17. Rock und Roll
Die Nachricht von dem neuen roten Gefährtenpaar verbreitete sich wie ein Lauffeuer an der Steinburg. Noch am selben Abend fand eine fröhliche Zeremonie in der Arena statt. Alle Studenten, Mitarbeiter und Gasthimmelsechsen der Akademie sowie Grimmarr, der Vorsitzende der Drachenversammlung, Aer und Lenir, die Kommandanten der Wölfe, und einige Abgeordnete aus dem Kaleidoskop waren anwesend, als offiziell verkündet wurde, dass Tyra und Gabriellosch Gefährten waren.
Die beiden wurden wie Popstars bejubelt. Anschließend gab es ein Festessen und es wurde bis tief in die Nacht gefeiert. Verbindungen, die außerhalb von «Triff die Drachen» zustande kamen, waren etwas ganz Besonderes.
Sofie hatte beim offiziellen Teil dieser Veranstaltung gemischte Gefühle. Weder die euphorische Stimmung noch der ohrenbetäubende Applaus für ihre Freunde konnte sie darüber hinwegtäuschen, dass dieser Abend inszeniert war. Grüne Himmelsechsen hatten wieder einmal dafür gesorgt, dass die Menschen keine Furcht vor den vielen Drachen empfanden.
Jan erklärte ihr später am Telefon, dass dieses spezielle Rahmenprogramm in früheren Zeiten zum guten Ton gehört hatte. Insbesondere für die Neuen sei die Hilfe der Grünen die einzige Möglichkeit, angstfrei an solchen Events teilnehmen zu können. Grundsätzlich ging es ihm jedoch wie ihr: Er mochte die emotionale Beeinflussung nicht.
In Momenten wie diesen kamen Sofie Zweifel, ob die Allianz zwischen Menschen und Himmelsechsen wirklich so natürlich war, wie die Schuppenträger alle Welt glauben machen wollten.
Jan erzählte ihr außerdem, dass diese Party nicht nur Spaß bringen sollte, sondern einem praktischen Zweck diente. Die Bekanntgabe der Verbindung machte allen klar, dass die Gefährten von nun an tabu waren, was romantische Avancen anging. «Gefährten anbaggern gefährdet die Gesundheit» lautete ein Slogan. Nach der vergnüglichen Zeremonie wusste jeder, dass man von Tyra und Gabriellosch zukünftig die Finger zu lassen hatte.
Am nächsten Tag räumte der schwarze Rebrax sein Quartier im Bungalow Nummer 23 und machte Platz für Gabriellosch. Tyra behielt ihr Zimmer und schlief, sehr zu Sofies Verwunderung, weiterhin in ihrem eigenen Bett.
Darauf angesprochen meinte die kleine Schwedin: „Ach, Sofie, das ist alles sooo…. ich weiß auch nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich verliere den Boden unter den Füßen. Alles ist anders. Gabriellosch ist mir fremd und vertraut zugleich. Manchmal denke ich fast, ich löse mich auf in dem neuen Wir.“
„Das hört sich bedrohlich an“, hatte Sofie stirnrunzelnd geantwortet.
Da hatte Tyra den Kopf geschüttelt und gelächelt. „Nein, Süße, bedrohlich ist das bestimmt nicht. Es ist eher so, dass es zu viel Wunderbares für den kurzen Moment ist. Ich muss mich daran gewöhnen, dass ich einen Gefährten habe. Ich kann mein Glück noch nicht ganz fassen. Hach, mein Herz weiß, dass es absolut richtig ist, aber mein Kopf kommt nicht so fix hinterher. Der braucht Zeit, um sich zu sortieren. Deswegen tut mir ein bisschen Abstand ganz gut. Und Alltag. So weiß ich, dass ich immer noch ich bin.“
Das konnte Sofie gut verstehen. Als sie fünfeinhalb Monate zuvor mit Jan zusammengekommen war, erschien ihr das in den Tagen danach ebenfalls unwirklich. Sie war damals wie auf Drogen gewesen und hatte andauernd im Kreis gegrinst. Wohlige Geborgenheit flutete bei dieser Erinnerung ihren Körper. „Er ist mein Zuhause.“
„Dass die menschlichen Gefährten anfangs in ihrer gewohnten Umgebung bleiben, ist normal“, hatte Jan ihr am Telefon erklärt. „Erst wenn sie innerlich bereit sind, gehen sie an die Gefährtenakademie zum Hungrigen Wolf.“
„Auch für mich hat sich mit der Verbindung von Tyra und Gabriellosch einiges verändert“ , dachte Sofie seufzend, als sie am Montag gegen Mittag das Klassenzimmer nach dem Geistesmagieunterricht verließ. „Ich habe zwei meiner besten Freunde auf einen Schlag verloren.“
Sie schulterte ihren Rucksack und machte sich auf den Weg zum Bungalow Nummer 23. Seitdem der Kommandant und die kleine Schwedin zusammen waren, trafen sich die Mitbewohner aus Solidarität dort zum Essen. Gabriellosch konnte seine Gestalt nicht immer aufrechterhalten und eine Verwandlung in der Kantine war nicht empfehlenswert.
