26. Frühnebel
Sofies Drohung, die Steinburg-Akademie zu verlassen, zeigte bei der Hochschulleitung Wirkung. Ob es daran lag, dass Sofie direkt vom Laden mit durstigen Augen in Lorans Büro stürmte, um dort ihren Frust abzuladen, konnte sie nicht sagen. Tyra hatte gehört, dass Xavosch nur kurz nach ihr beim Schulleiter aufgetaucht war und dort seine Sicht des Vorfalls geschildert hatte, untermalt von den passenden Erinnerungen selbstverständlich. Und weil Sofie beim Ableiten ein Loch in die Laborwand gesprengt hatte, mischte sich Eliande am Abend ebenfalls in die Diskussion ein.
„Meine hässliche Wut-Spinne hat keinen Körper mehr.“
Es war fünf Uhr morgens. Sofie konnte nicht schlafen.
„Wie auch immer. Zumindest besucht Xavosch seit einer Woche andere Kurse.“
Trotzdem hatte der Blaue die Akademie nicht verlassen. Im Gegenteil, er absolvierte das Austauschprogramm seit dem Pralinenregen-Montag mit großer Ernsthaftigkeit. Von Sofie hielt er Abstand, aber anderen Menschen gegenüber zeigte er sich für seine Verhältnisse überraschend interessiert. Beim ersten Mal dachte Sofie, sie hätte sich verguckt, doch das hatte sie nicht.
„Es war tatsächlich Xavosch. Er hat sich intensiv mit zwei Studenten unterhalten. Seine Aura war offen und zugewandt – warm wie das Mittelmeer im Spätsommer. Und er hat mit ihnen gelacht. Hmmm... Ich konnte keine Ironie bei ihm fühlen.“
Gabriellosch, Tyra, Tim und Bill berichteten Ähnliches. Außerdem stellte Xavosch sich neuerdings sogar als Flugpartner zur Verfügung. In der ersten Stunde waren die Schüler misstrauisch, aber das legte sich wieder. Und laut Tyra machte er seine Sache gut.
Sofies Freunde konnten sich nicht vorstellen, dass ihr Möchte-Gern-Gefährte aus freien Stücken handelte. Sie vermuteten, dass dem jungen Lichtmeister sowohl vom Kaleidoskop als auch vom König der Blauen befohlen worden war, zu bleiben und sich Mühe mit den Menschen zu geben .
Sofie wälzte sich auf die andere Seite. Irgendwie war ihr Bett in dieser Nacht ungemütlich.
„Ich weiß nicht. Vielleicht hat Xavosch Anweisungen von Oben bekommen, doch… ach, sein Verhalten wirkt anders auf mich. Seine Aura ist weich. Da ist kein Zwang. … Er geht mir aus dem Weg, weil er mich nicht belästigen möchte, nicht weil er sich fernhalten MUSS. Und was sein Interesse an seinen neuen Kursteilnehmern angeht, also ich fürchte, das ist echt.“
Diese Tatsache konnte sie selbst kaum glauben, aber sie spürte, dass sie der Wahrheit entsprach. Xavosch ließ sich auf seine Kommilitonen ein, um sie kennenzulernen. Er wollte sich mit ihnen austauschen, sie verstehen.
„Gabriellosch hält das für eine Kriegslist: geheuchelte Freundschaft, um den Feind auszuspionieren. Und Bill verweist pausenlos darauf, dass ein erzkonservativer Wertebewahrer niemals zu einem Menschenfreund mutieren kann. Tim und Tyra tippen auf Aufgabe. Ihrer Meinung nach geht Xavosch den Weg des geringsten Widerstands. Er erfüllt die Forderungen der Führung, um später sagen zu können, er hätte alles probiert. Damit er schnell wieder nach Hause darf.“
Sie schluckte.
„Nach Hause in den Ozean.“
Im Laden hatte der Blaue ihr die kollektiven Vergehen ihrer Art um die Ohren gehauen.
„Er bereut seinen Ausbruch, da bin ich sicher. Die Aktion tat ihm schon leid, bevor er geendet hatte. Vor allem die Heftigkeit. Aber nicht die Anklage an sich.“
Ohne ihren Zauber hätte er das nicht gemacht. Sofie seufzte und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Sie hatte unbewusst seine Barrieren unterwandert, weil sie seine Liebe nicht ertragen konnte. Mit seinem Hass kam sie besser klar.
