11. Freier Fall
„Nein!!!“, schrie Jan erstickt. Ihm stockte der Atem.
Die Mimik des Blauen ließ keinen Zweifel: Der Drache hatte seine Gefährtin gefunden.
Sofie.
„Bitte nicht Sofie“
, flehte Jan erstickt, aber Xavosch starrte nach wie vor mit entrückter Miene auf sein Mädchen.
„Nein. Nicht meine Sofie!“
Jans Inneres gefror.
Merkwürdig distanziert erinnerte er sich, dass er eigentlich damit gerechnet hatte, in diesem Moment vor Schmerz umzukommen, doch dem war nicht so. Er fühlte … nichts.
Gar nichts.
„Ich bin schon tot.“
Noch immer hatte der Blaue das selige Lächeln im Gesicht. Gleich würde er sie küssen.
„Ich habe genug gesehen.“
Schockstarr saß Jan auf der Couch. Er wollte nicht zugucken, wie die Frau, die er über alles liebte, sich an den Hals dieser Echse warf. Betäubt wandte er sich von Karvins Geist ab.
Sein Blick irrte rastlos umher. Höhnisch tickte der Sekundenzeiger der edlen Standuhr im Kreis.
Schwerfällig erkannte Jans Gehirn den Widerspruch. „Wie kann der Zeiger sich bewegen, wo doch die Welt stillsteht?!“
Watte. Alles war in Watte gepackt.
Surreal.
Unfassbar.
Nicht echt.
„Das muss ein Traum sein. Das passiert nicht wirklich. Gleich wache ich auf.“
Schwach breitete sich Hoffnung in ihm aus.
„Eigentlich ist die Uhr ganz hübsch.“
Was für ein absurder Gedanke
.
„Wo bin ich hier überhaupt?“
Orientierungslos schaute er sich um. Er wusste es nicht.
„Doch, es muss ein Traum sein.“
Eine Hand griff nach seinem Arm.
Verwundert stellte Jan fest, dass sie Karvin gehörte. Er konnte den Druck der Finger deutlich spüren.
„Nein, kein Traum. Verdammt. Sofie!!!“
Der Schwarze hatte sich zu ihm herüber gebeugt. Sein Gesicht war vor Anteilnahme verzerrt. Die Lippen bewegten sich, aber Jan hörte keinen Ton.
Stille umgab ihn. Die Welt war verstummt.
Karvins Blick war eindringlich.
„Ich muss sie freigeben“
, erinnerte Jan sich dumpf. „Das habe ich ihr versprochen.“
Sein Magen bestand aus verklumptem Eis. Ihm wurde schwindelig.
Plötzlich war Karvin direkt vor ihm und rüttelte an seiner Schulter.
Erschrocken schnappte Jan nach Luft. Das Atmen fühlte sich fremd an, so als hätte er es schon eine Weile nicht mehr getan.
„Ich habe vergessen zu atmen?“
Der Sauerstoff klärte sein Bewusstsein. Langsam schärften sich die Gedanken. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Geräusche und die Emotionen ebenfalls zurückkehrten.
„Darauf werde ich nicht warten“
, entschied Jan. „Ich darf ihr nicht im Weg stehen. Ich MUSS sie freigeben.“
Dass das unmöglich war, wusste er. Aus diesem Grund hatte er schon vor Wochen einen Entschluss gefasst. Und ihn sorgfältig vor Sofie und allen anderen verborgen. Das war einzig und allein seine Angelegenheit.
„Die Welt braucht Sofie als Gefährtin. Der Blaue ist ihre Zukunft und ich bin bloß ein hinderlicher Schatten aus ihrer Vergangenheit. Ich werde ihr Glück nicht gefährden.“
Karvin redete noch immer auf ihn ein. Er wirkte erschöpft und besorgt. Seine Worte verschwammen in Jans Ohren zu einem breiigen Rauschen.
Mühsam stemmte Jan sich vom Sofa hoch. Er konnte spüren, dass irgendwo hinter den nächsten Atemzügen der alles vernichtende Schmerz lauerte. Sobald der ihn traf, würde er nie wieder aufstehen
.
„Ich muss mich beeilen, wenn ich meinen Plan umsetzen will.“
Karvin erhob sich ebenfalls. „Was hast du vor?“
„Ich brauche frische Luft“, krächzte Jan heiser. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er taumelte.
„Natürlich, J.“ Karvin lächelte erleichtert und wollte ihn stützen.
Doch Jan schüttelte die helfenden Hände ab. „Ich muss allein sein. Gönn mir ein paar Minuten.“
Der Schwarze nickte verständnisvoll. Ihm war anzusehen, dass ihm das widerstrebte. Trotzdem ließ er sich zurück auf die Couch sinken.
Seine Augen hatte Jan noch nie so durstig gesehen.
„Er ist angeschlagen. Gut so.“
Plötzlich lärmte «Highway to Hell» durch die Suite. Jans Smartphone lag vergessen auf dem Couchtisch. Der Luftgitarrenspieler Bill blinkte auf dem Display.
Jan ignorierte sein Handy und schleppte sich zur Terrassentür. Zögernd trat er in die Nachtluft hinaus. Jetzt hieß es, Abschied zu nehmen.
„Ich liebe dich, Sofie. Das werde ich immer tun.“
Jan ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Unter ihm breiteten sich unzählige Lichter wie ein Meer aus. Selbst zu dieser frühen Stunde war Verkehr auf den Straßen. Gedämpft drangen die Geräusche der Fahrzeuge zu ihm herauf. Die Aussicht war grandios.
„Ein Hoch auf das Vermögen. Selbstverständlich steigt der WyvernPower Chef nur in den besten Hotels ab. Und immer muss es die größte Suite oder das Penthouse sein.“
Seine Finger umklammerten die Brüstung. Das Holz war glatt und warm. Es war aufwendig verarbeitet. Irgendjemand musste sich viel Arbeit damit gemacht haben. Ob derjenige seinen Job mochte?
„Was für bekloppte Gedanken hat man in so einer Situation?“
, wunderte sich Jan und sah nach unten.
Kühl analysierte sein Verstand: „Das Penthouse. Umwerfender Ausblick, große Höhe, freier Fall, tödlicher Aufprall. Das ist perfekt für mich.“
Jan hatte das hier gut durchdacht. Es gab keine Alternative.
„Manchmal muss man eben Opfer bringen.“
Mechanisch tastete er nach seinem Stirnreif
.
„Den werden sie noch brauchen. Er ist viel zu wertvoll, als dass ich riskieren darf, ihn zu beschädigen. Sie benötigen alles, was sie kriegen können, um gegen die Dämonen zu bestehen. Ich habe getan, was ich tun konnte. Jetzt bin ich bloß noch im Weg.“
Mit festem Griff hob er den Karfunkel von seiner Stirn und ließ ihn auf die Terrasse fallen.
„Tu das nicht, J!“, keuchte Karvin aus der Suite und kam schwerfällig auf die Beine.
„Oh, doch“, flüsterte Jan. „Das bin ich ihr schuldig, das bin ich der Welt schuldig und das bin ich mir schuldig.“
Dann wurde er ganz ruhig. Seine Entscheidung war richtig. Sie würde alle Beteiligten befreien und ihm Frieden geben. Entschlossen mobilisierte er seine Kräfte ein letztes Mal und hockte mit einem Satz über die Brüstung.
Kurzes Schweben.
Loslassen.
Freier Fall.
Der letzte Flug.
Ein Stockwerk zog an ihm vorüber, danach ein zweites und ein drittes. Schnell und immer schneller rasten die Etagen an ihm vorbei. Der Wind zerrte an seinen Haaren und an den Klamotten.
