stöhnte Sofie.
„Was du brauchst, sind gute Ausreden und ein Pokerface“, erklärte Tyra. „Keine Sorge, bis zum Ende des Semesters habe ich dir die Grundlagen beigebracht.“
„Meinst du?“
„Klar! Und wenn du dich mit mir rumtreibst, wirst du automatisch lockerer oder verrückt.“
„Also, verrückt bin ich schon.“
„Na, dann muss es mit dem Locker-Werden ja klappen!
Lachend verließen die jungen Frauen das Haus und machten sich auf den Weg zur Burg.
Sofie war froh, dass sie Tyra als Mitbewohnerin hatte. Die Hochschule legte die Zimmerbelegung fest. Die Schwedin war eine der ersten Magie-Studenten der neuen Generation und wie Sofie 23. Damit gehörten die beiden zum alten Eisen. Tyras astrales Potenzial fiel eher gering aus, mit dem Unterricht tat sie sich ebenfalls schwer, doch sie hatte ihr Herz am rechten Fleck und war eine Sportskanone. Ihre direkte, ungezwungene Art mochte Sofie von der ersten Sekunde an. Wenn Tyra etwas sagte, dann meinte sie es auch so. Sie hängte ihr Fähnchen weder in den Wind, noch eierte sie herum. Bei Tyra wusste man immer, woran man war und das machte es leicht, Freundschaft mit ihr zu schließen.
„Ich glaube, Tyra ist meine erste richtige Freundin überhaupt“ , dachte Sofie, als sie beide den Sandweg entlang eilten.
Hinter der hohen Hecke zu ihrer Rechten hörten sie entfernte Stimmen.
„Ach, der Phönix meint doch sowieso, dass sie etwas Besseres ist!“, lästerte jemand. „Pia sagt, sie ist heute mit einem Drachen gekommen. Und ich habe gesehen, dass sie sich ihre Tasche von so einem armen Würstchen hat zur Bude tragen lassen. Der Typ war der Obernerd schlechthin: fett, geschmacklos angezogen und dann noch lange Haare. Welcher Mann trägt heute denn noch lange Haare?“
Tyra grinste Sofie an. „Na, wenn das nicht die gute Leonie aus deinem Semester ist, die hier quer übers Gelände tratscht…“
„Brad Pitt hatte mal lange Haare“, antwortete ein Kerl mit spanischem Akzent.
„Und das muss Sergio sein. Der ist auch bei uns“, gab Sofie zurück. Sie lächelte, aber innerlich regte sie sich auf. Wie konnte diese blöde Tussi es wagen, so über Bill zu reden? Sie kannte ihn doch gar nicht!
Die Stimmen kamen näher. Ihre Kommilitonen mussten ihren Bungalow nach hinten raus bei der Terrasse verlassen haben und nahmen die Abkürzung über den Rasen entlang der Hecke.
„Dass Brad Pitt lange Haare hatte, ist mindestens drei Jahre her. Außerdem ist er Schauspieler“, ereiferte sich Leonie. „Und mit Kabelbinder hat er die garantiert nie zusammengebunden.“
„Kabelbinder?!
„Ja! Das ist doch voll primitiv. Außerdem ist der Nerd wie ein Hündchen neben ihr hergelaufen und hat sie angehimmelt. Ich wette, dass das Würstchen sich Hoffnung macht, bei ihr landen zu können. Vielleicht sollte dem mal jemand stecken, dass sie ‘nen Freund hat!“
„Ich dachte, alle Studenten müssen ihre Beziehungen beenden, wenn sie an die Akademie gehen“, hakte Sergio verwundert nach. „Von mir haben sie das jedenfalls verlangt.“
„Jaaaa, so ist das bei uns Normalos“, entgegnete Leonie spitz, „aber Fräulein Ich-Bin-So-Geil-Weil-Ich-Der-Phönix-Bin genießt Sonderrechte. Sie ist das Betthäschen vom WyvernPower Chef, diesem Meier, wusstest du das nicht?“
Sofie schwoll der Kamm. Aufgebracht griff sie nach ihrer Kette.
