7. Das Gefäß des G'labrx‘
Rückblende – Monate zuvor:
Der Unantastbare starrte auf die verschlossene Tür seiner Kammer. Er lag auf seiner Ruhematte, es war Nacht. Eigentlich sollte er schlafen, doch er konnte nicht.
Morgen würde es wieder anstrengend werden. Das wurde es jeden Tag, seitdem er zum letzten G'labrx gerufen worden war. Mehrfach täglich stützten ihn andere Satanas und pressten ihre eigene Astralkraft in ihn hinein. Tatsächlich konnte er diese Mengen gar nicht in sich aufnehmen, aber er spürte, wie seine Meridiane sich nach und nach weiteten und sich sein Potenzial vergrößerte. Nie zuvor war er so mächtig wie heute. Und so gut genährt.
Sein Körper vergalt diese Privilegien undankbarer Weise mit Schmerz. Die Meridiane des Unantastbaren brannten fast ununterbrochen und ihm schwirrte der Kopf. Er konnte sich nicht mehr denken hören, so sehr stopften seine Lehrer ihn mit Wissen über fremdartige Zauber voll.
Lehrer. Ja, er hatte Lehrer! Er konnte es selbst kaum glauben. Ein junger Dämon wie er wurde von den Besten der Besten unterrichtet. Sie waren ungeduldig und sadistisch. Doch das Zeichen des Weltenwanderers schützte ihn vor der Wut, die seine Beschränktheit und sein Unvermögen in den Meistern hervorrief. Sie krümmten ihm kein Haar, auch wenn sie ihn am liebsten zerfleischen würden. Oder Schlimmeres.
„Wahrlich, ich bin kein guter Schüler.“
Nichtsdestotrotz zeigte die Behandlung, die der Weltenwanderer ihm angedeihen ließ, Wirkung. Neuerdings starben bei der Kontaktaufnahme mit dem Kroyork weniger Satanas – meist waren es nur noch zwei oder drei pro Sitzung – und die Gespräche zwischen dem G'labrx und dem Flüsterling dauerten länger an.
„Ja, der Gebieter ist zufrieden mit seinem Gefäß und behandelt mich pfleglich. Seinen Zorn lässt er an anderen aus, nicht, dass ich noch zerbreche…“
Es bestand für den Unantastbaren kein Zweifel: Der Herrscher war
wahnsinnig. Und zerfressen von Rachsucht.
„Die Einsamkeit hat seinen Verstand in endlosen Dekaden verätzt. Es heißt, er sei unsterblich, aber ich glaube, es ist allein der Hass, der ihn am Leben hält.“
Solche Gedanken verbarg der junge Dämon in den Kontaktsitzungen sorgfältig, dennoch wurde er den Eindruck nicht los, dass der Weltenwanderer ziemlich genau wusste, was der Unantastbare von seinem Gebieter hielt. Die spirituelle Reise in die Erdenwelt ließ die Grenzen zwischen den beteiligten Individuen aufweichen.
„Ich sehe viel.“
Er schluckte beklommen.
„Zu viel. Vor allem vom G'labrx. Sobald er das Gefäß nicht mehr benötigt, wird er es zerschlagen.“
Ruhelos rappelte er sich auf und ging ein paar Schritte durch die Kammer. Seine Hufe klapperten auf dem harten Granitboden. Das Geräusch klang irgendwie anklagend. Er sollte wirklich schlafen.
„Immerhin scheinen die Pläne des Gebieters aufzugehen, das stimmt ihn milde.“
Der Unantastbare seufzte und kroch abermals auf seine Matte.
Der Flüsterling hatte einen Menschen besetzt. Malte Rasmussen. Das war der Name des Menschen. Und zwar von seiner Geburt an bis hin zum Tode. So wurde nur er angeredet, sonst niemand.