„Nein, ich habe sie nicht verloren“ , korrigierte sich Sofie. Sie lief den heckenumsäumten Weg zu ihrem Häuschen entlang. „Sowohl Tyra als auch Gabriellosch haben weiterhin Zeit für mich. In den Kursen, die Tyra und ich vorher schon gemeinsam besucht haben, sind wir jetzt zu Dritt. In einigen anderen Stunden ist nur der Kommandant bei mir. Und abends sehe ich Tyra auf dem Zimmer und wir quatschen. Die zwei nehmen sich bewusst Zeit für mich, das kann ich spüren.“
Trotzdem zuckte sie niedergeschlagen mit den Schultern. „Alles ist anders. Für Gabriellosch und Tyra hat das Universum ein neues Zentrum bekommen. Ich bin nur noch eine unbedeutende Randerscheinung.“
„Sei nicht undankbar“, wies Margareta sie zurecht. „Die beiden sind Gefährten. Wie sollen sie sich denn bitte deiner Meinung nach verhalten?“
„Hast ja recht!“ Sofie holte tief Luft und beschleunigte ihre Schritte auf dem Sandweg. Sie freute sich mit Tyra und Gabriellosch und gönnte ihnen das gemeinsame Glück.
Tatsächlich faszinierte Sofie die Bindung zwischen dem Drachen und ihrer Freundin. Beide waren sehr offen und sprachen mit ihr über das, was in ihnen vorging und wie sie die Veränderungen empfanden.
„Sie würden mich sogar in ihren Geist blicken lassen, wenn das denn möglich wäre.“
Doch natürlich funktionierte das nicht. Sofie konnte nichts sehen, mal abgesehen von den Schatten, die sie manchmal wahrzunehmen glaubte.
„Aber auch ohne Gedankenübertragung ist das der Hammer.“
Sofie lächelte verträumt und bog ab. So langsam kannte sie den Weg zu ihrem Häuschen wie im Schlaf.
„Ich darf hautnah bei den frischgebackenen Gefährten dabei sein. Das ist ein großes Privileg. Die Art, wie sie miteinander umgehen, ist beeindruckend: die stumme Zwiesprache, ihre Fürsorge, die Liebe – wow! Und dennoch sind sie sie selbst. Taff, schlagfertig, lässig. Sie frotzeln miteinander rum und kabbeln sich. Die beiden sind echt füreinander geschaffen.“
Sofie wurde das Herz schwer. „Mir graust vor dem Tag, an dem sie zu den Wölfen gehen und mich hier zurücklassen…“
Fröstelnd schaute sie nach oben. Der Augusthimmel war heute zwar wolkenverhangen, aber eigentlich war es warm.
„Jan wird von Victoria quer durch die Weltgeschichte gescheucht… Die, die mir am wichtigsten sind, sind bald alle weit weg.“
Traurig zog sie den Reißverschluss ihrer Fleecejacke hoch. Nicht mehr lange und sie würde allein sein. Mit solchen Leuten wie Leonie.
„Ach, Mist.“
„Hör auf zu jammern“, mischte sich die Margareta in ihr ein. „Jan siehst du jedes Wochenende und Bill ist ebenfalls für dich da. Und Eliande. Zählen die etwa nicht?“
„Doch“ , räumte Sofie ein, „natürlich zählen die. Ich sollte wirklich nicht so ungerecht sein. Trotzdem werde ich Gabriellosch und Tyra vermissen.“
Wenig später betrat Sofie den Bungalow Nummer 23. Durch die raumhohen Wohnzimmerfenster konnte sie sehen, dass sie nicht die erste war. Der Tisch auf der überdachten Terrasse war bereits für zehn Personen gedeckt und Getränke standen bereit. Tim hatte es sich mit einem großen Glas Eistee auf einem Gartenstuhl bequem gemacht und las etwas auf seinem Tablet-PC.
Sofie stellte den Rucksack neben ihrer Zimmertür ab und ging zu ihrem Mitbewohner nach draußen. „Moin, Tim. Du warst ja schon fleißig, danke.“
„Gerne doch, Sofie.“ Tim schaute lächelnd vom Flensburger Tagesblatt auf.
„Und? Was schreiben sie?“, erkundigte sie sich. „Irgendwelche interessanten Neuigkeiten aus deiner Heimat?“
Tim nickte. „Jo. Die Freien Magier gehen mit ihrer neuen Show auf Welttournee.“
„Was?“ Sofie zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Eine Welttournee? Ich dachte, die haben sich grade in Flensburg eingerichtet.“
„Ja, aber die spektakuläre Zaubershow wollen alle sehen. «Hans Klok und David Copperfield können einpacken»“, zitierte Tim grinsend die elektronische Zeitung. „«Die Darbietung der sogenannten Freien Magier stellt alles Dagewesene in den Schatten und kommt ganz ohne Superstars und leichtbekleidete Tänzerinnen aus. Die Illusionen sind so perfekt wie atemberaubend und wirken dabei täuschend echt, so dass man glauben könnte, Magie gäbe es wirklich. ‘Diese Show muss man einfach erleben, sonst verpasst man etwas!‘, sind sich die Zuschauer einig.
In den sozialen Medien verbreiten sich Bilder und Filme dieses außergewöhnlichen Bühnenspektakels mit viraler Geschwindigkeit. Die Freien Magier erlauben die privaten Aufnahmen ausdrücklich. ‘Wir haben nichts zu verbergen. Bei uns wird nicht getrickst‘, so der humorvolle Sprecher der Freien.
Aufgrund des großen Andrangs wird es für Flensburg, die Wahlheimatstadt unserer Freien, einen zusätzlichen Auftritt geben. Es wird der krönende Abschluss ihrer furiosen Deutschlandtournee. Danach müssen wir unsere talentierte Truppe mit der Welt teilen. Die Daten der Tour finden Sie unter www.freieMagier.de.»“
„Wow“, staunte Sofie und ließ sich auf den Stuhl neben Tim fallen. „Das ist ja krass. Die leben das voll aus. Warum machen die das?“
„Die Welttournee?“, hakte Tim nach.