„Der Karfunkel?“
„So ist es! Und dann immer ihr Getue“, Leonie äffte Sofies Stimme nach: „«Herr Professor, ich kann diese Aufgabe nicht. Ich bin nicht in der Lage, in den Geist von anderen Leuten zu sehen.» Oah, Sergio, ich kann das echt nicht mehr hören!“
Sofie schluckte betroffen. „Ein einziges Mal habe ich was gesagt. Und das bloß, weil mich alle angestarrt haben. Ich war die Einzige, die die Übung nicht mitgemacht hat. Was sollte ich denn tun?“
Am liebsten würde sie durch die Hecke greifen und diese Leonie kräftig schütteln. Doch plötzlich flackerte die Erinnerung an ihre Begegnung mit Karvin an diesem Morgen durch ihren Kopf. „Ich muss mich zusammenreißen!“
Tyra drückte mitfühlend Sofies Arm und flüsterte: „Reg dich nicht auf, Süße. Lohnt sich nicht. Das ist purer Neid.“
„Ich habe gehört, dass sie einen eigenen Lehrer bekommen soll“, wusste der Spanier zu berichten.
„Na, siehst du“, lachte Leonie. „Wahrscheinlich ist der Phönix in Wahrheit total unbegabt und hat ein lächerlich kleines Potenzial.“
„Wie sehr wünschte ich, das wäre so!“ Sofie schnaubte. „Dann müsste ich nicht hier sein. Dann dürfte ich bis in alle Ewigkeit mit Jan zusammen bleiben! Aber nein…“
„Du glaubst, sie ist bloß wegen ihrer Beziehungen hier?“, erkundigte sich Sergio .
„Na sicher! Mich wundert es allerdings, dass sie kein Einzelzimmer bekommen hat. Das würde zu so einem Luxus-Prinzesschen passen. Stattdessen wohnt sie mit der Looser-Oma zusammen. Diese Tyra besucht denselben Fortgeschrittenen-Lateinkurs wie wir, dabei ist sie schon im ich-weiß-nicht-wie-vielten Semester! Pia meinte, sie ist nicht grade die Hellste und hat das Potenzial einer Mücke.“
„Sie ist ja auch nur eine halbe Portion“, merkte Sergio trocken an und brach in lautes Gelächter aus. Leonie stimmte mit ein.
In wenigen Metern endete die Hecke. Gleich würden die beiden Lästermäuler zu Sofie und Tyra auf den Weg kommen.
„Die mache ich sowas von lang!“, zischte Sofie erbost. Sie war froh, dass sie an diesem Morgen gründlich abgeleitet hatte, sonst hätte sie für nichts garantieren können.
Tyras Griff wurde fester. „Das tust du nicht!“
Verwundert blickte Sofie zu der kleine Schwedin hinunter. Ein Rieseln und sie spürte, dass Tyra zwar sauer war, aber nicht ansatzweise so wütend wie sie selbst. „Wieso regt sie sich nicht auf?“
Drei Meter vor Sofie betraten die Kommilitonen den Weg. „Du bist so witzig, Sergio“, gackerte Leonie. „Hach! Also, MEIN Potenzial liegt weit über dem Durchschnitt. Früher gab es wohl nicht genug Talente, da haben sie jeden genommen. Warum sonst sollten die Himmelsechsen jemanden wie Tyra hierher holen? Sie ist schon 23 und hat ohne Ende «Triff die Drachen»-Zeremonien mitgemacht. Ich habe große Zweifel, dass jemand wie sie erwählt wird, wenn jemand wie ich daneben steht. Was kann Tyra überhaupt, außer rennen?“
Gerechter Zorn pulsierte durch Sofies Adern. „Ein Wort noch und ich explodiere!“
„Ich kann hervorragend hören“, flötete Tyra zuckersüß, woraufhin Leonie und Sergio zusammenzuckten und sich entsetzt umdrehten.
Die Schwedin grinste und strich lässig eine schulterlange Haarsträhne hinters linke Ohr. „Sofie beherrscht diese ungewöhnliche Fähigkeit ebenfalls, unglaublich, nicht wahr? Aber ich gebe zu, eines können wir zwei leider nicht“, sie setzte einen betrübten Gesichtsausdruck auf, „wir sind zu blöde, um so herablassend über andere herzuziehen wie ihr. Gratuliere, darin seid ihr sicher Jahrgangsbeste.
Schweigen.
Leonie und Sergio waren völlig verdattert stehen geblieben.