„Ich habe nicht vor, ohne sie zu leben.“
Er lächelte.
„Danke, Sofie, für all die Erinnerungen. Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Ich liebe dich!“
Gleich würde es vorbei sein. Jetzt durfte der Schmerz kommen.
Sofie war benommen. Die Gefühle des Blauen nahmen ihr den Atem.
„Das ist zu viel. Zu viel von allem!“
Ihr wurde übel. Sie teilte die Verbundenheit nicht. Seine Liebe hatte sie begraben und drohte sie zu ersticken.
„Er hat sich verbunden“, analysierte die Margareta in ihr.
Sofie zitterte. „Aber nicht mit mir!“
Die Zeit nahm ihren normalen Lauf wieder auf. Verwirrt blickte Sofie hinter sich. Da war niemand
.
„Mit wem hat er sich verbunden?“
Neben ihr stand Nadine und starrte sie aus großen Augen an. Sofie sah zu Xavosch auf.
„Er guckt nicht in ihre Richtung. Er schaut mich an.“
Das Lächeln des Blauen war warm und voller Zuneigung. Sofie wurde eiskalt. Ihr Magen drehte sich um.
„Er schaut MICH an!“
, hallte es durch ihre Gedanken. „MICH!!!“
Wie in Trance hob der Drache seine faltige Hand. Er wollte sie zärtlich berühren, hielt jedoch unvermittelt inne.
Es war, als wäre sein Verstand bis eben ausgeschaltet gewesen und jetzt übernahm er wieder die Kontrolle.
Xavoschs Gesicht versteinerte. Machtvoll drängte er seine ausufernden Emotionen zurück hinter die Fassade aus Unnahbarkeit und kalter Arroganz. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Seine Hand sank.
Sofie wagte es nicht, Luft zu holen. „Ist das möglich? Er will diese Bindung genauso wenig wie ich?!“
Für eine Sekunde sahen Drache und Mensch einander erleichtert an.
Sofie wollte schon aufatmen, da bemerkte sie, dass Bewegung in die Aura der Echse kam. Verzweifelt rang Xavosch um Fassung, aber die Liebe zu Sofie konnte er nicht unterdrücken. Sie war Teil von ihm und bahnte sich ihren Weg.
Der Blaue schüttelte angewidert den Kopf und zischte: „Nihil aliud nisi homuncula es!“
„Ja, ich bin ein Mensch!“
, übersetzte Sofie schockiert. Sie begriff nicht, was hier gerade passierte.
Hilflos versuchte Xavosch, seine Gefühle zu verbannen. Es gelang ihm nicht. Die Liebe war da.
„Ich will dich nicht!“, spie er ihr entgegen, doch die aufgewühlte Aura strafte seine Worte Lügen.
Sofie taumelte rückwärts. In dem Blauen braute sich ein tosender Sturm zusammen. Entsetzt beobachtete sie, wie sich das alte Gesicht des Drachen verfinsterte. Der kunstvoll gezwirbelte Bart zitterte, der Hochmut bröckelte.
Er ließ seine Dämme mit Absicht brechen.
„Du willst Liebe mit Hass bekämpfen“, flüsterte Sofie und wich weiter
zurück. Ihr Herz füllte sich mit Furcht.
„Das IST keine Liebe!“, würgte der Drache mühsam beherrscht hervor. „Als könnte ich jemals eine wie dich lieben. Deine Spezies ist der ABSCHAUM DIESES PLANETEN!“
Den letzten Teil brüllte er zornig heraus. Seine Aura bebte vor Feindseligkeit und die Konturen seiner Menschengestalt verschwammen.
„Er wird sich verwandeln!“
, durchzuckte es Sofie alarmiert.
Schreiend suchten die umstehenden Menschen das Weite.
Alle, nur nicht Sofie.
Sofie war erstarrt, gefangengenommen von hasserfüllten blaugrünen Augen.
„Und doch liebt er mich.“
Im nächsten Moment explodierte Xavoschs Aura. Sofie spürte die befreiende Aggression seiner unmittelbar bevorstehenden Verwandlung. Der Blaue genoss die brachiale Gewalt regelrecht.
„Ich bin ihm zu nah!“, merkte ihr Verstand nüchtern an. Ehe sich Bestürzung in ihr breitmachen konnte, wechselte der Drache auch körperlich in seine wahre Gestalt. Sofie wurde von einer mächtigen Echsenpranke getroffen und einige Meter nach hinten geschleudert. Hart landete sie im Kies. Der Impuls war so stark, dass sie ein Stück durch die spitzen Steinchen schlidderte. Ihre unbekleidete Haut an Armen und Beinen brannte.
Xavosch schüttelte wütend sein riesiges Haupt, so dass die Langschuppen der Halskrause klatschend um seinen Kopf herumwirbelten. Sein stromlinienförmiger Körper schimmerte perlmuttfarben in der Sonne, die glatten Schuppen reflektierten das Licht. Ungehalten stieß der Blaue sich vom Boden ab und entfaltete die Schwingen.
Wie ein drohender Schatten schwebte er einen Wimpernschlag lang über Sofie in der Luft. Er bedachte sie mit einem letzten verachtenden Blick aus seinen blaugrünen Drachenaugen, trompetete ohrenbetäubend laut und verschwand in der Nebelsphäre.
Sofie starrte paralysiert ins Nichts, ihre Gedanken waren gelähmt. Sie spürte keinen Schmerz. Betäubt blieb sie liegen.
Plötzlich war ein Roter über ihr
.
Riesige Schwingen schirmten sie vom Rest der Welt ab, der muskelbepackte Rumpf schützte ihren winzigen Körper. Stumpf glänzten die blutroten Schuppen und es roch nach heißem Kupfer. Der gigantische Kopf der Himmelsechse senkte sich zu Sofie herab. Eine lange Narbe zog sich über die rechte Gesichtshälfte. Vertraute graue Augen blickten sie eindringlich an.
„Stolz und erhaben – Gabriellosch hat wirklich was von einem Adler...“
Sofie wusste, dass die Aura des Roten ihr vor Angst das Blut in den Adern gefrieren lassen müsste, aber das tat sie nicht. Ihr Körper fühlte sich merkwürdig fremd an, als würde er gar nicht zu ihr gehören.
Weitere Rote rauschten heran und formierten sich zu einem Schutzwall um sie herum.
Gabrielloschs Blick wurde drängender, fragender.
Sofie lag noch immer am Boden. Die Farben verblassten, Geräusche wurden leiser. Benommen wisperte sie: „Falls du was von mir wissen willst, sprich laut. Gedankenrede kommt bei mir nicht an.“
Im nächsten Atemzug kniete der Kommandant in Menschengestalt neben ihr. Er betrachtete sie eingehend.
„Nicht einschlafen, furchtlose Sofie“, beschwor er sie.
„Ich doch nicht“, krächzte sie und versuchte halbherzig, sich aufzurappeln.
Ein stechender Schmerz schoss in ihr Handgelenk, ihr Arm knickte ein und schon lag sie wieder im Kies.
„Autsch.“
„Nicht aufstehen!“ Gabrielloschs Hand fixierte ihren Brustkorb unerwartet sanft am Boden. „Bleib liegen. Du bist verletzt. Die Heilerin kommt.“
Sofie stöhnte: „Ist wohl besser. Irgendwas stimmt nicht mit meiner Hand. Und wieso ist meine Haut so klebrig?“
„Die Steine haben deine Arme und Beine aufgeschürft“, erklärte der Rote. Vorsichtig nahm er seine Hand von ihrem Oberkörper. „Vermutlich ist das Handgelenk gebrochen. Der Aufprall sah heftig aus.“
Ein dumpfes Pochen breitete sich in Sofie aus. „Schürfwunden sind ätzend. Die heilen schlecht und tun eine Ewigkeit weh.“
Gabriellosch lachte leise. „Dann solltest du dir vielleicht ein paar
Schuppen zulegen.“
„Gute Idee“, murmelte sie erschöpft und schloss die Augen.
