16. Auf einen Blick
Tyra zog die Bungalowtür hinter sich zu und wandte sich an Sofie: „Und? Was hältst du von Rebrax und Lunala?“
Sofie lächelte, als sie an den Schwarzen und die Grüne dachte, die seit der «Triff-die-Drachen»-Zeremonie bei ihnen im Bungalow Nummer 23 lebten. In jedem Häuschen waren ein bis zwei Drachen eingezogen. Sie würden dort bis zu ihrer Abreise in ein paar Wochen wohnen und den Alltag der Studenten mitmachen: Mahlzeiten, Freizeit, Sport und Unterricht, überall waren die Himmelsechsen mit dabei. Einfacher und unverfälschter konnte man einander nicht kennenlernen.
„Lunala erinnert mich stark an Eliande“, antwortete Sofie. „Ich mag sie sehr. Und Rebrax, hmmm, er überrascht mich.“
„Ja? Warum das denn?“ Tyra band ihre glatten blonden Haare beiläufig zu einem Pferdeschwanz zusammen.
„Ach, ich hätte erwartet, dass er irgendwie steifer ist. Schließlich ist er ein Schwarzer. Die Schwarzen, die ich kenne, lieben Regeln und haben nur wenig Sinn für Spaß.“ Sofie zuckte mit den Schultern.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu den Sportanlagen. Die Trainingsklamotten hatten sie schon an.
„Tja“, grinste Tyra, „bei den Drachen ist es wie bei uns Menschen. Selbst wenn wir zum selben Kulturkreis gehören, gibt es zwischen den Individuen große Unterschiede.“
„Das kann man wohl sagen“, lachte Sofie. „Rebrax‘ Gesangseinlage eben beim Frühstück war echt einmalig. Ich habe nicht gewusst, dass die Schwarzen so witzig sein können.“
„Doch, doch! Vor zwei Jahren hatten wir einen bei uns zu Gast, der Leute parodieren konnte.“ Die kleine Schwedin kicherte und ihr skandinavischer Akzent ließ ihre Worte noch amüsanter klingen. „Den hättest du sehen müssen. In der letzten Woche seines Aufenthalts hatte sich sein Talent endgültig herumgesprochen. Jeden Abend kamen ‘ne Menge Kommilitonen vorbei und er musste seine Show bei uns im Wohnzimmer geben. Der Bungalow Nummer 23 ist aus allen Nähten geplatzt. Das war toll!
“
„Leute parodieren…“ Sofie schmunzelte. „Na, das sollte ich Karvin mal vorschlagen. Der würde mir was husten.“
„Es muss auch Spaßbremsen geben“, meinte Tyra altklug, „schließlich muss ja irgendwer den Laden auf Kurs halten, oder?“
Die kleine Schwedin nickte Richtung Kiesweg. „Apropos Kurs. Was meinst du, wollen wir zu den Sportanlagen joggen? Die richtigen Klamotten haben wir ja schon an.“
„Du hast wirklich Hummeln im Hintern, was, Tyra?“ Sofie schüttelte tadelnd ihren Kopf. „Heute ist der erste Tag, an dem du nach der Magen-Darm-Grippe vor die Tür darfst. Lass es ruhig angehen, sonst haut es dich gleich wieder aus den Socken.“
„Ach Quatsch, ich bin fit“, beharrte ihre Freundin. „Das kleine Stück stecke ich locker weg. Schließlich habe ich die ganze Woche nur rumgesessen. Ich brauche Bewegung!“
„Und die wirst du bekommen. Gleich.“ Sofie ließ sich nicht erweichen. „Als Tutorin unserer Laufgruppe darfst du uns eine ganze Stunde lang durch die Gegend scheuchen. Da kannst du von mir aus rennen. Vorher nicht. Ich habe Eliande versprochen, dich zu bremsen.“
„Ja, ja, Spaßbremse“, neckte Tyra sie. „Eigentlich müsstest du dich blendend mit diesem Karvin verstehen.“
Sofie zwinkerte der Schwedin zu. „Also, die vernünftige Seite von mir fährt voll auf ihn ab.“
Wenig später standen die beiden jungen Frauen auf dem Sportplatz. Es war leicht bewölkt, bestes Wetter zum Joggen. Nach und nach trudelten die anderen Teilnehmer der Gruppe ein, alle schnackten miteinander. Als letzte betrat Leonie den Platz.