„Ja.“ Sofie nickte und schenkte sich ein Glas Wasser ein. „Die treten aufs Gas. Sich zu Tarnungszwecken als Zauberkünstler auszugeben ist eine Sache, aber das hier… Wozu?“
„Die Eintrittsgelder bringen Kohle“, mutmaßte Tim.
„Hmm“, brummte Sofie unschlüssig. „Das sind echte Magier wie wir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihnen bloß ums Geld geht. An Kohle können sie auch auf anderen Wegen kommen. Es sei denn, sie bräuchten Unmengen.“
„Stimmt. Lebensunterhalt verdienen ginge definitiv unauffälliger. Vielleicht mögen sie einfach das Rampenlicht?“
„Meinst du? Dieser Rasmussen ist doch angeblich so scheu.“
„Hmm, ja.“ Tim überflog den Artikel auf dem Tablet. „Warte, hier steht noch was.“ Er hielt das Display so, dass Sofie besser gucken konnte und zeigte auf einen Text.
Sofies Blick wurde jedoch von dem Bild darüber angezogen. Eine Frau, bekleidet mit einer bodenlangen schwarzen Robe, stand in der Mitte der Bühne und formte mit ihren Händen einen kürbisgroßen Feuerball, orangerot und bedrohlich glühend. Das Gesicht der Magierin war vor Anstrengung verzerrt. Die Szene wirkte gespenstisch.
Sofie schluckte beklommen. „Den Feuerball möchte ich nicht abbekommen!“
„Fertig?“, fragte Tim.
„Was? Äh, nein“, murmelte Sofie und zwang ihre Augen, den fett gedruckten Text unter dem Bild zu lesen: «Du bist anders, glaubst an das Paranormale und verfügst über ungewöhnliche Talente? Dann komm zu uns und werde ein Freier Magier!»
„Sie rekrutieren!“, keuchte Sofie.
„Naja, das tun die Drachen auch“, beschwichtigte Tim. „Unsere schuppigen Freunde können nicht alle ausbilden, das betonen sie immer wieder. Die Freien haben sogar schon ein paar der weniger begabten Menschen von den Akademien abgeworben. So ist Platz für neue Studenten.“
„Was? Die krallen sich unsere Leute?“ Plötzlich hatte Sofie ein ungutes Gefühl. „Und was sagt das Kaleidoskop dazu?“
„Keine Ahnung, aber das Tagesblatt der Drachen, das «Verschwiegene Auge», schreibt, dass das im Sinne aller sei“, erwiderte Tim gelassen. „Falls die Tore sich irgendwann öffnen sollten, ist jeder Magier ein Gewinn für den Planeten, egal von wem er ausgebildet wurde.“
„Aber Jan meinte, dass sich die Freien nicht in die Karten gucken lassen“, merkte Sofie an. Sie tippte beunruhigt auf das Foto mit der Feuerballmagierin. „Das hier sieht für mich nicht nach einer harmlosen Gaukelei aus.“
„Umso besser“, gab Tim grinsend zurück. „Die Freien haben echt was auf dem Kasten, das stand auch im «Verschwiegenen Auge».“
Sofie furchte besorgt die Stirn. „Und woher haben sie das Wissen? Wer hat ihnen das beigebracht?“
„Weiß nicht.“ Tim zuckte mit den Achseln. „Der Anführer, dieser Malte Rasmussen, scheint ein echtes Naturtalent zu sein.“
„Kann die Natur so viel Talent in so kurzer Zeit hervorbringen?“
„Offenbar schon.“ Tim lächelte gelassen. „Bevor die Drachen dich gefunden haben, sind dir da nicht auch merkwürdige Dinge passiert? Gerade über den Phönix sind mir ein paar ziemlich abenteuerliche Gerüchte zu Ohren gekommen: fliegende Tische, pulverisierte Dachziegel, Visumsprojektionen und so‘n Zeug. Wer hat dir das gezeigt?“
„Niemand“, gab Sofie zu.
„Siehst du. Wahrscheinlich ist dieser Rasmussen ein echter Crack im Vergleich zu uns. Kein Grund, misstrauisch zu werden. Die tun doch niemandem was.“ Tim zwinkerte ihr zu. „Das Kaleidoskop hat erklärt, dass die Herrschaft der Goldenen hinter uns liegt. Die alten Fehler sollen kein zweites Mal gemacht werden. Entsprechend wird die Privatsphäre anderer Rassen und Völker heutzutage respektiert. Und darüber bin ich ehrlich gesagt ziemlich froh.“
„Ja, ich auch.“ Sofie nickte.
„Apropos Privatsphäre“, Tim grinste verschmitzt, „wie war denn dein Wochenende mit Jan? Nach eurem Abschiedskuss letzte Woche auf dem Parkplatz vor der Burg ist euer Liebesleben an der Akademie in aller Munde.“
Prompt schoss Sofie das Blut in die Wangen.
„Was denn?“, lachte Tim. „Du küsst deinen Lover, dass einem nur vom Zusehen heiß wird, und jetzt wirst du rot? Du bist ja süß!“
„Ich weiß. Daran muss ich arbeiten“, murrte Sofie peinlich berührt.
„Ja, das solltest du tun. Immerhin gehörst du zu den wenigen, die das Gelände am Wochenende überhaupt verlassen dürfen. Von der Tatsache, dass du einen nicht schuppigen Freund hast, will ich gar nicht erst reden…“
Tim schaute Sofie belustigt an. Sein Blick war frei von Vorwürfen, trotzdem fühlte sie sich schuldig. Im Gegensatz zu den meisten anderen genoss sie Privilegien. Kein Wunder, dass Leute wie Leonie sie auf dem Kieker hatten.