„He!“, rief der Kommandant. Behutsam berührte er sie an der Wange. „Nicht einpennen! Meine Güte, ihr Menschen seid echt nicht grade strapazierfähig.“
„Nee, das sind wir nicht“, entgegnete Sofie matt. „Eine Fehlkonstruktion, was?“
Gabriellosch grinste. „Fehlkonstruktion würde ich es nicht nennen. Ihr seid bloß nicht dafür gemacht, durch die Gegend geschnippt zu werden.“
„Danke für den Tipp. Werde ich mir für die nächste Gegenüberstellung merken.“
„DAS wollte ich von dir hören, furchtlose Sofie! Und jetzt sieh mir bitte in die Augen.“
Sofie war müde. Sie konnte kaum noch die Lider offen halten. Trotzdem gehorchte sie und lallte mit schwerer Zunge: „Ach, Kommandant, das hatten wir heute doch schon zweimal. …. Du und ich, daraus wird nichts…“
Gabriellosch lachte kopfschüttelnd. „Dein Humor ist nicht totzukriegen, was?“
Plötzlich rückten zwei der roten Drachen auseinander. Mehrere Menschen eilten durch die entstandene Gasse zu ihnen. Sofie mobilisierte ihre Kräfte noch einmal und erkannte, dass es Eliande, Victoria und – ein Rieseln – zwei weitere Grüne waren.
„Flammenhaar!“ Gabriellosch stand auf und salutierte respektvoll. „Wenn ich es richtig beurteile, hat der Phönix eine nicht lebensbedrohliche Gefäßverletzung im Bauchraum, mehrere Knochenbrüche, Prellungen und Schürfwunden. Außerdem leidet sie an einem astralen Überlastungsschock.“
„Ich habe nicht gezaubert“, murmelte Sofie mit geschlossenen Augen. Sie spürte die sanften Hände einer Grünen an ihren Schläfen. Ein kaum wahrnehmbares Flattern glitt durch Sofies Körper.
„Die Diagnose des Kommandanten ist korrekt“, bestätigte die freundliche Stimme der Heilerin.
„Gut. Dann habe ich ja ‘ne Minute“, stellte eine emotionslose Stimme fest. „Kannst du sie noch wachhalten? Ich muss mit ihr reden.
“
„Victoria.“
„Sie wird Schmerzen haben. Also wirklich nur kurz“, forderte die Grüne.
„Selbstverständlich“, stimmte die Königin der Schwarzen zu und dabei schwang eine Spur Mitgefühl mit.
Die Grüne seufzte. Gleich darauf wurde das Flattern zu einem elektrisierenden Kribbeln und scheuchte Sofies Lebensgeister auf. Das Pochen nahm zu. Es wurde stärker, schwoll an zu einem unangenehmen Ziehen und Brennen.
Gequält stöhnte Sofie auf und öffnete die Augen. „Was gibt es denn?“
Victoria kniete sich neben sie. „Es tut mir leid, dass ich dir das antun muss.“ Ihre Anteilnahme war echt. „Xavosch hat sich mit dir verbunden.“
„Ach, echt?“, zischte Sofie ironisch. Die Schmerzen wurden stärker.
„Ja.“ Victoria berührte ihre Wange und fremde Astralkraft durchrieselte Sofies Meridiane.
Ihre Arme und Beine brannten und das Handgelenk pochte wie verrückt.
„Arg!“, knurrte Sofie hinter zusammengebissenen Zähnen. Die Schmerzen stachelten sie auf. „Liebe auf den ersten Blick habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.“
„Das sollte sie auch sein“, stimmte Victoria nachsichtig zu. „Ich kann dir nicht sagen, was schiefgegangen ist, aber ich muss wissen, was mit dir ist.“
„Mit mir?“, schnaubte Sofie gereizt. Das Pochen wurde zu einem Stechen und machte sie irre. „Ich liege hier im Kies, verdammt!“
Die zweite Grüne machte sich an ihrem Handgelenk zu schaffen. Das Stechen ebbte etwas ab.
Victoria fixierte Sofie mit ihrem Blick. „Hast DU DICH mit ihm verbunden?“
„Ich? Nein!“, ächzte Sofie. Ihre Arme und Beine brannten jetzt wie Feuer.
„Bist du ganz sicher?“
„JA! Kein Himmel voller Geigen. Kein Kribbeln im Bauch – bloß so ‘ne bescheuerte Drachenpranke! Vielen Dank auch!“
In Victorias Gesicht spiegelten sich Zweifel
.
„Sie glaubt mir nicht!“
Wut braute sich in Sofie zusammen.
„Warum geht immer bei mir was schief? Warum bin immer ich anders? Und warum muss das hier so verflixt wehtun? Ich will zu Jan!“
Am liebsten wollte sie um sich schlagen, aber das machte ihr Körper nicht mit.
Die Königin ließ nicht locker: „Du hast gezaubert. Welche Magie hast du gewirkt?“
Sofie konnte kaum noch klar denken. Sie fühlte sich wie zwischen Hammer und Amboss.
„Ich habe NICHT gezaubert!“, brüllte sie zornig. Zum Beweis wollte sie Victoria einen vor den Latz ballern, doch sie musste feststellen, dass ihre körpereigenen Depots nahezu erschöpft waren.
„Bei der Sphäre! Ich habe tatsächlich gezaubert…“
„Das genügt“, mischte sich Eliande mit strenger Stimme ein. „Alle weiteren Fragen müssen bis nach dem Heilschlaf warten!“
Victoria seufzte tief. „Also gut. Es tut mir leid, Sofie. Gute Besserung.“ Sie nickte ihr noch einmal zu und richtete sich auf.
Plötzlich bewegten sich dünne, in blassen Pastellfarben leuchtende Fäden an Sofies Gesicht vorbei. Sie waren strahlend hell und von einer Schönheit – so etwas hatte Sofie noch nicht gesehen. Die schillernden Fäden berührten sanft schwingend ihren Menschenkörper und sprühten dabei glitzernde Funken.
Der Kontakt der zarten Fäden kühlte Sofies geschundene Haut auf angenehme Weise. Sie konnte spüren, wie sich die Schürfwunden langsam schlossen. Die Schmerzen ebbten ab. Dankbar atmete sie auf. Mit jedem Herzschlag fühlte sie sich leichter.
„Ich kann nicht sagen, was ich gezaubert habe“, murmelte sie starrköpfig. „Ich habe da nichts bewusst gemacht.“
Die wohlige Leichtigkeit ging in eine bleierne Müdigkeit über und diesmal kämpfte Sofie nicht dagegen an. Erlöst schloss sie die Augen. Zwei funkelnde Saphire strahlten ihr entgegen.
„Jan!“, wisperte sie matt. Ihr Gehirn gaukelte Minze und einen Hauch Aftershave vor. Es war, als würde ihr Liebster direkt vor ihr stehen. Lächelnd streckte sie ihre Hand nach ihm aus.
„Ich habe mich nicht verbunden. Bitte nimm mich mit nach Hause, ja?
Ich liebe dich so …“
Ihre Stimme versagte den Dienst und dann raubte der Heilschlaf Sofies Bewusstsein.