Tyra hakte sich gut gelaunt bei Sofie unter und schritt hoheitsvoll an den anderen vorbei. „Komm, Phönix. Wir zwei müssen zum Lateinunterricht, damit wir den Kurs wenigstens in diesem Semester schaffen. Besonders du, du alte Lusche! Dein Einser-Abi hast du doch bestimmt gekauft, genau wie den Einser-Abschluss in Wirtschaftsinformatik. Na los, du Kollegenschwein. Rück schon raus mit der Sprache, wo man solche Strebernoten herbekommt!“
Tyra gluckste vergnügt. „Und Jan Hendrik Meier lässt dich natürlich nur deswegen an seine IT ran, weil du so gut im Bett bist. Klar! Deswegen hast du administrativen Zugang zu den Systemen von WyvernPower bekommen. Das ist voll einleuchtend für eine Hohlbirne wie mich. Der Karfunkel hat auch sonst niemanden in seiner Firma, der die technischen Dinge für ihn regelt. Logisch! Da müssen die Betthäschen ran! DARUM läuft der Laden so gut.“ Tyra schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und kicherte: „Ich Doofi. Da wäre ich ohne Leonie echt nicht drauf gekommen.“
Ihre Belustigung war so ehrlich wie ansteckend. Sie nahm Sofies Wut den Wind aus den Segeln und ließ ihre Mundwinkel zucken. Schließlich prustete Sofie los und lachte sich den angestauten Frust von der Seele.
Leonie und Sergio blieben stumm hinter ihnen zurück.
Als die Burg in Sichtweite kam, wischte Sofie sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln und fragte Tyra: „Wie machst du das bloß?“
„Was?“
„Wie schaffst du es, so ruhig zu bleiben, wenn jemand so ätzend ist wie die beiden?“ Sofie schüttelte bewundernd ihren Kopf. „Also, wenn ich ehrlich bin, hätte ich Leonie und Sergio eben am liebsten umgenietet. Du hast sie ja nicht mal angegriffen oder beleidigt.“
„Ach“, winkte Tyra lässig ab, „Anranzen macht da wenig Sinn. Es bringt viel mehr, solchen Leuten das eigene Verhalten zu spiegeln und ihnen zu zeigen, wie schwachsinnig ihre Gedanken sind.“ Sie grinste. „Und mit dir kann man prima angeben! Leonie wird nie wieder behaupten, dass du untalentiert bist, darauf wette ich.“
„Ja, aber was ist mir dir?“, wollte Sofie wissen. „Wieso hast du nicht aufgetrumpft?“
„Da gibt es nichts zum Auftrumpfen.“ Die kleine Schwedin zuckte fröhlich mit den Schultern. „Was mich betrifft, haben sie in den meisten Punkten recht. Mein Potenzial ist gering und ich bin garantiert keine Intellektuelle. Aus mir wird nie eine große Magierin werden.“ Sie zwinkerte. „Nicht mal eine halbwegs talentierte. Und ich glaube selbst nicht daran, dass ich einen Gefährten finde. Dazu bin ich einfach zu unterdurchschnittlich.“ Sie lächelte.
Ein Rieseln und Sofie fühlte, dass Tyra das tatsächlich so meinte, wie sie es sagte. Und zwar ohne Neid, Enttäuschung oder Bitterkeit. Für sie war es in Ordnung, wie die Dinge lagen. „Unfassbar, ihre Gelassenheit. Sie nimmt es so hin!“ Bewundernd sah sie ihre Freundin an. „Trotzdem dürfen die nicht so über dich reden.“
„Blödsinn. Man muss auch mal einstecken können“, antwortete Tyra ruhig.
„Also, ich hätte die zwei zur Sau gemacht“, gab Sofie unumwunden zu. „Ich war so angefressen, dass ich um mich geschlagen hätte. Mindestens verbal!“
Tyra schaute zu Sofie auf. „Damit kannst du viel kaputt machen.“
„Ich weiß“, schnaubte Sofie. „Die hätten es aber nicht besser verdient.“
„Mag sein, doch das wird sich irgendwann rächen.“
Sofie runzelte die Stirn „Wie meinst du das?“
Tyra blieb stehen und holte tief Luft. „Es kann sein, dass ich nicht die Klügste bin. Trotzdem passe ich im Unterricht auf und eines habe ich begriffen: Sollten die Dämonen in unsere Welt einfallen, wird das kein Spaziergang. Wir alle hier spielen im selben Team. Wir dürfen uns nicht bekriegen, wir müssen zusammenhalten.“
Wieder war Tyra vollkommen ernst. Sofie bekam große Augen. „Sag das Leonie. Sie ist die typische Anführer-Läster-Zicke. Sich selbst groß machen und dabei immer schön auf der Konkurrenz rumhacken.“
Tyra lächelte. „Leonie wird schon noch dahinter kommen. Irgendwann. Aber wenn ich sie jetzt fertigmache, am besten noch vor anderen Leuten, wird sie ihre Fehler nicht mehr zugeben können, egal wie sehr ich im Recht bin. Wie sollen wir dann jemals Seite an Seite für dieselbe Sache kämpfen?