„Das waren meine Bedingungen“, entschuldigte sie sich unbeholfen. „Ich wäre nicht an die Akademie gegangen, hätte ich mich von Jan trennen müssen.“
„Also, an dieser Rechtfertigerei solltest du ebenfalls arbeiten.“ Tim klopfte ihr brüderlich auf die Schulter. „Lass dich nicht in die Ecke drängen. Du hast etwas ausgehandelt, was dir wichtig ist. Dafür musst du dich nicht verteidigen. Das hätte jeder machen können.“
„Jeder? Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Sofie schüttelte den Kopf. „In der ersten Zeit ist der unbeaufsichtigte Kontakt zu Uneingeweihten verboten. Wenn man darauf besteht, wird man gar nicht erst an die Akademie aufgenommen.“
„Und genau das ist der Punkt!“ Tim grinste breit. „Unsere Kommilitonen waren alle viel zu scharf drauf, hierher zu kommen, dass sie ihren Liebsten freiwillig den Laufpass gegeben haben. Bei dir war es anders. Du hättest der Akademie den Laufpass gegeben, oder?“
Sofie nickte stumm.
„Na, siehste!“, meinte Tim zufrieden. „Jeder bekommt das, was er verdient. Lass dir nichts anderes einreden und vor allem lass dich nicht von dummen Sprüchen ärgern. Das hast du gar nicht nötig.“
„So wie er es sagt, hört sich das richtig an.“ Sofie seufzte und nickte abermals. „Danke.“
„Bitte.“
Schweigen. Sie tranken beide einen Schluck.
„Und?“ Tim strahlte unschuldig und kam auf seine ursprüngliche Frage zurück: „Was treibt man so am Wochenende mit dem WyvernPower Chef?“
Erinnerungen fluteten Sofies Geist: ein Sonnenuntergang, sie schwebte bis zum Hals im herrlich kühlen Ostseewasser, konnte Jans Haut auf ihrer spüren, er zog sie an sich, zärtliche Küsse, drängende Leidenschaft, nicht mehr warten wollen…
Ihr wurde heiß. Der Nachhall ihrer Erregung prickelte durch ihre Adern und prompt schoss ihr erneut die Röte ins Gesicht.
„Wir…ich…“, stammelte Sofie, „wir waren …“
Ihr Verstand stöhnte innerlich: „Wie peinlich!“ und schob resolut die erotischen Gedanken beiseite. Stattdessen zauberte er das Bild von einem großen Eisbecher hervor.
„Wir waren Eis essen in Italien“, brachte Sofie hervor.
„Soso, Eis essen also…“ Tim grinste anzüglich. „Wart ihr mit dem Jet unterwegs?“
„Nein“, antwortete Sofie und hoffte, dass ihre Feuermelder-Birne langsam wieder eine normale Farbe annahm. „Wir waren in einem winzigen Dörfchen im Gebirge. Da gab es garantiert keine Landebahn. Wir waren mit Bill unterwegs.“
„Er muss euch ja sehr mögen.“ Tim schob sein Glas auf den Tisch zurück. „Normalerweise lassen sich die Drachen nur ungern als Taxi benutzen.“
„Bill ist mit Jan und mir befreundet“, erklärte Sofie ernst. „Von Taxi kann da keine Rede sein. Es war sein Vorschlag und er hat das größte Eis verputzt.“
Tim schaute sie skeptisch an. „Ich habe gehört, dass dieser Billarius bummelig 400 Jahre alt ist und dazu begabt. Kann man einander da überhaupt auf Augenhöhe begegnen?“
„Absolut.“ Sofie nickte nachdrücklich und lächelte. „Sein Herz ist mindestens so groß wie seine Neugier. Eigentlich hat er immer tausend Fragen im Kopf, besonders, was uns Menschen angeht. Da lernt er von mir, ansonsten ist es umgekehrt. Bill gibt sein Wissen gern weiter.“
„Du strahlst ja richtig“, stellte Tim überrascht fest. „Ich finde die Weißen eher anstrengend mit ihrer wuseligen Art. Das macht mich irre. Die führen doch keinen Gedanken zu Ende.“
„Das stimmt so nicht“, widersprach Sofie schmunzelnd. „Sie beschäftigen sich nur mit mehreren Dingen gleichzeitig und springen zwischen diesen Themen hin und her. Das kann schon mal verwirrend für uns sein. Ich lasse nichts auf Bill kommen. Er ist großartig!“
„Na, diese Einschätzung beruht anscheinend auf Gegenseitigkeit.“ Tim lachte. „Ich habe Bilder von seinem Statement Gabriellosch gegenüber gesehen. Es ist schon ungewöhnlich, dass ein Weißer einen Roten so in die Schranken weist und sein Territorium verteidigt. «Sofie ist meine Schülerin»! Haha. Er hatte Schiss, das war offensichtlich.“
„Die Weißen sind nicht besonders mutig, aber sie sind loyal. Für die, die ihnen wichtig sind, würden sie durchs Feuer gehen“, erwiderte Sofie stolz. „So ist das mit Freunden.“
„Gut gesprochen.“ Tim erhob anerkennend seinen Eistee. „Darauf trinke ich. Auf die Freundschaft.“
Sofie lächelte und prostete ihm mit dem Wasser zu. „Auf die Freundschaft.
Beide nahmen einen Schluck.
„Und?“, erkundigte Sofie sich, „Wie lief es hier am Wochenende mit Gabriellosch und Tyra?“
„Gut“, erwiderte Tim betont unbefangen, doch Sofie bemerkte den Schatten, der über sein Gesicht huschte.
Ein Rieseln und sie war sich sicher, dass er neidisch auf den Roten war. Sein lässiges Angebot, Tyra nach ihrem Abschluss an der Akademie abzuschleppen, war durchaus ernst gemeint gewesen. Für ihn war Tyra mehr als nur irgendeine Freundin.