Allein und verloren lag ihr regungsloser Körper im hellen Kies der Arena. Drei Grüne, ein Kommandant und die frustrierte Königin der Schwarzen knieten neben ihr, geschützt durch einen Ring aus Drachenkriegern. Matt rot und glänzend zugleich leuchteten deren Schuppen in der Sonne wie frischvergossenes Blut im Schnee.
„Scheiße!“, fauchte Karvin und ließ sich zurück auf die Couch fallen. Er war definitiv zu ausgelaugt, um Jan noch vor dem Aufprall abfangen zu können.
Das Hotel war das höchste, was er in Washington hatte finden können. Doch auch hier dauerte der freie Fall bis zum Boden keine fünf Sekunden.
„Ich hatte schon beim Buchen ein mieses Gefühl. Aber es GIBT in dieser Stadt keine Wolkenkratzer. Beschissene Baugesetze…“
Erschöpft fuhr er sich mit der Hand über die Augen. Er hasste es, wenn er die Kontrolle über eine Situation verlor.
„Hätte ich geahnt, dass es gleich beim ersten Mal passiert, hätte ich die Bilder nicht übertragen. Mist!“
Frustriert schlug er mit der Faust aufs Sofa.
„Ich hätte es wissen müssen! Das ist mein Job. Doch ich habe mich von der Hoffnung des Karfunkels anstecken lassen. Naiv wie ein Frischgeschlüpfter! Pah! Dabei sprechen die Statistiken eine andere Sprache. Verdammt. Freundschaft macht blind.“
Auf der großzügigen Terrasse erschien die Aura einer grünen Himmelsechse. Sie landete vorsichtig, Jans Körper hing schlaff in ihren Vorderpranken. Die Grüne seufzte bedrückt. „Ich hätte nicht gedacht, dass er wirklich springt.“
„Ich schon, Narla“, brummte Karvin, „ich schon. Darum habe ich dich ja angefordert.“
Die Grüne verwandelte sich in ihre Menschengestalt. „Der Tod ist so sinnlos.“ Kopfschüttelnd trug sie Jans leblose Gestalt in die Suite und legte ihn behutsam neben Karvin auf die Couch
.
„Nicht für ihn“, widersprach der Schwarze leise. „J hat sich viel Mühe gegeben, seine Gedanken zu verbergen, aber ich kenne ihn gut. Ich weiß, wann ihn etwas belastet. Ich habe gesehen, was Sofie ihm bedeutet. Darum war mir klar, wonach ich suchen musste… und auch, dass dieser dickschädelige norddeutsche Fischkopp tatsächlich springen würde.“
„Dein Distanzierungszauber war mächtig. Der Karfunkel kann ihren Verlust nicht gespürt haben“, wandte Narla ein. Sie ging zum Kühlschrank, holte eine kleine Tasche heraus und warf sie dem Schwarzen zu. „Du hast dich mit dem Zauber und dem Langstreckensenden völlig verausgabt.“
Karvin fing das Täschchen auf. „Ja, das war dumm von mir.“
Schweigen.
„Ach, wie auch immer“, ächzte Karvin. Er zog den Reißverschluss auf und holte einen Venenstauer sowie eine bereits aufgezogene Spritze heraus. In ihr schimmerte eine bräunliche Flüssigkeit. „Ich wäre dieses Risiko nicht eingegangen, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, dass du im Stockwerk über uns am offenen Fenster stehst – jederzeit zum Sprung bereit.“
„Ich mag Sturzflüge trotzdem nicht“, entgegnete die Grüne leicht gereizt. Sie beobachtete, wie der Schwarze den rechten Ärmel seines Schlafanzugs hochschob und das Blut mit dem Venenschlauch staute.
„Ich weiß“, murmelte Karvin und richtete die Spritze auf. Er drückte die Luftbläschen aus dem Kolben, bis ein Tropfen der dunklen Flüssigkeit an der Nadelspitze glitzerte. Der intensive Duft von Zimt breitete sich in der Suite aus.
„Außerdem ist das Gebäude für solche Aktionen zu niedrig“, fuhr Narla fort. „Es war ziemlich knapp. Hätte ich dieses Manöver nicht trainiert, hätte ich ihn vermutlich nicht beim ersten Anlauf aus der Luft fischen können.“
Der Schwarze antwortete nicht, sondern stach die Nadel in seine Vene, lockerte den Stauer mit den Zähnen und presste dann langsam die braune Flüssigkeit in sein Blut.
„Der Karfunkel wollte nicht gerettet werden“, meinte Narla anklagend. „Er hat gezappelt wie ein Aal. Er WOLLTE sterben.“
„Das war mir klar.“ Karvin zog die Spritze aus seinem Arm. „Ich hab
doch gesagt, dass J stur ist. Darum solltest du ihn vor dem Ergreifen schlafen legen.“
„Ja, ja, sehe ich ein.“ Narla schnaubte missmutig und hängte einen Beutel Jogi-Tee in eine der edlen Porzellantassen auf der Anrichte. Anschließend ließ sie heißes Wasser aus dem Samowar hinein fließen. „Nächstes Mal fackel ich nicht lange. Obwohl es gegen meine Überzeugung geht, anderen Wesen meinen Willen aufzuzwingen.“
„Gut“, brummte Karvin. Er warf Stauschlauch und Spritze auf den Couchtisch und ließ sich mit geschlossenen Augen gegen die Rückenlehne des Sofas sinken. Als die Wirkung der Injektion einsetzte, atmete er erleichtert auf. „Zimtextrakt intravenös – was für eine göttliche Erfindung. Das Zeug taugt nicht nur für Menschen.“
Narla runzelte die Stirn. „Sag mal, hast du tatsächlich fast deine ganze körpereigene Astralkraft verbraucht?“
„Ich denke schon.“
„Aber das ist fahrlässig!“ Die Grüne schüttelte vorwurfsvoll ihren Kopf.
„Ist mir klar.“
„Wo bleibt da das Pflichtbewusstsein?“ Verwunderung huschte über Narlas Gesicht. „Und überhaupt! Warum musst du dich nicht verwandeln?“
„Training und Disziplin“, antwortete Karvin knapp. „Ich war einer von Abrexars Assistenten. Die Spinne, wie er damals genannt wurde, hat gesteigerten Wert darauf gelegt, dass wir in jeder Situation unerkannt bleiben.“
„Die Spinne?“, echote Narla überrascht. „Du meinst den Grauen Krieger!“
„Nenn ihn, wie du willst. Ihm waren die Namen gleichgültig. Wichtig war, dass niemand den Humanoiden gegenüber seine wahre Identität preisgab und so die Ziele gefährdete. Abrexar war Meister der Disziplin und Selbstbeherrschung. Diese Tugenden verlangte er auch von uns. Er hat viel Energie darauf verwendet, dass wir uns weiterentwickeln.“
Jans Smartphone vibrierte neben der leeren Spritze. «Highway to Hell» ließ den Luftgitarrenspieler auf dem Display tanzen.
„Als hätten wir hier nicht genug Probleme. Manchmal weiß Bill echt nicht, wann es genug ist.“ Verärgert griff Karvin nach dem Gerät und
wies den Anruf ab.
„Warum bist du dieses Risiko eingegangen?“, wollte Narla wissen.