Sofie konnte den Widerwillen ihrer «Lieblingskommilitonin» schon spüren, als diese die Umkleide verließ und quer über das Fußballfeld zum Treffpunkt spazierte. Leonie trödelte ganz bewusst. Ihre Aura war provozierend schroff und abweisend wie eine Felswand.
„Prima, alle da. Und das sogar fünf Minuten vor der Zeit“, rief Tyra gut gelaunt, sobald Leonie in Hörweite kam. „Ich hoffe, ihr wart in der letzten Woche auch ohne mich fleißig.“
Halbherziges Gemurmel kam aus der Gruppe
.
Die kleine Schwedin grinste. „Wunderbar. John, wie bist du mit den neuen Schuhen klargekommen?“
„Die sind klasse!“ John hob den rechten Fuß und blickte zufrieden auf seinen quietschgrünen Laufschuh. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Dinger so einen Unterschied machen würden. Danke für deinen Tipp.“
„Gern.“ Tyra lächelte. „Es ist wichtig, dass ihr auf eine gute Qualität achtet. Beim Laufen belastet ihr die Füße mit einem Vielfachen eures Körpergewichts. Wenn die Sohle den Tritt nicht ordentlich abdämpft, macht ihr euch die Gelenke kaputt.“ Sie drehte sich zu Leonie um. „Wie ist es bei dir?“
Leonie verdrehte genervt die Augen und murrte: „Ich hatte noch keine Zeit, mich um neue Schuhe zu kümmern.“
Tyra runzelte überrascht die Stirn. „Du hattest zwei Wochen.“
Leonie zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Außerdem bin ich pleite.“
„Wie kannst du pleite sein? Jeder Student hat von der Akademie ein Konto eingerichtet bekommen. Ich kenne das Budget. Es ist absolut ausreichend, um davon alles Notwendige zu kaufen.“
„Für dich vielleicht“, gab Leonie schnippisch zurück. „Aber ich musste mir ein Notebook kaufen.“
„Ein Notebook?“ Tyras Augen wurden schmal. „Notebooks stehen nicht auf der Materialliste.“
„Und wie soll ich in den bekloppten Stunden dann mitschreiben?“, motzte Leonie.
Die kleine Schwedin holte tief Luft und erklärte ruhig: „Alle Studenten sind aufgefordert, ihre Notizen handschriftlich zu verfassen. Auch die Abschriften. Einen Computer darfst du dafür gar nicht benutzen.“
„Aber das ist doch voll vorsintflutlich! Ich …“
„Kein «aber»“, unterbrach Tyra streng. „Das Schreiben per Hand schult deine Motorik und stellt eine wichtige Vorübung für diverse Zauber dar.“
„Na super, das hätte man uns ja ruhig mal früher mitteilen können“, nörgelte Leonie. Der schroffe Fels ihrer Aura bekam noch schärfere Kanten. Um Unterstützung heischend, sah sie sich zu den anderen um. „Überhaupt bekommen wir so gut wie nie erzählt, warum wir hier was tun müssen oder bleiben lassen sollen. Wir werden wie kleine Kinder
behandelt.“
Niemand sagte etwas, doch Sofie konnte spüren, dass einige Studenten Leonies Worten durchaus zustimmten.