„Die zwei waren viel für sich“, berichtete Tim äußerlich gelassen. „Frisch Verliebte eben. Aber gegessen haben sie fast immer mit uns.“
„Jan hat mir erzählt, dass die Drachengefährten in der Bindungsphase ziemlich eifersüchtig werden und gefährlich aufbrausen können. Weißt du, wann die beiden weggehen müssen?“
„Ach“, winkte Tim ab, „in den nächsten Wochen ist das mit der Eifersucht noch kein Problem. Tyra meinte, dass sie jetzt erstmal Unterrichtsstoff aufholen will. Das Lernen über die Geistesverbindung ist sehr effizient.“
„Stimmt. Wir haben am Wochenende telefoniert. Da sagte sie: «Ich will nicht als Trottel bei den Wölfen aufschlagen.» Heute in Latein konnte sie jedenfalls richtig glänzen.“ Sofie blickte ihn nachdenklich an. „Waren das ihre Antworten oder die von Gabriellosch?“
Tim zuckte mit den Schultern. „Das ist nicht wichtig. Sobald sie vollständig miteinander verbunden sind, können sie eh auf das Wissen des Partners zugreifen.“
„Das ist schon ganz schön krass“, murmelte Sofie.
„Mhmmmm“, brummte Tim und trank noch einen Schluck Eistee. „Bis es soweit ist, werden allerdings noch etliche Monate ins Land gehen, wenn nicht sogar Jahre. Und außerdem kann über die Geistesverbindung dauerhaft nur das vermittelt werden, was der Lernende mit seinem eigenen Intellekt erfassen kann.“ Er grinste. „Aus Hein Blöd wird als Gefährte also auch kein Einstein.“
Sofie lächelte schief. „Irgendwie beruhigend, oder?“
„Jep. … Oh, schau an!“ Tim nickte Richtung Rasen. „Wenn man vom Teufel spricht, kommt er gerannt.
Tatsächlich schlenderten Gabriellosch und Tyra über die Wiese auf die Terrasse zu. Der Kommandant trug eine große Styroporbox mit dem Logo der Mensa in seinen Händen. Die kleine Schwedin wirkte neben ihm wie ein Kind.
Im selben Moment öffnete sich die Haustür und drei ihrer Mitbewohner betraten quatschend das Haus. Die anderen kamen hinter den Gefährten über den Rasen.
„Na, dann kann es ja losgehen mit der Essensschlacht“, seufzte Sofie. Wenn alle Bungalowbewohner an einem Tisch saßen, wurde es meist ziemlich laut.
„Doch!“
Tyras Stimme erscholl laut über der Grünfläche. Sofie sah, dass ihre Freundin Gabriellosch energisch in die Seite knuffte.
„Das sollten wir sehr wohl machen.“
„Nein!“, widersprach der Rote ebenso resolut. „Wie alle Drachen bin ich deutlich stärker als ihr Humanoiden. Welchen Sinn würde da ein Kampf machen. Außerdem brechen Menschenknochen schnell, besonders wenn sie so zart sind wie deine.“
„WAS?“, rief die kleine Schwedin entrüstet. „Bin ich dir etwa jetzt zu klein zum Kräftemessen? Das ist nicht dein Ernst!!!“
„Nein, du bist nicht zu klein. Du bist genau richtig für mich“, grummelte Gabriellosch genervt. „Und ja, ich meine das ernst! Ich werde NICHT mit dir kämpfen.“
„Du sollst ja auch GEGEN mich kämpfen“, protestierte Tyra.
Der Rote blickte kopfschüttelnd auf seine Gefährtin herab. „Ich könnte dich verletzen. Das wäre unverzeihlich.“
„Seit wann tragen Krieger Samthandschuhe?“, zischte Tyra abschätzig. „Ich kann einstecken, das weißt du.“
„Du hast das Herz einer Löwin“, bestätigte Gabriellosch. „Dein Körper ähnelt jedoch mehr einer Elfe.“
„Argh! Was für ein schwachsinniges Geseier!“
Tyras schwedischer Akzent schlug voll durch und ließ ihre Worte unbeabsichtigt niedlich klingen. Die beiden hatten die Terrasse fast erreicht.
Der Kommandant grunzte unwillig: „Wir Roten «seiern» nicht. Wir reden Klartext.“
Tim beugte sich amüsiert zu Sofie rüber und flüsterte: „Also sprachlich haben die beiden hier schon viel gelernt.“
Es war offensichtlich, dass Tim den Streit des Paares genoss.
„Ging das am Wochenende auch so?“, wisperte Sofie zurück.
Tim nickte mit einem ironischen Grinsen. „Jep. Deren Himmel hängt voller Geigen.“
„Aber sicher seiert ihr Roten. Und wie!“ Wütend stellte Tyra sich vor den Drachen und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Das sind doch alles bloß Ausreden! Ich weiß, dass du eine Prüfung ablegen musstest, bevor du für das Austauschprogramm zugelassen wurdest. «Unauffälliges menschliches Verhalten» ist Teil davon. Und den Schein bekommt nur der, der seine Kräfte menschlich wirken lassen kann. Dazu musst du sie dosieren. Also komm mir nicht mit“, Tyra äffte seine Stimme nach, „«Wie alle Drachen bin ich deutlich stärker als ihr Humanoiden.» Ich will doch bloß einen waffenlosen Übungskampf ohne Magie.“
„Und ich sage, das ist zu gefährlich.“ Gabriellosch trat einen Schritt zur Seite und ging an Tyra vorbei. „Du hättest keine Chance. Ich bin ein roter Krieger.“
„Falsch, du bist ein Weichei!“, widersprach Tyra aufgebracht. Sie war stinksauer.