„Du meinst, warum ich die Bilder an J übertragen habe?“
„Nein. Das nicht. Er musste sie sehen, um es wirklich zu verstehen.“ Die Grüne stellte die Tasse mit dem Jogi-Tee vor dem Schwarzen ab und schaute ihn aufmerksam an. „Aber ich begreife nicht, warum du den Karfunkel hast springen lassen. Das hätte schiefgehen können.“
„Ich weiß.“ Karvin legte das Handy achtlos zurück auf den Tisch und schöpfte Atem. „Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.“
Narlas Blick wurde bohrend. „Warum HAST du es getan? Warum hast du ihn allein auf die Terrasse gehen lassen?“
Karvin fuhr sich erschöpft mit der Hand über die Augen. „Ich wollte ihm die Chance geben, sich fürs Weiterleben zu entscheiden. Wäre er nicht gesprungen, wäre es für ihn in den nächsten Wochen bedeutend leichter geworden. Und für mich auch. Aber so…“
Schweigen. Jan stöhnte leise.
Karvin hob hilflos seine Achseln. „Vielleicht hätte ich den Distanzierungszauber nicht wirken dürfen. Dann hätte er womöglich Angst vor der Höhe gehabt.“
Narla legte dem Drachen mitfühlend die Hand auf die Schulter. „Dein Zauber brach im Augenblick seines Sprungs ab. Der Karfunkel hatte keine Angst vor der Höhe und auch nicht vor seinem eigenen Tod. Sein Herz war gefüllt mit der Liebe zu Sofie und dem Schmerz, ohne sie leben zu müssen. Das war ihm unerträglich. Ich habe nie eine größere Seelenqual bei einem Menschen gespürt.“
Karvin betrachtete Jan bedrückt. Langsam kam wieder Leben in seinen Freund. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er das Bewusstsein zurückerlangte.
„Er wird mich hassen.“
Die Grüne nickte sanft. „Wahrscheinlich. Trotzdem sollten wir ihn nicht noch einmal schlafen legen. Je öfter wir das tun, desto unwirklicher erscheint ihm die Realität.“
Abermals zappelte das Smartphone auf dem Tisch zu «Highway to Hell».
„Nicht jetzt!“, rief Karvin und pfefferte das Gerät mit plötzlich
aufwallendem Zorn gegen die nächste Wand. Der Aufprall war heftig. Das Gerät zerschellte und hinterließ einen kleinen Krater im Putz.
Narla schaute den schwarzen Drachen betroffen an, blieb jedoch still. Was sollte sie auch sagen?
Hilflos drückte Karvin die Hand seines Freundes. „Warum ist die Lebensspanne von euch Menschen bloß so kurz? Ihr verliert euch regelrecht im Hier und Jetzt! Nur aus diesem Grund kann euch ein Verlust so übermannen!“
Tiefes Mitgefühl zeigte sich in seiner Miene und er seufzte: „Ach, J, ich wünschte, du könntest erkennen, dass das Gefühl, sterben zu wollen, eine Momentaufnahme ist und nicht von Dauer. Der Tod hingegen ist endgültig. Heute mag dir die Situation ausweglos erscheinen, aber du weißt nicht, was morgen ist. Du weißt nicht, welche Wunder du noch sehen, wen du kennen- oder lieben lernen wirst. Bringst du dich heute um, so nimmst du dir jede Chance, das Glück von morgen zu erleben. Dein Schmerz wird nicht ewig andauern, mein Freund. … Ich wünschte wirklich, ich könnte dir das begreiflich machen.“
Schweigen. Jans Lippen bewegten sich stumm.
Karvin lächelte schief und sah zur Grünen auf. „Sollte ich es wagen, ihm das bei Bewusstsein zu sagen, wird er mich eigenhändig erwürgen und sich dann ein zweites Mal vom Balkon stürzen.“
Narla grinste.
„Ja, das würde ich“, wisperte eine schwache Stimme von der Couch. „Verräter! Alle beide!“
Jan schlug die Augen auf und starrte gegen die aufwendig gearbeitete Zimmerdecke. Hier lag er, in der teuersten Suite der Stadt, körperlich unversehrt und fühlte sich doch bis zur Unkenntlichkeit verkrüppelt. Er wollte sterben, allen Rettungsaktionen zum Trotz.
„J, ich…“ Karvins Stimme geriet ins Stocken.
Das besorgte Gesicht des Schwarzen schob sich in sein Sichtfeld.
Jan schloss die Augen und drehte sich weg. Ungebeten stiegen Erinnerungen in ihm auf. Bilder von dem aufgeblasenen blauen Sugar Daddy. Den Moment, als dessen herablassendes Gesicht plötzlich zu leuchten begonnen hatte, würde Jan nie vergessen. Der albern gezwirbelte
Backenbart hatte erregt zu zittern begonnen und seine Miene war zärtlich geworden.
„Und all das nur, weil er Sofie in die Augen geblickt hat. MEINER Sofie!“
Jan öffnete gequält die Augen. „Karvin hatte recht, die Bilder haben sich eingebrannt. Die werde ich nie wieder los.“
Er schluckte. Beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, dass sich SEINE Sofie in diesen absurden Heini verliebt hatte.
„Und doch ist es so. Der Blaue hat sich mit ihr verbunden. Daran gibt es keinen Zweifel. Ich habe es selbst gesehen. Sie gehört jetzt zu ihm. Ich bin über.“
Vor seinem geistigen Auge griff eine widerlich alte Hand nach Sofies grazilen Fingern und zog sie zu sich heran. Faltige Lippen hauchten Küsse auf die Sommersprossen, die Jan so vergötterte.
Tränen traten in seine Augen. Ihm wurde übel. Er schaute Karvin vorwurfsvoll an und wisperte: „Warum tust du mir das an? Ich dachte, wir wären Freunde.“
„Es tut mir leid, J“, entschuldigte der Drache sich. Für eine Sekunde huschte sein Blick hilfesuchend zu Narla. „Ich hätte die Bilder nicht übertragen dürfen.“
„Die Bilder sind nicht das Problem“, widersprach Jan und richtete sich auf. „Ich…“
Plötzlich spürte er, wie sich in seinem Nacken leises Glück anschlich und klebrig süß seine Eingeweide zukleisterte. Erbost sprang er auf und drehte sich zur Grünen um.
„Hör auf damit, Narla!“, zischte er. „Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand mein Inneres manipuliert. Meine Emotionen gehören mir. Auch die schlechten.“
Erschrocken hob die Grüne ihre Hände. „Entschuldige. Ich wollte bloß helfen. Dann eben nicht.“
Das falsche Glück verflüchtigte sich und hinterließ in Jan eine schwarze Wüste aus Verlust und Sehnsucht. Ihm war, als hätte jemand sein halbes Herz herausgeschnitten. Noch immer konnte er kaum glauben, dass Sofie einen anderen liebte. Das fühlte sich so falsch an. Trauer umklammerte den kümmerlichen Rest seines Herzens. Mit einer morbiden Zufriedenheit lächelte Jan
.
„So ist es besser. Nun passen meine Gefühle wieder zu meinem Leben.“
Gequält sah er auf und klagte Karvin an: „Warum hast du mich nicht springen lassen?“
„Ich HABE dich springen lassen“, korrigierte der Schwarze düster. „Aber ich sehe ein, dass es eine beschissene Idee war.“
„Oh ja!“, wisperte Jan. „Es war eine beschissene Idee, Narla hinterher zu jagen. Habe ich kein Recht, SELBST über mein Leben zu bestimmen?!“
„Über dein Leben schon“, gab Karvin zurück, „aber nicht über deinen Tod. Das konnte ich nicht zulassen.“
„Warum?!“, rief Jan verzweifelt. „Es ist MEIN Leben und damit auch mein Tod! Ich will nicht ohne Sofie sein!“
In diesem Moment wurde Jan klar, dass er gelogen hatte. Er hatte sich in den letzten Wochen eingeredet, er würde den Selbstmord für Sofie begehen, damit sie frei war für ihren Gefährten. Sie und ihr Neuer würden die Schlagkraft der Drachen verstärken und damit zur Rettung des Planeten vor den Dämonen beitragen. Er hatte geglaubt, sein Tod wäre ein Geschenk an die Welt. Doch das stimmte nicht.