„Absonderlich. Diese Wesen geben so ziemlich allem einen Rufnamen. Sogar niederen Kreaturen. Jedes Etwas, das eine Bedeutung im Leben der Humanoiden hat, wird mit einem individuellen Namen etikettiert. Ja, selbst Unbelebtes, wie zum Beispiel diese Automobil-Werkzeuge.“
Zumindest erschien der Malte Rasmussen dem Kroyork als geeigneter Wirt und das trotz dessen mittelmäßigen Potenzials. Der Weltenwanderer hatte dem Flüsterling nahegelegt, sich einen mächtigeren Wirt zu suchen, doch das lehnte dieser ab. Der Rasmussen sei leicht beeinflussbar und hätte ein gutes Gespür für seine Artgenossen. Er könne auch mit seinen geringen astralen Kräften seinesgleichen lenken und seine Gefolgschaft vergrößern.
„Offenbar ganz ohne Androhung von Folter und Tod. Er fügt den anderen noch nicht einmal Schmerzen zu. Ich begreife nicht, wie das
funktionieren kann.“
Der Kroyork hatte von «Vertrauen», «Freundschaft» und «Liebe» gesprochen. Der Unantastbare verstand nicht, was damit gemeint sein könnte.
„Unwichtig. Der Rasmussen ist wissbegierig und saugt die magischen Lektionen bereitwillig in sich auf. Er lernt aus freien Stücken. Das Wispern des Flüsterlings hält er für seine eigenen Gedanken oder für Eingebungen von einem unsichtbaren «Gott». Er denkt, dieser Gott sei mächtig. Wie unrecht er hat! Es ist doch bloß ein lächerlicher Flüsterling: kraftlos, machtlos, nutzlos.“
Oder war es der Unantastbare, der unrecht hatte? Unbestreitbar war, dass es dem Rasmussen gelungen war, andere Menschen um sich zu scharen. Auch sie lernten bereitwillig die Lektionen des Kroyorks.
„Und bislang hat niemand versucht, den Rasmussen zu töten und seinen Platz einzunehmen. Dabei behauptet der Flüsterling, dass einige der Gruppe stärker sind als sein Wirt … Die Humanoiden sind wirklich sonderbar.“
Sie waren schwach. Harmlos. Vielleicht war das der Grund, warum der Rasmussen aus dem Verborgenen hervortreten konnte und seit einiger Zeit seine neuen Künste ganz offen vor den Augen der Drachen praktizierte. Die Echsen wussten, was er tat, aber sie hatten keine Ahnung, wer er war.
„Oder vielmehr, wer Besitz von ihm ergriffen hat. Er ist demütig genug, ihnen aus dem Weg zu gehen.“
Es hatte lediglich ein Problem gegeben: Irgendwann war der Kroyork an die Grenzen seines Wissens gestoßen, was die Zauber betraf. Die Menschen hatten neues Geistesfutter gefordert. Das hatte den letzten G'labrx verwundert.
Müde betrachtete der Unantastbare die düsteren Wände seiner Kammer.
„Als der Weltenwanderer das letzte Mal persönlich in der Erdenwelt weilte, da verfügten die Menschen über beträchtliche Kenntnisse im Umgang mit der astralen Energie. Magie soll zu jener Zeit allgegenwärtig gewesen sein und die Humanoiden ernstzunehmende Gegner.“
Der junge Satan rollte sich erschöpft auf seinem Lager zusammen
.
„Und heute haben sie alles vergessen. Wie eigenartig. Da quillt eine Welt vor astraler Energie über und eine ganze Art verlernt, sie zu nutzen.“
Das war Vergeudung. Aber der letzte G'labrx hatte vor, sich der Menschen anzunehmen und ihnen das alte Wissen zurückzugeben.
„Und sie werden ihm diese Großzügigkeit mit Treue vergelten. Wenn es soweit ist, werden sie sich gegen die Drachen stellen und den Weltenwanderer rächen.“
Müde schloss der junge Dämon seine Augen.
„Und dann ist meine Aufgabe erledigt.“
Sein Bewusstsein driftete ab.
„Dann braucht der letzte G'labrx kein Gefäß mehr. Dann hat das Brennen in meinem Körper ein Ende.“
Mit diesem Gedanken schlief der Unantastbare endlich ein.