Der Kommandant warf stöhnend den Kopf in den Nacken und stellte die Styroporbox auf den Tisch.
„Ehrlich Leute, ihre Hartnäckigkeit macht mich irre“, grollte er an Sofie und die anderen Bungalowbewohner gewandt. Mittlerweile hatten sich fast alle auf der Terrasse versammelt.
„Stimmt“, entgegnete Tim.
Gabriellosch furchte argwöhnisch die Stirn. „Du bist meiner Meinung?“
„Ja, und Tyras ebenso“, meinte Tim trocken. „Sie ist hartnäckig und du bist ein Weichei.“
Nun stemmte auch der Drache seine Fäuste in die Seiten. Seine Aura flackerte düster auf. „Willst du mich beleidigen?“
„Das würde ich nie wagen“, gab Tim liebenswürdig zurück. „Du bist ein roter Krieger, Kommandant! Wie könnte ich so dreist sein, dich herauszufordern?
Gabriellosch nickte grunzend. „Das will ich dir auch geraten haben.“
„Herausfordern kann man schließlich nur jemanden, der sich auch herausfordern lässt.“ Tim strahlte übers ganze Gesicht. „Aber du kämpfst ja nicht gegen uns Menschen mit unseren zerbrechlichen Knochen.“
„Für dich mache ich glatt ‘ne Ausnahme, Bürschchen!“, fauchte der Drache barsch und beugte sich mühsam beherrscht zu Tim herab.
Sofie schluckte alarmiert. Die Aura des Roten war aufgewühlt und bedrohlich aggressiv. „So sieht eine Gewitterfront aus, kurz bevor es losgeht! Der Adler ist gereizt bis unter die Hutschnur. Ist Tim verrückt geworden?!“
Doch Tim gab sich gelassen. „Ach, der Kampf mit mir würde dich langweilen. Nimm lieber sie!“ Er zeigte auf Tyra.
Die strahlte ihn an. „Danke, mein Schatz! Endlich mal einer, der meine Fähigkeiten nicht belächelt!“
„Ich bin doch nicht lebensmüde, Engelchen!“ Tim warf ihr eine Kusshand zu, bevor er sich mit ernstem Gesicht an den Drachen wandte. „Falls du an diesem Tisch eine kriegerische Herausforderung suchst, nimm deine Gefährtin.“
Schweigen.
Gabrielloschs Augen waren schmal, die Hauptschlagader an seinem Hals pulsierte und seine Aura erinnerte an einen Lavastrom. Ihm war anzusehen, dass er Tim am liebsten eine verpasst hätte. Oder auch zwei.
„Tyra zu unterschätzen, gibt blaue Flecke“, murmelte Jule in die angespannte Stille hinein.
Sofie spürte, wie sich Zustimmung unter denen ausbreitete, die die kleine Schwedin schon länger kannten.
„Nur einen Übungskampf“, bat Tyra und legte ihrem Gefährten begütigend die Hand auf den Arm.
Sogleich beruhigte sich die Aura des Drachen merklich.
„Danach nerve ich dich auch niiiie wieder damit!“, versprach sie und lächelte treuherzig. „Ehrlich!“
Gabrielloschs Widerstand bröckelte. Trotzdem drehte er sich schnaubend zu ihr um. „Was, wenn ich dich verletze?“
„Ach“, entgegnete Tyra gelassen, „der Phönix hat Eliandes Nummer in ihren Favoriten.
Die beiden taxierten ihren Partner für einen Moment.
Halsstarrig. Keiner wollte nachgeben.
„Ein einziger Kampf“, knurrte Gabriellosch irgendwann, „und danach ist dieses Thema ein für alle Mal abgehakt!“
„Ja.“ Tyra nickte feierlich. „Abgehakt. Einverstanden.“
Wie sie so dastand, bekleidet mit einer luftigen Sommertunika, einem halbtransparenten knielangen Rock, den offenen blonden Haaren, die ihr sommersprossiges Gesicht noch schmaler erscheinen ließen, und den grünen Augen voller Aufrichtigkeit, ganz allein vor der großen Wiese mit dem alten Baum, da wirkte Tyra tatsächlich wie eine Elfe: harmlos und zart, vor allem jedoch wehrlos. Es bestand kein Zweifel, dass der rote Krieger sie mit dem kleinen Finger besiegen würde.
„Was habe ich mir nur dabei gedacht?“, stöhnte Gabriellosch.
„Dass ich noch dickköpfiger bin als du?“
Tyra lächelte unschuldig, angelte sich ein Zopfgummi aus der Rocktasche und band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
„Na, das ist allemal wahr“, grummelte der Krieger. Schicksalsergeben wandte er sich an Sofie. „Legst du dein Handy bereit? Ich kenne Eliandes Gedankenmuster nicht und möchte keine Zeit verlieren, falls…“ Er brach ab.
Sofie nickte stumm und zog ihr Smartphone aus der Fleecejacke. Sie hatte ein mulmiges Gefühl.
„Der Ausgang des Kampfs ist klar. Ich weiß, dass Tyra taff ist, aber warum macht sie das bloß? Und wieso hat Tim ihr geholfen?“
Tim zwinkerte seiner Freundin zu. Zuversichtlich reckte er seinen Daumen in die Höhe. „Zeig ihm, wer die Hosen anhat, Engelchen!“
Gabriellosch bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick und näherte sich seiner Gefährtin. Alles an ihm war defensiv in diesem Moment. Er wollte sie nicht angreifen. Er WÜRDE sie nicht angreifen. Allenfalls würde er sich verteidigen. Halbherzig, um ihren zerbrechlichen Körper nicht zu verletzen.