Tyra schaute entspannt in die Runde. „Ihr bekommt alle Informationen, die ihr braucht. Besonders für die Neuen unter euch wäre es zu viel, wenn wir zu jedem Sachverhalt auch noch eine Begründung liefern würden. Wenn ihr etwas nicht versteht, fragt einfach. An der Akademie hält niemand etwas unter Verschluss. Ansonsten gilt: haltet euch an die Anweisungen. Sie sind in eurem Sinne.“
Tyra blickte freundlich von einem zum anderen. „Möchte noch irgendjemand was wissen? Jetzt wäre Gelegenheit.“
Schweigen und Kopfschütteln. Die Protesthaltung verflüchtigte sich bei fast allen, nur bei Leonie nicht.
„Gut.“ Tyra nickte. „Dann lasst uns beginnen. John und Marie, traut ihr euch zu, die Gruppe zu führen? Teilt euch selbst ein: die Schnelleren laufen mit Marie, die Langsameren mit John.“
„Und was ist mit dir?“, ätzte Leonie. „Läufst du etwa nicht mit?“
Äußerlich ruhig drehte Tyra sich zu ihr um, doch Sofie fühlte, dass ihre Freundin sich ärgerte.
„Nein, ich laufe nicht mit“, erklärte die kleine Schwedin und sah leidenschaftslos zu Leonie auf. „Ich werde mit dir hierbleiben und Krafttraining machen.“
„Das ist Schikane“, zeterte Leonie und stemmte aufgebracht ihre Fäuste in die Hüften. „Du willst dich bloß rächen, weil ich neulich ein bisschen getratscht habe. Meine Güte, was bist du kleinkariert!“
„Ach, Leonie, du nimmst deine Person viel zu wichtig.“ Der Angriff prallte an Tyra ab. „Deine Lästereien sind mir piepegal. Wenn ich mich rächen wollte, müsste ich das mit deinen Laufschuhen nur unserer Sportleiterin stecken. Frau Rubens kann es nämlich gar nicht ausstehen, wenn jemand ihre Anordnungen missachtet. Aber das ist mir viel zu kindisch. Du hast beim letzten Mal über Knieschmerzen geklagt. Solange du in der nächsten Stunde angemessene Schuhe an den Füßen hast, werde ich dich nicht melden. Die Gesundheit deiner Gelenke ist das, was mich interessiert, nicht dein Ego.“
Leonie öffnete empört ihren Mund. „Also… das ist…
“
Tyra schaute sie fragend an.
Offenbar wusste Leonie nicht, was sie sagen sollte, denn sie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trocknen.
Als nichts kam, ließ Tyra Leonie links liegen und wandte sich aufmunternd klatschend den anderen zu: „So Leute, seht zu, dass ihr loskommt. Ich habe nicht vor, unsere Stunde mit Gesabbel zu verdaddeln. Abmarsch!“
Sofie bewunderte Tyra wieder einmal für ihre gelassene Souveränität. „Es ist, als sei sie unverwundbar. Nicht mal die Zimtzicke Leonie schafft es, sie zu verletzen. Davon würde ich mir zu gern eine Scheibe abschneiden. Unfassbar. Sie wird nicht mal ungerecht… ich wäre längst ausgeflippt und hätte die blöde Kuh abgefackelt – trotz des Ableitens.“
Sofie nickte Tyra anerkennend zu. „Bis später dann.“
Am Rande nahm sie wahr, dass die lockere Reaktion auf Leonies Attacke die Sympathien für Tyra bei den anderen Kommilitonen verstärkt hatte. Aber da war noch etwas. Sofie spürte, dass sich ihr von hinten eine mächtige Präsenz näherte: wild, kraftvoll und doch erhaben.
„Adler“
, schoss es ihr durch den Kopf. Sie drehte sich um.
Gabriellosch hatte soeben die Umkleide verlassen und lief auf die Gruppe zu. Er trug Trainingsklamotten.
„Oh, wartet“, rief Sofie, „Ich glaube, da kommt noch ein Nachzügler. Das ist Gabriellosch.“
Grüßend winkte sie dem Drachen zu und der winkte zurück.