Sofie schwieg verblüfft.
„Guck nicht so entgeistert“, schmunzelte Tyra. „Ich werde Leonie nicht lieben. Doch ich werde sie respektieren. Das machen Kameraden untereinander so.“
„Du bist so krass, Tyra“, staunte Sofie. Die kleine Schwedin besaß hundert Mal mehr Größe als ihr Körpermaß erahnen ließ. Wahre Größe!
„Ach, Quatsch“, winkte Tyra ab. „Ich bin nur der Meinung, dass «Fresse halten» und «einstecken können» ebenfalls zu den Talenten zählen.“ Sie zwinkerte spitzbübisch. „Das ist purer Eigennutz, denn so habe sogar ich was vorzuweisen.“
„Alter Schwede“, murmelte Sofie anerkennend. „Kann ich auch einen Löffel von deiner Weisheit abhaben, bitte? Und wo versteckst du eigentlich deinen Heiligenschein?“
„Hör auf, mir Honig um den Bart zu schmieren!“, lachte Tyra und knuffte Sofie freundschaftlich in den Arm. „Und jetzt müssen wir zu Latein. Das liegt mir nicht. Ich sollte pünktlich sein und aufpassen, damit ich nichts verpasse.“
Nach dem Mittagessen hatte Sofie eine Empathiestunde mit Eliande. Die fand in einem der unterirdischen Labore statt. Sofie stand seufzend vor der Tür und hob zögerlich die Hand. Sie mochte den kleinen fensterlosen Raum nicht. In diesem Kabuff fühlte sie sich eingesperrt wie in einem Bunker.
„Aber Eliande hat recht. Es ist sicherer für alle, wenn ich hier unten ableite.“
Sofie gab sich einen Ruck und klopfte.
„Herein“, ertönte die melodische Stimme der Grünen.
Sofie öffnete die Tür und wollte eintreten, doch der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Sie riss fassungslos ihre Augen auf. „Entweder habe ich mich in der Tür geirrt, oder ich träume! Die komplette Rückwand des Labors fehlt!“
Statt auf eine schmucklose weißgetünchte Betonwand schaute Sofie direkt in die Weite des Marschlands.
„Aber das ist unmöglich!“, keuchte sie.
In der Mitte führte ein reetbewachsener Entwässerungsgraben kilometerweit in die Landschaft hinein. Vereinzelt standen Erlen oder Kopfweiden an seinem Ufer. Rechts vom Wasserlauf erstreckten sich mehrere Hektar mit goldgelbem Weizen. Die Ähren des Getreides waren fast reif und neigten sich schwer dem Acker entgegen. Auf der anderen Seite des Grabens war das Feld schon abgeerntet. Ein Hase hüpfte über die Stoppeln und knabberte an einem Halm. Weiter hinten ragten acht Windräder imposant in die Höhe und drehten sich vor dem wolkenlosen Sommerhimmel.
„Genauso sieht es außerhalb der Akademie aus: plattes Land, schnurgerade Gräben, Wiesen, Felder, ein paar Windmühlen und sonst nix! Karg. Keine Hügel, keine Wälder, keine Knicks.“
Sofie rieb sich die Augen. „Wie kann das sein? Sind wir denn nicht unter der Erde?“
„Doch, das sind wir.“ Eliande lächelte. „Komm herein!“
„Ähh. Ja.“ Sofie schüttelte ihre Überraschung ab und schloss die Tür hinter sich. Sie konnte ihren Blick nicht von der Landschaft abwenden. Der Hase hoppelte eine Treckerspur entlang.
„Wow!“
„Das ist eine Illusion“, erklärte die Grüne amüsiert.