„Keiner sieht bei dem anderen in die Gedanken“, forderte Tyra.
„Natürlich nicht!“, brummte der Drache. „Dann wäre das hier ja noch sinnloser.“
„Genau.“ Tyra ging leicht in die Knie und suchte sich mit den Füßen einen sicheren Stand. Kämpferisch blickte sie zu ihrem Gefährten auf.
„Bereit?“
„Nein“, murrte der Rote, „aber lass es uns einfach hinter uns bringen, ja?“
„Nimm mich ernst“, verlangte Tyra. Sie reckte ihm energisch die Stirn entgegen.
„Wie denn?“, zischte der Rote. Er rollte genervt mit den Augen und hob seine Hände. „Ich bin einen halben Meter größer als du und meine Armlänge beträgt bald das Doppelte von deiner.“ Er machte einen zaghaften Schritt auf sie zu, so dass er direkt vor ihr stand. „Du kommst nicht mal an mich heran. Wie willst du denn…“
Während er sprach, ließ er achtlos seine Hände sinken. Blitzschnell packte Tyra mit ihrer rechten Hand sein linkes Handgelenk, machte einen Satz hinter sein linkes Bein, stemmte ihren Fuß bei seiner Ferse ins Gras, beugte ihr Knie und riss den Drachen mit einem überraschend starken Impuls nach hinten.
Das hatte der Krieger nicht kommen sehen. Er wollte sich mit einem Rückwärtsschritt abfangen, doch das verhinderte Tyras aufgestelltes Bein. Es ließ sein Knie einknicken. Gabriellosch taumelte. Wie eine gefällte Eiche stürzte er ins Gras.
Rumms!!!
Einen Wimpernschlag später hockte Tyra auf seinem Brustkorb, fixierte seine Arme unter ihren Knien und drückte ihm die rechte Handkante an den Hals.
„Deine Unaufmerksamkeit und mein tiefer Schwerpunkt machen einiges wett, mein Lieber“, erklärte Tyra lässig.
„Alter Schwede!“, keuchte Sofie. Sie war baff.
„Nee, junge Schwedin!“, kicherte Tim neben ihr. „Die Roten sehen es nie kommen. Bislang hat sie noch jeden Krieger herausgefordert, der bei uns eingezogen ist.“
Gabriellosch starrte sie entgeistert an. „Du hast mich stolpern lassen!“
Seine Gefährtin strahlte. „Richtig, du Esel!“
Dann rollte sie sich athletisch von seinem Oberkörper und kam in sicherer Entfernung wieder zum Stehen. „Um dich umzuhauen bin ich schließlich viel zu klein und zu schwach. Aber ich bin nicht blöd!
Fassungslos rappelte der Kommandant sich auf. „Mach das noch mal.“
„Vergiss es!“, lachte Tyra. „Bei dem Größenunterschied klappt das nur, wenn der Gegner nicht damit rechnet.“
Das Gesicht des Drachen verdüsterte sich. „Na schön. Und jetzt?“
„Jetzt bist du dran.“ Sie grinste und ging erneut leicht in die Knie. „Greif mich an!“
Gabriellosch schnaubte: „Wenn ich dich wirklich treffe, ist es über unsere Geistesverbindung, als würde ich mich selbst schlagen.“
„Weichei!“, trällerte Tyra honigsüß. „Wir waren uns doch einig, dass wir das mit der Geistesverbindung während des Kampfes sein lassen.“
Der Rote grunzte unwillig. Er hatte eindeutig Manschetten, nach ihr zu schlagen.
„Nimm mich ernst“, flötete Tyra und behielt seine Bewegungen genau im Auge.
„Ich werde dir deinen hübschen Dickschädel zertrümmern“, jammerte der Drache und machte einen zögerlichen Schritt auf sie zu.
„Das wollen wir erstmal sehen.“ Harmlos lächelnd wich Tyra zwei Schritte zurück. „Na los, mach schon!“
Neben Sofie gluckste Tim amüsiert: „Sie wird ihn so dermaßen nassmachen!“
Und tatsächlich: in dem Augenblick, als der Kommandant halbherzig zum Schlag ausholte, tauchte Tyra ab, hieb mit der rechten Handkante gegen die Innenseite von Gabrielloschs linkem Oberschenkel und hechtete durch seine Beine. Sie rollte sich geschickt ab und kam sofort in sicherer Entfernung hinter ihm auf die Füße.
„Wird die Oberschenkelarterie mit einem Messer verletzt, hast du vielleicht noch fünf Minuten, bis du verblutet bist“, dozierte sie. „Verdammt, nimm mich endlich ernst!“
Tim unterdrückte ein Prusten. „Hach! Die Roten schauen immer so herrlich belämmert aus der Wäsche, wenn ihnen dämmert, dass unser Engelchen in Wahrheit ein verkappter Kampfterrier ist.“
Gabriellosch sah wirklich ziemlich verdattert aus. Unzufrieden runzelte er die Stirn. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, seine Gefährtin nicht zu verletzen und seine Kriegerehre wiederherzustellen.
Es folgten zwei verhaltene Angriffe vom Roten, denen die blonde Schwedin auswich.
Gebannt beobachtete Sofie den Schlagabtausch ihrer Freunde. „Die Körperspannung des Adlers hat sich verändert. Nun ist er auf der Hut!“
Trotzdem wirkte der Krieger gehemmt bei seiner nächsten Attacke.
Tyra sprang früh genug beiseite und feixte: „Du schlägst zu wie ein Bär in der Winterruhe, aber echt!“
Das reichte.