„Ist er nicht ein Roter?“, erkundigte sich John mit gedämpfter Stimme. „Ich dachte, die sind immer so diszipliniert. Was ist das für ein lausiger Soldat, der zu spät kommt?“
„Erstens sind wir heute früh dran“, meinte Tyra mit einem beiläufigen Blick auf ihre Armbanduhr, „er ist also grade noch pünktlich. Und zweitens sind die Roten angewiesen worden, erst kurz vor knapp zu den Stunden zu erscheinen. Zumindest in der ersten Woche.“
John schüttelte verständnislos seinen Kopf. „Warum das denn?“
Tyra schmunzelte. „Du wohnst nicht mit ‘nem Roten zusammen oder hattest gemeinsam mit einem von ihnen Unterricht, hmm?“
„Nö, das nicht, doch ich weiß, dass die Aura von denen beeindruckend ist.
“
„Sie ist umwerfend“, versicherte die Schwedin breit grinsend. „Und übrigens, wenn du deinen Geist nicht abschirmst, kann er deine Gedanken sehen – selbst auf diese Entfernung. Einen Roten solltest du niemals «lausig» nennen, es sei denn, du möchtest, dass es dir «lausig» geht.“
Der Kommandant joggte lässig über den Platz. Das Tanktop und die Shorts versteckten weder seine austrainierten Muskeln noch sein breites Kreuz. Seine Bewegungen waren geschmeidig. Sie wirkten unterschwellig explosiv und ließen keinen Zweifel daran, dass er eine hervorragend ausgebildete Kampfmaschine war.
„Ähhh…“ John wurde blass. „Aber ich kann meinen Geist noch nicht abschirmen.“
„Dann hüte besser deine Gedanken“, riet Tyra freundlich.
„Wie denn?“ Panik schwang in Johns Stimme mit.
Marie kicherte. „Denk an Blümchen, Häschen und ähnlich harmloses Zeug. Bloß nicht provozieren.“
„Häschen?“, echote John heiser. „Echt jetzt?“
Gabriellosch näherte sich der Gruppe. Nun wurde deutlich, was für ein Hüne er war. Der Drache verlangsamte sein Tempo, seine ausufernde Aura erreichte die Menschen.
„O mein Gott“, keuchte John entsetzt. „Hoffentlich läuft er in deiner Gruppe mit, Marie.“
Es war offensichtlich, dass er Angst hatte.
„He, verfallt nicht in Panik“, mischte Sofie sich ein. „Gabriellosch ist echt nett. Er tut niemandem etwas zu leide.“
Leonie schien zwar anderer Meinung zu sein, doch sie verkniff sich jeden Kommentar.
„Er braucht gar nichts zu tun“, wisperte John erstickt. „Ich mach mir auch so gleich in die Hose.“
„Ja“, bestätigte Tyra fröhlich, „das erste Mal mit einem Roten ist schon ein Erlebnis! Und das nicht nur auf dem Sportplatz…“ Sie zwinkerte anzüglich.
Kurze Stille, dann kicherten einige Studenten. Die angespannte Stimmung entkrampfte sich.
Gabriellosch kam langsam heran, er schien zu wissen, wie es den
Menschen ging, darum gab er ihnen Zeit, mit seiner Aura klarzukommen.
Tyra behielt ihre Gruppe im Auge. „Roten begegnet man am besten mit aufrichtigem Respekt. Für Angst haben sie durchaus Verständnis, also mach dir keinen Kopf, John. Deine Furcht wird sich in ein paar Minuten legen. Zumindest ein wenig.“ Sie schenkte jedem in der Runde einen prüfenden Blick. „Alles klar?“
Stummes Nicken.