Xavoschs Verachtung für die humanoide Art war ungebrochen, dennoch war es ihm wichtig, dass sie seine Sicht auf die Menschen nachvollziehen konnte. Sie sollte ihn verstehen.
„Das ist neu. Vor ein paar Wochen hat es ihn nicht die Bohne interessiert, ob der Rest der Welt seinen Gedanken folgen kann. Er weiß, dass er recht hat. Und Basta.“
Das war jetzt anders. Xavosch war bestrebt, seinerseits die Menschen zu verstehen und zwar nicht das Kollektiv, sondern die Individuen.
„Er versucht, sich auf meine Kommilitonen einzulassen! Unvoreingenommen und aufrichtig. Wer hätte das gedacht? Aus diesen Kontakten könnten sich mit der Zeit sogar Freundschaften entwickeln… mit Wesen, die mehr oder weniger dafür verantwortlich sind, dass seine Heimat zerstört wird. Das ist absurd.“
Sofie schüttelte ihren Kopf. Die roten Leuchtziffern ihres Weckers verkündeten, dass es viertel nach fünf war. Viel zu früh, um aufzustehen. Draußen war es noch stockfinster.
„Ist das wirklich so absurd?“, erkundigte sich die Margareta in ihr. „Denk mal nach: Er hat dir versprochen, dir kein einziges Leid mehr zuzufügen. Und du willst, dass er dich in Ruhe lässt.“
„Ja. Und?“
„Indem er sich auf deine Kommilitonen einlässt, erkundet er die menschliche Natur. Deine Natur. Er muss wissen, was dich bewegt, was dich ängstigt, was du liebst. Er studiert die anderen, um zu begreifen, wie DU tickst. Und er möchte dir beweisen, dass du ihm vertrauen kannst.“
„Also doch eine Kriegslist.“
„Wenn du Liebe als Krieg definierst, ja. Xavosch will dich. Er bereitet sich auf dich vor“, analysierte ihr Verstand. „Es gefällt mir nicht, aber er hält sich von dir fern, um dir nahe zu sein.“
Das kam hin.
„Ziemlich gut sogar.“
Vor ein paar Tagen hatte er trotz seines selbstauferlegten Kontaktverbots mit ihr geredet. Sofie war mit Unterlagen vollbepackt gewesen. Eigentlich hätte sie sich zusätzlich zu ihrem Rucksack zwei Taschen holen müssen, um alles mitzubekommen, aber das war ihr zu umständlich gewesen. Also hatte sie die Ordner und Bücher kurzerhand aufeinander gestapelt und vor ihrem Bauch geschleppt. Schwer beladen wie sie war, konnte sie die Tür vom Seminargebäude bloß noch mit dem Rücken aufdrücken.
„Es hätte mir vorher klar sein müssen, dass das nicht gutgehen kann, doch wie das so ist… Die Tür ist aber auch schwergängig!
Nun ja, bevor ihre Unterlagen auf den Boden klatschen konnten, war Xavosch zur Stelle gewesen und hatte den wackeligen Stapel stabilisiert. Anschließend hatte er ihr wortlos die Hälfte abgenommen und Anstalten gemacht, ihren Kram zu ihrem nächsten Kurs zu tragen. Natürlich wusste er genau, was auf ihrem Stundenplan stand.
Seine Aura war auf der kurzen Strecke mehr als aufgewühlt gewesen, ein bunter Gefühlscocktail, der zur Hauptsache aus Schmerz bestand.
„Du musst das nicht tun“, hatte Sofie gemurmelt. „Ich schaff das schon allein.“
„Ich weiß“, hatte Xavosch geantwortet und die Sachen dennoch bis zu ihrem Platz getragen. Dort hatte er ihre Unterlagen wortlos auf dem Tisch abgelegt.
Eine Sekunde lang hatte er innegehalten, „das war wie eine Ewigkeit“ , dann hatte er ihr zugenickt, sie mit seinen intensiven blaugrünen Augen angesehen und war gegangen.