Jan keuchte, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen.
„Ich habe es nur für mich getan! Ich bin egoistisch. Ich bin feige. Ich will nicht sehen, wie Sofie mit einem anderen glücklich ist.“
Er ballte die Fäuste.
„Und noch viel weniger will ich gute Miene zu diesem perfiden Spiel machen. Ich WILL NICHT vorgeben, dass ich mich für die beiden freue. Denn das tue ich nicht!
Ich liebe Sofie, ja! Aber ich verabscheue dieses blaue Arschloch. Ich HASSE Xavosch! Und ich will ums Verrecken nicht vorheucheln, ich würde die Verbindung der beiden akzeptieren!“
Karvin berührte ihn mitfühlend an der Schulter. „Deine Wut ist verständlich. Niemand macht dir einen Vorwurf.“
„Verdammt!“
, durchzuckte es Jan. „Ich kann meine Gedanken nicht abschirmen. Ich bin nackt. Ich brauche den Karfunkel.“
„Narla bringt ihn dir“, antwortete der Schwarze verständnisvoll. „Du machst eine schwere Zeit durch, J. Gib nicht auf. Wir brauchen dich.“
„DAS ist gequirlte Scheiße“, fauchte Jan und befreite sich von Karvins
Hand. „Mich braucht niemand! Ihr habt in den letzten Jahren diverse Magier ausgebildet, die für meinen Job zehnmal besser qualifiziert sind als ich. Ich bin sowas von ersetzbar.“
„Keiner von denen hat dein Gespür für Menschen“, beharrte der Drache.
Narla kam mit dem Stirnreif und reichte ihn Jan.
Er griff danach, doch dann zögerte er. „Wenn ich ihn jetzt aufsetze, ist es, als würde ich zustimmen, dass ich weitermachen muss.“
„Durch das Sichern deiner Privatsphäre verpflichtest du dich zu nichts“, widersprach Karvin aufmunternd.
Jans Augen wurden schmal. „Du willst mich einlullen.“
Der Drache schüttelte den Kopf. „Mit «einlullen» hat das nichts zu tun. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass du wieder glücklich sein wirst. Nicht heute und nicht morgen, aber irgendwann. Ich bin dein Freund, J. Ich lasse nicht zu, dass du dein Leben wegwirfst, nur weil es grade schwierig ist. Ich werde dir helfen.“
„Dann lass mich gehen“, grollte Jan und setzte den Stirnreif auf. Sobald der violette Edelstein seine Stirn berührte, schirmte er seine Gedanken ab. „Ich vermisse sie mit jedem Atemzug. Warum musste es ausgerechnet dieser Widerling Xavosch sein?!“
„Ich werde dir helfen“, wiederholte Karvin mitfühlend. „Gemeinsam schaffen wir das.“
„Wie willst du mir denn helfen?“, zischte Jan verächtlich. Er wusste, dass er ungerecht war, doch das war ihm egal. „Du hast nie geliebt, Karvin. Nicht wie ich. Du weißt gar nicht, worüber ich rede! Ich will Sofie. Der Rest der Welt kann mich mal.“
„Mag sein“, entgegnete der Drache geduldig. „Aber du bist dem Rest der Welt nicht egal. Ich stehe nicht allein.“ Er grinste schief. „Meine Königin würde mir eigenhändig jede einzelne Schuppe ausrupfen, wenn ich zuließe, dass du dein Leben beendest.“
„Victoria?“ Jan rollte mit den Augen. „War ja klar. Ihr Schwarzen tanzt alle nach ihrer Pfeife.“
„Sie ist die Gefährtin unseres Königs“, antwortete der Drache gelassen.
Ein Teil von Jan erkannte, dass Karvin ihm bewusst eine Vorlage anbot, um seine Wut rauszulassen. Der Rest von ihm wollte einfach bloß um
sich schlagen.
„Victoria mischt sich ständig bei mir ein“, giftete Jan. „Auch wenn sie hundertmal meine Mitbewohnerin war, soll sie gefälligst bei ihrer Politik bleiben und sich aus meinem Privatleben raushalten! Dazu hat sie kein Recht!“ So langsam sickerte der Verlust seiner Liebe in sein Herz. Ihm wurde kalt. „Und trotzdem macht Vici es immer wieder. Was ist das für eine Freundin, wenn sie darüber bestimmt, WEN ICH LIEBEN DARF?“
Die letzten Worte brüllte er.
„Ja, das ist nicht fair“, stimmte Karvin sanft zu.
Jan schluckte. Victoria WAR seine Freundin. Noch immer. Irgendwie. Seine Wut verrauchte. Umso schlimmer wog die Tatsache, dass sie sich gegen ihn gestellt hatte. Sein Hals wurde eng vor Enttäuschung. „Wie konnte Vici von uns verlangen, dass Sofie an den Gegenüberstellungen teilnimmt?!“, wisperte Jan erstickt. „Sie weiß, wie sehr wir uns lieben. So etwas tun Freunde ihren Freunden nicht an.“
„Victoria Abendrot trägt eine große Verantwortung“, gab Karvin zu bedenken. „Sie hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, das weiß ich. Sie IST deine Freundin. Sie wünscht sich nur das Beste für dich, J. Sie möchte, dass du glücklich bist.“
„Dann hätte sie mir Sofie lassen sollen. Sie ist alles, was ich je gewollt habe.“
Eine tiefe Sehnsucht füllte Jan bis zur letzten Faser aus. Er würde sie nie wieder in seinen Armen halten können. Nie wieder sein Gesicht in ihren wilden Locken vergraben. Nie wieder mit ihr lachen. Seine Miene versteinerte. „Ich will das nicht mehr ertragen. Ich habe hier nichts mehr zu suchen.“
Karvin schloss für einen winzigen Moment resigniert seine Augen. Als er sie wieder öffnete, schimmerten Entschlossenheit und Bedauern darin. „Du sagst, dass du Sofie liebst, doch hast du vor dem Sprung auch nur eine Sekunde an sie gedacht? Daran, was es mit ihr macht, wenn du dich umbringst?“
„Sie hat einen Gefährten. Was braucht sie mich da noch? Sie hätte nur Mitleid mit mir“, würgte Jan hervor. Er konnte spürten, das Karvin zum großen Schlag ausholte. „Ich will aber kein Mitleid. Meine Existenz würde nur ihre Bindung belasten.
“
Wieder flackerte Xavoschs selig lächelndes Altherrengesicht durch seinen Geist. „Wie kann sie ihn lieben?“
Zorn und Hilflosigkeit malträtierten die Überreste von seinem Herzen.
„Du hast der Kommandantin der Wölfe nicht richtig zugehört“, korrigierte Karvin kühl. „Es ist nicht deine Existenz, welche die Bindung belastet, sondern es sind ihre Gefühle für dich. Glaubst du wirklich, die verändern sich, wenn du dich ohne Abschied in den Tod stürzt?“
Jan erstarrte. Eine diffuse Schuld verklumpte in seinem Magen zu Eis.