„Gut.“ Tyra lächelte zuversichtlich. „Und nun sollten wir so höflich sein und unseren Gast begrüßen.“
„Guten Morgen, Tutorin Tyra“, kam Gabriellosch ihr zuvor. Er salutierte. „Ich würde gern bei euch mitlaufen, wenn das erlaubt ist.“
Geduldig blieb er auf Distanz, während seine Augen zu Sofie Kontakt aufnahmen. Sein vernarbtes Gesicht wirkte gefährlich, doch ihm saß mal wieder der Schalk im Nacken.
„War ja klar. Der Adler amüsiert sich prächtig. Also wirklich, er ist wie ein kleiner Junge. … Ein frecher kleiner Junge!“
Tyra hob ihre Stimme und drehte sich zu dem Drachen um. „Guten Morgen, Kommandant Gabriellosch. Selbstverständlich darfst du dich uns anschließen. Herzlich willkommen in meiner Laufgru…“
In diesem Moment geschah etwas Seltsames: Ein erdrutschartiges Beben erschütterte die Aura des Roten und ebenfalls die von Tyra.
Sofie schnappte nach Luft.
Die Zeit blieb stehen, die Szene gefror.
Sofie starrte mit großen Augen auf ihre Freunde. Sie hatte den Eindruck, dass sich die Auren der beiden in ihre Einzelteile zerlegten, feiner und immer feiner, so als würden sie zu Staub pulverisiert. Für eine Millisekunde waren sowohl Gabriellosch als auch Tyra komplett schutzlos, ganz auf ihren verwundbaren Wesenskern reduziert.
Erst jetzt fiel Sofie auf, dass Tyra und Gabriellosch einander in die Augen blickten.
Plötzlich umhüllte ein Luftstrom die zwei. Der leichte Wind streichelte Mensch und Drache und wirbelte die elementaren Partikel der Auren auf. Gründlich durchmischte die zarte Brise alles.
Sofie stand nahe bei Tyra. Ihr war es, als würde sie in einer leuchtend bunten Farb-Staubwolke stehen, so ausdrucksstark und lebensfroh war
das unsichtbare Aurengemenge. Die Bandbreite der unterschiedlichen Persönlichkeitsaspekte war unfassbar und doch passte alles herrlich harmonisch zueinander.
„Sie gehören zusammen. Genau so muss es sein!“
Der Aurenstaub wogte um das Paar herum. Es verstrich eine Ewigkeit, die kaum einen Herzschlag lang andauerte.
Dann veränderte sich das ziellose Treiben. Langsam fügten sich die Partikel zusammen. Stück für Stück bauten sich die Auren von Drache und Mensch erneut auf, bis sie vollständig waren.
„Gabriellosch ist wieder Gabriellosch und Tyra wieder Tyra. Genau wie immer und doch so anders“
, bemerkte Sofie ergriffen.
Die Zeit nahm Geschwindigkeit auf, bis sie normal weiterfloss.
Sofie blickte zwischen ihrer Freundin und dem Roten hin und her. Fassungsloses Erstaunen breitete sich auf beiden Gesichtern aus, gefolgt von Erkenntnis. Und auf einmal begannen vier Augen vor Liebe zu strahlen.
„Sie haben sich gefunden. Wow! So ist das also.“
Unwillkürlich musste Sofie an Xavosch denken und fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Die Gegenüberstellung hatte für sie nichts von dieser Magie gehabt.
Neben Sofie atmete John hörbar auf und murmelte: „Ja, tatsächlich, die Bedrohung nimmt ab.“
„Du Einfaltspinsel“, neckte Marie und knuffte ihn in die Seite. „Die beiden haben sich verbunden.“
In diesem Moment lösten sich Tyra und Gabriellosch aus ihrer Trance und traten vorsichtig aufeinander zu. Der Drache überragte die kleine Schwedin mindestens um einen halben Meter.
„Sie ist winzig neben ihm. Eine zarte Elfe und ein vernarbter Riese, was für ein ungleiches Paar…“
Und dennoch spürte Sofie, dass die beiden perfekt zusammenpassten.