„Wow!“, wiederholte Sofie. „Die sieht verdammt echt aus.“
Eliande nickte. „Ja, ein Weißer hat sie am Wochenende installiert.“
„Die ist der Hammer“, flüsterte Sofie und trat näher an die Wand heran. „Man denkt, man bräuchte nur zwei Schritte zu gehen und würde auf dem Feld stehen. So realistisch! Und dann bewegt sich auch noch alles. Heftig. Wie macht man so etwas?“
„Das ist kompliziert. Ganz habe ich den Zauber nicht verstanden, aber grundsätzlich ist es eine Spiegelung von der Welt oben. Um es weniger eintönig zu machen, hat der Drache das Bild permanent mit der Quelle verbunden. Wir werden hier unten also Jahreszeiten haben“, freute sich Eliande. „Und wenn der Weizen geerntet wird, können wir den Mähdrescher und die Traktoren sehen.“
„Wahnsinn!“, wisperte Sofie. „Es fehlt nur der Sommerduft…“
„Das meinte Hoggi auch. Er wollte es perfekt machen und war nur mit Mühe davon abzubringen, Geräusche und Geruch in die Illusion einzubinden.
Sofie griff unwillkürlich an ihre Kette. Die hatte Bill vor ein paar Monaten gemeinsam mit diesem Hoggi für sie gefertigt. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Und warum wolltest du ihn davon abbringen? Die Landluft ist herrlich frisch. Viel besser als die Autoabgase in den Städten.“
„Meistens schon“, lachte Eliande, „aber die Maschinen sind ziemlich laut. Außerdem streuen die Bauern hier mehrfach im Jahr Gülle. Die stinkt bestialisch und hält sich tagelang …“
„Ein gutes Argument“, kicherte Sofie. Sie beobachtete, wie der Hase aus dem Sichtfeld hoppelte. „Haben jetzt alle Labore so einen grandiosen Ausblick?“
„Nein, nur unseres. Der Zauber ist recht aufwendig. Er erfordert nicht gerade wenig körpereigene Astralenergie.“
Sofie hob verwundert die Augenbrauen und drehte sich zu der Grünen um. „Oh. Warum hat Hoggi ihn dann hier installiert?“
„Mir ist nicht verborgen geblieben, wie unwohl du dich letzte Woche im Labor gefühlt hast.“ Eliande lächelte ausweichend. „Du wirst hier noch viele Stunden verbringen müssen. Die Hochschulleitung teilt meine Meinung, dass wir es dir leichter machen sollten.“
In Sofies Geist rollte Leonie mit ihren Klimperaugen und stichelte: „Ach nee, bekommt der Ich-Bin-So-Geil-Phönix mal wieder eine Extrawurst gebraten?“
Ein ungutes Gefühl breitete sich in Sofies Bauch aus.
„Aber genug von der Illusion“, meinte Eliande, „mich interessiert viel mehr, wie dein erster regulärer Unterrichtstag war.“
„Ging so“, gab Sofie verdrossen zurück. Sie wollte keine Sonderbehandlung.
„Wie hat sich Bill gemacht?“
Sofie zuckte mit den Schultern. „Er hat alles gegeben.“
„Dann konntest du etwas in seinen Gedanken sehen?“
„Nein“, widersprach Sofie. „Bill war so aufgeregt und übereifrig, dass ich überhaupt nichts sehen konnte. Stattdessen hat er versucht, mir die Zauber mit Worten zu erklären, was es nicht besser machte, weil er ständig nervös zu dem Dozenten rüber geschielt hat. Ohne Bill hätte ich vermutlich mehr von «Grundlagen der Geistesmagie» mitbekommen.
„Das habe ich befürchtet“, erwiderte Eliande. „Billarius ist manchmal wie ein junger Hund. Er möchte alles gleichzeitig und vor allem alles richtig machen.“
Sofie nickte. „Mag sein, aber eigentlich liegt das Problem bei mir.“
„Er wird sich schon daran gewöhnen“, versprach die Grüne gelassen. „Ich nehme an, mit Latein und Geschichte gab es keine Probleme?“
„Nein. Das läuft wie normaler Unterricht. In Latein haben wir Herrn Pott. Er ist ein Mensch. Und in Geschichte hat der schwarze Ebarox nur ab und zu Bilder übertragen. Wenn das nicht mehr wird, komme ich klar.“
„Es wird leider mehr werden“, seufzte Eliande. „In ein bis zwei Monaten wird die Hälfte des Stoffes via Gedankenübertragung vermittelt.“
Sofie nickte steif. Leonie ging ihr nicht aus dem Sinn. „Ich bekomme tatsächlich eine Sonderbehandlung. Doch auch damit werde ich nur einen Bruchteil von dem mitkriegen, was die anderen sehen. Mit Jans Hilfe würde ich alles verstehen. Aber Jan darf keinen Fuß auf das Gelände der Akademie setzen. Bills Schemen und Erklärungen sind ein Furz gegen die klaren Bilder der Geistesübertragung. Ich bin auf mich gestellt. Friss oder stirb.“
Die Grüne lächelte zuversichtlich. „Du und Bill, ihr werdet das hinbekommen!“
„Sicher“, log Sofie. Sie hatte es satt, über diese Dinge zu reden. Es brachte ja eh nichts. Sie war anders. Immer schon gewesen. Das Positivgeschnacke ging ihr auf den Keks, also wechselte sie das Thema.