Karvins Blick war anklagend. „Du hast dich schon vor Wochen so sehr in deinen Ängsten verstrickt, dass du nicht mehr klar denken kannst. Was glaubst du, wie es ihr gehen würde, wenn sie deinen vom Aufprall entstellten Körper sehen müsste?“ Er sendete ein Schlaglicht davon an Jan. „Gefährte hin oder her, sag mir, wie es Sofie gehen würde, wenn sie dich zu Grabe tragen müsste.“ Ein zweites Schlaglicht folgte: Trauerzug mit einer am Boden zerstörten Sofie vorweg.
„Ihre Liebe zu mir wird nicht erlöschen, die zum Gefährten wird nur stärker sein“
, erinnerte Jan sich zitternd.
„Sie könnte dir keine Fragen mehr stellen über das Warum“, fuhr der Drache erbarmungslos fort. „Bei wem würde sie die Schuld für deinen Tod suchen, J?“
Jan konnte nichts sagen. Dazu war er viel zu bestürzt. Stumme Tränen liefen über seine Wangen.
„Na los“, forderte Karvin kalt. „Sprich es aus. Du kennst die Antwort.“
Schweigen.
„Bei der Sphäre! Was habe ich ihr angetan?!“
Ein Schluchzen brach aus Jan heraus.
„Was für eine Hypothek hättest du deiner Liebsten aufgebürdet?“ Der Drache schüttelte seinen Kopf. „Wie soll Sofie das ertragen?“
„Karvin hat recht!“
Jan brach in die Knie. Das Wasser lief ihm ungehemmt über die Wangen.
„Was habe ich getan?!“
Er wollte fliehen, doch nun, da der Schwarze ihm die Augen geöffnet hatte, war ihm der letzte Ausweg versperrt. Er konnte sich nicht mehr umbringen. Nicht, ohne die Frau zu zerstören, die er über alles liebte. Er würde weiterleben müssen, bis das Schicksal ihn gnädigerweise erlöste
.
„Wie soll ich das aushalten?“
Karvin kniete sich zu ihm auf den Boden. „Es tut mir leid, Kumpel“, flüsterte er. Jede Härte war aus seiner Stimme gewichen. „So leid!“
Jan sah zu ihm auf.
In den Augen des Schwarzen schimmerten ebenfalls Tränen. „Gerade an diesem Tag wollte ich dich hiervon verschonen, aber mir blieb keine Wahl. Ich muss sicherstellen, dass du kein zweites Mal springst.“
Jan nickte matt. Er hatte aufgegeben.
Karvin berührte mitfühlend die Schulter seines Freundes. Jan konnte das schlechte Gewissen des Drachen spüren.
„Es reicht für heute“, wisperte der Schwarze und richtete sich auf. „Wir gönnen dir Zeit zum Luftholen. Na los, Narla. Pump ihn mit Glück voll.“
„Nein“, protestierte Jan schwach. Er wollte sich in seiner Trübsal wälzen.
Die Grüne zögerte. „Gegen seinen Willen?“
„Tu es!“, befahl Karvin gereizt. „Fürs Erste haben wir genug gelitten. J braucht eine Pause … und ich auch.“ Erschöpft wischte er sich mit der Hand über die Augen. „Wenn wir ihn in den nächsten Tagen in seinem Unglück baden lassen, kommt er nie wieder auf die Füße. Wie soll er so dem Phönix unter die Augen treten?“
Narla seufzte und schaute Jan mitleidig an.
Im nächsten Moment gluckste eine kribbelige Freude durch seine Adern und überdeckte Trauer und Schmerz. Er wollte weinen, doch stattdessen kicherte er berauscht: „Was für eine herrlich beschissene Nacht.“
Auf allen Vieren krabbelte er zum Sofa und meinte zu Karvin: „Darauf sollten wir einen trinken, «Freund»!“
Der Schwarze nickte ergeben und wendete sich zur Bar, als er plötzlich erstarrte und sein Blick abwesend glänzte. Jemand nahm via Langstreckensenden Kontakt zu ihm auf.
„Warum bei der Sphäre geht J nicht an sein Handy?“
, verlangte Jaromir zu wissen.
Karvins Blick huschte zu den Elektronikbröseln, die auf dem edlen Teppich unter dem Krater an der Wand versprengt waren, und dann zu Jan. Der lag von einer Endorphinschwemme beduselt auf der Couch und
grinste im Kreis.
„J hat sich hingelegt“,
druckste Karvin herum.
„Er sich, oder du ihn?“
, drängte sich Victoria in die Geistesverbindung.
Sie war misstrauisch, stellte Karvin fest. Das war sie irgendwie immer. Was sollte er sagen? Wie kam er aus der Nummer raus?
„Was ist da bei euch los?“
, hakte seine Königin nach. „Und jetzt behaupte nicht, es sei nichts. Ich KENNE J. Wenn er die Bilder von Xavosch gesehen hat, ist er durchgedreht. Also, was ist mit ihm?“
Das Versteckspiel machte keinen Sinn. Flammenhaar würde die Wahrheit ohnehin erfahren. Karvin seufzte tief. „Er ist von der Terrasse gesprungen, aber Narla…“
„WAAAS????“
, Victorias Gedankenstimme kippte über.
Karvin wollte erneut zu einer Erklärung ansetzen, doch da bemerkte er, dass die Gedankenverbindung zu seinem König abgebrochen worden war.
„Scheiße!“
Zwei Atemzüge später landete ein schwarzer Drache auf der besagten Terrasse. Es war Jaromir und eine sehr aufgebrachte Victoria ließ sich aus seiner Nackenfalte zu Boden gleiten, kaum dass die Krallen des Drachen die eleganten Fliesen berührt hatten.
„Oh, oh“, wisperte Narla und trat ein paar Meter zurück. „Die ist sauer!“
Victoria stürzte in die Suite. „Wo ist J?! Wie konnte das passieren?“
Karvin holte Luft und stellte sich seiner Königin. Er wusste, dass Victoria jedem Wesen in die Gedanken schauen konnte, egal ob die abgeschirmt waren oder nicht. Diese Fähigkeit war ein gut gehütetes Geheimnis.
„Nur beim Phönix kann sie nichts sehen. Ich hingegen kann mir meine Worte getrost sparen“
, dachte er abgekämpft. Um Victoria gegenüber der Grünen nicht zu verraten, öffnete er seinen Geist und ließ Erinnerungen in sich aufsteigen.
„Ich habe gleich gewusst, dass es ein Fehler war, J die Bilder sehen zu lassen“, regte Victoria sich auf. „Kein Wunder, dass er außer sich war! Aber DU“, sie tippte Karvin vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger auf die Brust, „du solltest auf ihn aufpassen! Wie konntest du ihn nur springen
lassen?! Was, wenn das schiefgegangen wäre? Was, wenn er…?“
Tränen traten in Victorias Augen. Abrupt drehte sie sich weg.
Jaromir umfasste sanft ihre Schultern. „Wäre J heute nicht gesprungen, hätte er es an einem anderen Tag gemacht. Karvins Entscheidung war richtig – so war das Risiko unter Kontrolle. Wir können J nicht einsperren.“
Victoria wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort und lächelte ihren Gefährten dankbar an. „Ja, das können wir nicht.“
Die tiefe Verbundenheit zwischen den beiden war für jeden im Raum sichtbar.