„Du bist es?“, flüsterte Gabriellosch ungläubig. Seine Stimme zitterte. Er sah zu Tyra herab und griff scheu nach ihrer Hand. Sie war wie eine Kinderhand in seiner großen Pranke.
„Ja, ich bin es“, wisperte Tyra mit einem selbstbewussten Lächeln.
Glück explodierte. Ein Silvesterfeuerwerk war nichts dagegen.
„Du bist es!“, staunte der Drache
.
Die kleine Schwedin strahlte. „Ja!“
„Sie?“, keuchte Leonie entgeistert. „Aber ihr Potenzial ist ein Witz!“
„Halt die Klappe, Leonie!“, zischte Sofie warnend.
Die frischgebackenen Gefährten hatten nur Augen füreinander.
„Du bist es wirklich!“, lachte Gabriellosch. Berauscht packte er Tyra mit beiden Händen bei der Hüfte und wirbelte sie um sich herum.
Tyra kreischte überrascht auf.
„Oh! Entschuldige.“ Unsicher stellte der Rote seine Gefährtin auf den Rasen zurück. „Es ist mit mir durchgegangen.“
„Mit mir auch“, lachte Tyra und legte ihren Kopf in den Nacken, um ihn weiterhin ansehen zu können. Der Blick, den sie ihm schenkte, war innig und voller Zärtlichkeit.
Gabriellosch schüttelte überwältigt den Kopf, seine Miene konnte man getrost als andächtig bezeichnen. „Wow! Du bist es. Ich kann es nicht glauben.“
„Glaub es ruhig“, antwortete Tyra trocken. „Ich stehe ja vor dir.“
Plötzlich ruckte ihr Kopf zu Leonie herum. Auch einige der Laufgruppe starrten die Kommilitonin entsetzt an.
Die Aura des Roten verdunkelte sich bedrohlich, seine Augen wurden schmal vor Zorn.
Leonies Gesicht verlor jede Farbe, sie wagte es kaum zu atmen.
„Was geht hier vor?“
Alarmiert guckte Sofie sich um. Sie konnte Missgunst und Wut spüren, doch sie verstand nicht, was genau hier vor sich ging.
Tyra wandte sich gelassen ihrem Gefährten zu. „Leonie kann nicht begreifen, was ein stolzer Krieger wie du mit so einem Püppchen wie mir will.“
„Ich weiß“, knurrte Gabriellosch. „Ich kann die gequirlte Mantokscheiße in ihrem Hirn sehen.“ Seine Aura flackerte angriffslustig.
Die kleine Schwedin lächelte und legte ihm begütigend ihre kleine Hand auf den Arm. „Erkläre es ihr, sonst rafft sie es nie.“
Der Rote schaute Tyra missmutig an, doch dann nickte er. „Aber nur, weil sie ihre Gedanken nicht abschirmen kann…“
„Selbstverständlich“, grinste Tyra und drückte seinen Arm.
Die Aura des Drachen hellte sich etwas auf. Er drehte sich zu Leonie
und fauchte beherrscht: „Du denkst also, meine Gefährtin sei mickrig?“
Leonie erstarrte zur Salzsäule. Sie traute sich weder zu nicken noch den Kopf zu schütteln.
„Mickrig! Ha!“, schnaubte Gabriellosch. „Tyra mag die Gestalt einer Maus haben, aber sie hat das Herz einer labonischen Löwin.“ Seine Miene wurde abfällig. „Bei dir ist es umgekehrt.“
Der Rote blickte wieder zu seiner Gefährtin herab und auf seinem Gesicht ging die Sonne auf. „Mickrig… du! … Das ist ja lächerlich. Ha. Was für ein absurder Scherz.“
Seine Aura verlor die bedrohliche Aggressivität. Seine Gefährtin versetzte ihn in Glückseligkeit. Er schwebte auf Wolke sieben.
„Ich glaube, jetzt hat sie es“, meinte Tyra zwinkernd.