Ein Ruck ging durch Gabrielloschs Aura. Das Mitgefühl für seine Gefährtin verschwand, der Kampfgeist loderte hell auf. Seine Augen wurden schmal und die Bewegungen raubtierhaft. Aufmerksam taxierte er seine Gegnerin.
Sofie umklammerte beklommen ihr Smartphone. „JETZT nimmt er sie ernst.“
„Na endlich, das Bärchen ist wach!“, provozierte Tyra ihn weiter und wollte um ihn herumtänzeln.
Doch diesmal war der Drache schneller. Seinen Schlag konnte niemand vorausahnen. Gabriellosch traf seine Gefährtin von unten mit der flachen Hand am Brustkorb. Der Hieb ließ sie rückwärts durch die Luft schießen.
Sofie hielt den Atem an. In Zeitlupe sah sie Gabrielloschs Augen sich weiten. Zufriedenheit spiegelte sich darin wider. Aber dann begriff er, was er getan hatte und Entsetzen erfasste ihn.
In Tyras Flugbahn stand der alte Baum. Gegen den würde sie im nächsten Atemzug mit ihrem Rücken krachen.
Hilflos hob Gabriellosch seine linke Hand, so als wolle er sie in der Luft festhalten.
Sofie spürte das typische Kribbeln von Magie. Die Aura an der Faust des Drachen veränderte sich.
„Verdichtete Luft!“ , erkannte Sofie. „Er formt einen Luftschild!“
Und den schleuderte der Drache seitlich gegen seine Gefährtin. Er traf Tyra an der rechten Schulter. Der Impuls veränderte ihre Flugbahn so, dass sie knapp am Baum vorbeisegelte und zwei Meter weiter im Gras landete.
Geschickt rollte die Schwedin sich ab. Beiläufig rieb sie sich die Schulter, warf dem Baum einen verwirrten Blick zu und taxierte sofort wieder ihren Gegner .
Ein Raunen ging durch die Bungalowbewohner, gefolgt von unterdrückten Schreien und aufgeregtem Gemurmel.
Gabriellosch war blass geworden. Betroffen machte er einige Schritte auf seine Gefährtin zu. „Alles in Ordnung bei dir?“
„Na logo.“ Tyra fasste sich zwar ein zweites Mal unbehaglich an die Schulter, doch sie meinte lässig: „Das ist gleich wieder weg.“
Der Drache seufzte erleichtert. „Wir brauchen unbedingt ein geeignetes Übungsgelände, bevor wir fortfahren.“
Tyra gab ihre Kampfhaltung auf.
„Fortfahren?“ Hoffnungsvoll schaute sie Gabriellosch an.
Der Rote nickte ernst.
Tyra grinste harmlos. „Ich dachte, wir haken das Thema ein für alle Mal ab, wenn wir hier fertig sind.“
Gabriellosch schüttelte feierlich seinen Kopf. „Nein, Löwinherz.“
„Aber dann … müsste ich“, sie gestikulierte unbestimmt mit ihren Händen, „mein Versprechen dir gegenüber brechen. Wäre das nicht unehrenhaft?“
„Du nimmst mich schon wieder hoch, nicht wahr?“, knurrte der Drache und packte sie mit seinen Pranken bei den Oberarmen.
„Nur ein bisschen.“ Tyra kicherte kokett. „Du stehst doch auf selbstbewusste Frauen, oder etwa nicht?“
Die Stimmung kippte. Erotische Schwingungen breiteten sich zwischen den Gefährten aus.
„Und wie ich das tue“, raunte Gabriellosch. „Wo hast du diese Angriffstaktik bloß her?“
Tyra lächelte. „Meine Mutter sagt immer: «Für seine Körpergröße kann niemand was. Aber wer wehrlos ist, ist dumm.»“
„Eine kluge Frau, deine Mutter“, krächzte der Drache kehlig. Das erregte Flirren in seiner Aura nahm zu.
„Ja, das ist sie“, bestätigte Tyra.
Die Blicke der beiden trafen sich und verhakten sich ineinander. Das unsichtbare Prickeln um sie herum wurde stärker.
„Küss mich“, forderte Tyra mit belegter Stimme.
„Zu Befehl.“ Gabrielloschs Aura pulsierte, als er sich zu ihr herab beugte und seine Lippen leidenschaftlich auf ihre presste .
Die Gefährten schienen die Welt um sich herum zu vergessen.
„Wow! Die Anziehungskraft zwischen den beiden ist wie ein Sog!“ , stellte Sofie erstaunt fest. „Die können die Finger nicht voneinander lassen.“
Die Lust der Gefährten war ansteckend. Prompt dachte Sofie sehnsüchtig an Jan.
Am Rande nahm sie wahr, dass Gabrielloschs Aura flirrend auseinanderfloss. Nicht mehr lange und er würde sich in seine Drachengestalt verwandeln müssen.
„Anstandsmitbewohner an die Frischverliebten“, meldete sich Tim mit lautstarkem Singsang zu Wort. „Die Kinder sitzen alle hier am Tisch. Wir werden gleich blind, wenn ihr so weitermacht!“
Mühsam beherrscht löste sich der Drache von seiner Gefährtin. Mit geschlossenen Augen stand er für ein paar Sekunden einfach nur da und versuchte, seine überschäumenden Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
„Was denn?“, meinte Tyra mit einem lässigen Blick in die Runde. „Ihr habt das Essen ja noch nicht mal aus der Box geholt! Komm mein Großer, bis die Trantüten endlich fertig sind, haben wir mindestens noch für einen Kuss Zeit.“
„Wie könnte ich dir da widersprechen?“, stöhnte Gabriellosch rau.
„Wunderbar“, stichelte Tim, „damit hätten wir also geklärt, wer bei den beiden die Hosen anhat, auch wenn es in diesem Fall ein Rock ist.“