„Heute Morgen habe ich Karvin gegrillt. Und vorhin hätte ich am liebsten meine Kommilitonen geröstet.“
„Das mit Karvin habe ich bereits gehört.“ Eliande grinste. „Wir Empathen werden oft unterschätzt.“
„Von Karvin nicht mehr.“
„Nein, bestimmt nicht.“ Eliandes grüne Augen funkelten lebendig. „Wir werden an den Wochenenden einen weiteren Termin einschieben müssen, so leid es mir tut, deine Zeit mit Jan zu unterbrechen.“
„Ich weiß.“ Der Margareta in ihr war klar, dass es dazu keine Alternative gab, doch Sofie hasste diese Termine schon jetzt .
„Und was war mit deinen Kommilitonen?“, erkundigte sich die Grüne.
Sofie erzählte von Leonie und Sergio. „Es ist nicht mein Verdienst, dass ich nicht ausgerastet bin“, räumte sie abschließend ein, „sondern Tyras. Wie macht sie das? Die beiden Lästerbacken sind übelst über sie hergezogen, aber sie hat das nicht getroffen. Ich meine, geärgert hat sie sich schon irgendwie, doch die Worte haben sie nicht verletzt.“ Sofie schaute ihre Professorin fragend an. „Wie macht Tyra das bloß?“
„Sie ruht in sich.“
„Das verstehe ich nicht.“
Eliande lächelte leise. „Tyra hat eine Gabe. Sie nimmt die Dinge hin, die sie nicht ändern kann. Sie akzeptiert sie. Bei allem anderen kämpft sie wie ein Labonischer Löwe. Sie ist zäh und unnachgiebig. Darum lässt sie sich auch nicht von solchen Nebensächlichkeiten wie ihrer geringen Körpergröße oder ihrem nicht gerade üppigen Potenzial behindern. Sie verschwendet ihre Kräfte nicht, sondern setzt sie effizient zum Erreichen ihrer Ziele ein.“
„Und woher weiß sie, wann es sich zu kämpfen lohnt?“
„Das ist die elementare Frage“, stimmte die Grüne zu. „Tyra hat eine hervorragende Intuition. Genau wie du. Wir dachten, es wäre eine gute Idee, euch beiden zusammenzustecken. Vielleicht kann sie dir helfen.“
„Also wieder eine Sonderbehandlung für mich“, grummelte Sofie. „Dabei hatte ich gehofft, hier in der Steinburg eine von vielen zu sein. Einfach mal stinknormal.“
Eliande schaute sie an. Ihre grünen Augen schimmerten ruhig. „Das bist du aber nicht.“
„Wäre ich aber gern.“
„Und das ist der Unterschied zwischen dir und Tyra“, entgegnete Eliande milde. „Wir Himmelsechsen wissen, dass du anders bist. Du hast es bisher nicht leicht gehabt und du wirst es zukünftig nicht leicht haben, Sofie. Wir tragen diesem Umstand Rechnung. Wir wollen dir helfen. Und deswegen bekommst du von uns das, was du brauchst.“
Schweigen.
„Und ständig hat jemand ein Auge auf mich“, murrte Sofie griesgrämig. „Manchmal kommt mir das wie Überwachung vor.“
„Das ist es in gewisser Weise ja auch.“ Die Aura der Grünen verströmte Mitgefühl und Sanftmut. „Wir sorgen uns um dich, darum sehen wir nach dir. Wir bespitzeln dich nicht. Das ist ein Unterschied.“
Sofie spürte, dass Eliande ehrlich war. Dennoch fühlte sich die Sorge der Drachen wie ein Korsett an, das sie einengte und ihr die Luft zum Atmen nahm.