Die Anspannung der Gruppe löste sich.
„Ja, sie hat es“, murmelte Gabriellosch. Verträumt sah er sein Mädchen an. „Du bist perfekt für mich.“
„Wunderbar“, wisperte Tyra. Sie schloss die Augen und stellte sich auf ihre Zehenspitzen. „Dann küss mich endlich.“
Der Drache lächelte und beugte sich langsam zu ihr herab. Seine Aura flackerte erregt.
„Er begehrt sie.“
Sofie wurde mulmig.
Mit jedem Zentimeter, den sich der Rote seiner Gefährtin näherte, nahm das Flackern zu.
„Scheiße, er wird sich VERWANDLEN!“
, durchzuckte es Sofie.
„Oh, oh!“, brüllte Marie, „Alle Mann in Deckung!“
Panisch stoben die Studenten auseinander.
Gabriellosch hielt inne und brummte: „Stimmt. Da war ja was.“
„Richtig.“ Tyra seufzte enttäuscht. „Komm, lass uns abhauen.“
Die Brauen des Kriegers hoben sich erstaunt. Anscheinend hatte sie ihm irgendwelche Bilder geschickt. „Bist du sicher? Soll ich das wirklich tun?“
„Na logo!“, entgegnete die kleine Schwedin salopp. „Oder soll ICH dich vielleicht tragen?“
„Nein, Löwinherz, das ist mein Job“, lachte Gabriellosch. Er nahm sie bei der Hand und zog sie von den Menschen weg.
„Du gehörst mir!“, dröhnte er mit tiefem Bass. Noch im Laufen
verwandelte er sich mit einer raubtierhaften Bewegung in seine wahre Gestalt: riesengroß, blutrot und muskelbepackt. Seine mächtigen Schwingen entfalteten sich. Vorsichtig, ja fast zärtlich, umschloss er seine Gefährtin mit der rechten Vorderklaue. Gleich darauf drückte er sich ab. Drei kraftvolle Schwingenschläge ließen das Paar rasch an Höhe gewinnen.
Der rote Drache sah sich noch einmal nach der Laufgruppe um, gab ein triumphierendes Trompeten von sich und einen Atemzug später waren die zwei in den Nebeln verschwunden.
Gespenstische Stille legte sich über den Sportplatz.
„Alter“, schnaufte John schließlich. „Wie krass war das denn?!!“
„Ach“, meinte Marie achselzuckend, „so sind die Roten eben, wenn sie verknallt sind.“
„Warum sind sie abgehauen?“, erkundigte sich Leonie leise. Sie war noch immer kreidebleich. „Wieso hat er sie nicht hier geküsst?“
Marie grinste. „Ein Drache in der Bindungsphase ist nicht dazu in der Lage, seine Menschengestalt beizubehalten, wenn der menschliche Gefährte erotische Gefühle bei ihm erregt. Anfangs reicht da schon ein Kuss aus und «buff»! Sie müssen sich verwandeln, koste es, was es wolle.“
„Also, kein Sex in der Bindungsphase“, murmelte John betrübt. „Verdammt, ich habe es nicht wahrhaben wollen.“
Sofie schmunzelte. Sie wusste, dass Tyra kein Kind von Traurigkeit war, was dieses Thema anging. „Wie sie damit in den nächsten Monaten wohl klarkommen wird? Auf alle Fälle hat sich soeben ihr größter Traum erfüllt. Und Gabrielloschs wohl auch…“
Sie freute sich von Herzen mit ihren Freunden. Die Verbindung der beiden fühlte sich richtig an.
„So wie bei Jan und mir. Ich wünschte, er wäre hier und hätte das miterlebt. Was für ein außergewöhnlicher Moment…“
Sehnsucht und Glück breiteten sich in ihr aus.
„Bald ist Freitag“, tröstete ihr Verstand.
Sofie lächelte still in sich hinein. „Ja bald! Und dann werde ich Jan alles zeigen.“