Schließlich atmete Victoria durch und kniete sich neben Jan. Sie griff nach seiner Hand. „Es quält mich, dass du so verzweifelt gewesen bist. Das habe ich nie gewollt. Es tut mir so leid, J.“
Jan blinzelte mühsam und lallte: „Mir auch, Prinzessin, mir auch. Aber stell dir vor, Vici, der alte Miesepeter hat mir sssssogaaa den Freitod vermiest.“ Er grinste glückselig. „Weissu Vici. Ich darf das nich tun. Nix darf ich mehr tun. Selbst wenn isch mich in den Tod stürzen will, macht er mir die Hölle heißßßßß.“
Victoria lächelte nachsichtig und strich ihm die verstrubbelten blonden Haare aus dem Gesicht. „Er sorgt sich um dich. Das tun wir alle.“
Jan schnaubte übertrieben. „Aba nich ma meine schlechte Laune durfte ich behalten. Ein klitzekleiner Nervenzusammenbruch und puiiiiiihhhhhhhhh, schon lässt er mir von Narla volle Breitseite ‘n Emoschuss verpassen. Hihihi.“
Victoria umarmte ihren Freund herzlich. „Früher in unserer WG hast du mir immer die schlechte Laune verboten, weißt du noch? Was hätte ich damals nur ohne dich gemacht? Aufmuntern und Perspektiven aufzeigen war DEIN Spezialgebiet.“
„Ach, Vici“, ächzte Jan. Seine Augen waren glasig. „Früaaaa war das alles irgendwie einfacher. Hauptsache, es war was’m Kühlschrank und keine Vorlesung fing vor zehn an. Aba heute… heute liegt meine Welt in Scherben und isch grinse im Kreis. Das macht mich feddisch…“
Victoria ließ ihn los und hob verwundert eine Braue. „Dann weißt du es noch gar nicht?“
„Was‘n?“ Seine Augen rollten weg. Es dauerte ein paar Sekunden, bis
er Victoria erneut fokussieren konnte.
Jaromir schaute sich nach Karvin um. „Ihr habt es noch nicht gehört?“
Karvin hob perplex seine Schultern. „Was denn?“
„Sofie hat sich nicht mit Xavosch verbunden“, rief Victoria.
„Hat sie nich?“, nuschelte Jan. Hoffnung huschte zögerlich über seine Züge.
„Nein, hat sie nicht“, bestätigte Victoria und freute sich über das unverfälschte Strahlen, das sich nun in Jans Gesicht ausbreitete. „Sie ist noch ganz dein Mädchen.“
„Das’s gut“, murmelte Jan und atmete erschöpft auf. „Das’s seeehr gut.“ Seine Augen schlossen sich für ein paar Sekunden und eine tiefe Freude zeigte sich in seiner Miene. Sie war echt.
Kurz darauf hob Jan mühsam die Lider und sein Blick suchte Karvin. „Du hattest recht: Ich werde wieda glücklich sein. Danke fürs aus‘er Luft schnappen. Wer hätte gedacht, dass das ferne morgen schon heute issss. … Mein Mädchen…“
Die Augen fielen ihm endgültig zu, seine Worte wurden immer undeutlicher, bis sie in ein Schnarchen übergingen.
Karvin lächelte weich. „Gern geschehen, mein Freund.“
Als Jans Atemzüge gleichmäßig waren, schaute Karvin das Königspaar ernst an. „Stimmt das wirklich? Wir konnten sehen, wie sich der Blaue mit dem Phönix verbindet. Was ist passiert?“
„Das hat er auch“, seufzte Jaromir. „Zumindest gehen wir davon aus. Aber Sofie teilt diese Bindung nicht.“ Er öffnete seinen Geist und ließ seine Erinnerungen an die «Triff die Drachen»-Zeremonie in sich aufsteigen.
„Eliande hat es schon vor Monaten befürchtet“, wisperte Victoria gedankenverloren. „Eine Gefährtenbindung mit dem Phönix gestaltet sich schwierig.“
„Bei allen Blutkratzern!“, keuchte Karvin, als Xavosch sich explosionsartig verwandelte und Sofie mit einem Prankenschlag durch die Luft schleuderte. „Ist sie…?“
„Sie ist verletzt, aber nicht lebensgefährlich“, erklärte Victoria. „Die Grünen flicken sie in diesen Minuten zusammen.“
„Dem Grauen Krieger sei Dank!“, flüsterte der Schwarze. Die Bilder
machten ihn fassungslos. Er mochte sich nicht ausmalen, wie Jan reagiert hätte, wenn sie umgekommen wäre.
„Ihr Körper wird einige Tage brauchen, um zu heilen“, fügte Victoria hinzu, „doch mehr Sorge bereitet mir das Trauma, dass sie erlitten haben dürfte. Da wissen wir erst mehr, wenn sie wieder wach ist.“
Karvin nickte betroffen.
„Ihre letzten Worte galten ihm“, Victoria bedachte Jan mit einem liebevollen Blick. „Meinst du, er ist in ein paar Stunden fit genug, dass er zu ihr kann? Ich denke, seine Anwesenheit würde ihr helfen …“
Abermals nickte Karvin und Stille breitete sich in der Suite aus.
„Was ist mit Xavosch?“, erkundigte sich Karvin.
„Der ist verschwunden. Wir wissen nicht wohin“, antwortete Jaromir. „Wir lassen nach ihm suchen.“
Karvin furchte überrascht die Stirn. „Soll er zur Verantwortung gezogen werden?“
Die Gefährten sahen einander an, ein intensiver Gedankenaustausch folgte und anschließend meinte die Königin: „Das nicht unbedingt…“
Schweigen.
Kaltes Entsetzen überkam Karvin.
„Es geht euch nicht darum, Jan und Sofie zusammenzubringen!“, würgte er tonlos hervor. „J soll sie lediglich auffangen, bis sie soweit ist, sich auf den Blauen einzulassen.“
Victoria nickte distanziert. Die jugendliche Besorgnis um ihren Freund war vollständig aus ihrem Gesicht gewichen. „Wir müssen das probieren. Immerhin stehen 50 Prozent der Bindung.“
„DAS willst du von J verlangen?!“ Karvin war wie vor den Kopf gestoßen.
„Wir wollen gar nichts“, entgegnete Jaromir ruhig, „aber wie so oft haben wir keine Wahl: Xavosch ist ein Meister des Lichts und das Potenzial des Phönix‘ ist ungewöhnlich hoch. Du weißt, was es für uns bedeuten würde, wenn es funktioniert.“
„Ja, das weiß ich“
, dachte Karvin betäubt, „und trotzdem…“
Er betrachtete sein Königspaar, als würde er die zwei zum ersten Mal sehen. Sie waren diszipliniert und ließen das große Ziel nicht für eine Sekunde aus den Augen, gleichwohl der Weg dahin Opfer erforderte. „
Jan so zu sehen, hat Victoria tief getroffen und doch rückt sie keinen Millimeter vom Plan ab!“
Er ahnte, dass sie die Qualen lieber selbst ertragen würde, als sie jemand anderem aufzubürden. Aber das konnte sie nicht.
Abrexar war genauso, erinnerte sich Karvin. Die Spinne hatte sich nie vor harten Entscheidungen gedrückt. Er hat sie gefällt, wann immer diese nötig waren. „Und wahrlich, er HAT Opfer gebracht!“
„Wir müssen bereit sein, wenn die Dämonen kommen“, wisperte Karvin abwesend. Dann streifte sein Blick Jans schlafenden Köper. „Der Junge ahnt nicht, was wir ihm abverlangen werden.“
Karvin ließ die letzte Stunde vor seinem geistigen Auge Revue passieren und Jans Verzweiflung hallte durch seine Eingeweide. „Das, was nun kommt, wird um einiges schlimmer für ihn werden! Wie soll er das verkraften?“
Er blickte das Königspaar erschüttert an.
Jaromir und Victoria nickten wissend.
„Bei der Sphäre!“, keuchte Karvin. „Ich wünschte, Narla hätte J verfehlt.“