„Einfach so. Seine Aura ist fast übergelaufen. Er wollte mir so viel sagen und doch kam kein Wort über seine Lippen.“
„Ich bin trotzdem für Jan“, brummte Margareta.
Sofie schluckte beklommen.
5 Uhr 20. Die Zeit kroch.
Xavosch liebte sie. Daran bestand kein Zweifel.
„Er hat sich für mich entschieden, mit allem was dazu gehört.“
Sofie stöhnte leise und wälzte sich geräuschvoll auf die andere Seite.
Offensichtlich machte dieser Drache keine halben Sachen. Als Wertebewahrer hasste er die Menschen mit jeder Faser seines Körpers und verweigerte jegliche Kooperation. Hätte ihm sein König nicht befohlen, am Austauschprogramm teilzunehmen, wäre er nie im Leben hier in der Steinburg aufgetaucht. So jedoch war ihm lediglich der Boykott der Details geblieben und den hatte er bis zum letzten Fitzelchen ausgereizt.
„Was für ein Dickschädel! Er hat sich so dermaßen quergestellt, dass sie schon überlegt hatten, ihn vorzeitig nach Hause zu schicken. Haben sie aber nicht. Mist.“
Sofies Kopfkissen schien aus zusammengeknoteten Socken zu bestehen. Genervt schüttelte sie es auf.
Selbst nachdem der Lichtmeister sich mit ihr verbunden hatte, hielt er an seinen Grundsätzen fest.
„Er hätte sich lieber seine Seele aus dem Leib gerissen, als sich mit einem Menschen abzugeben. … Aber das haben sie nicht zugelassen. Sie haben ihn dazu gezwungen, in meiner Nähe zu bleiben.“
Wie es Xavosch dabei ergangen war, hatte Sofie mehr als einmal hautnah mitbekommen.
„Das war die reinste Folter für ihn. Der Widerspruch zwischen dem, was er für mich fühlte und dem, was er als Wertebewahrer fühlen sollte, hat ihn fast um den Verstand gebracht. Kein Wunder, dass er ausgeflippt ist.“
5 Uhr 22. Eine Schnecke war ‘ne Rakete im Vergleich zur Zeit.
Xavoschs Zerrissenheit hallte in Sofie nach. Ohne es zu wollen, keimte Mitgefühl in ihr auf.
„Ich habe es ihm auch nicht leichter gemacht. Ich habe ihn immer bloß weggestoßen.“
„He!“, meldete sich Margareta empört. „Könntest du bitte damit aufhören?“
„Womit?“
„Womit wohl?“, fragte Margareta barsch. „Mit dem schlechten Gewissen! Du bist nicht für das verkorkste Innenleben des Lichtmeisters verantwortlich. Schon vergessen? Er hätte dich beinahe sterben lassen.“
„Ja.“
Dieses Argument zog wunderbar, genau wie letztes Mal.
Diffuser Protest meldete sich in Sofie. Oder doch nicht?
„Aber das …“ Der Protest wurde klarer. „Es … also, das war nichts Persönliches.“
„Ach, ehrlich?“ Die Stimme ihrer Vernunft troff vor Ironie.
„Ja. Xavosch wollte die Menschenfrau fallen lassen. Nicht speziell mich.“
„Pah! Und wenn schon. Es kommt aufs selbe raus. Außerdem hast du dich nicht mit ihm verbunden. Du musst deine eigenen Interessen wahren. Du liebst Jan, also welchen Grund hättest du, Xavosch auf die Pelle zu rücken? Du würdest ihm damit nur falsche Hoffnungen machen. DAS wäre unfair.“
„Stimmt…
„Genau. Hör auf, dich in den Blauen reinzufühlen. Wer weiß, wohin das führt. Ich glaube nicht, dass du da hinwillst. Und ich auch nicht.“
Die Warnung ihres Verstandes trug nicht gerade zu Sofies Entspannung bei. Sie fand einfach keine gemütliche Liegeposition. Schnaufend wälzte sie sich abermals auf die andere Seite. Ihr Gehirn ratterte unaufhörlich weiter.
In dem Moment, als sie abzustürzen drohte, hatte Xavosch sich entschieden.
„Er hat sich für mich entschieden.“
Und das offenbar mit allen Konsequenzen. Der Wertebewahrer hatte in den Tagen danach sein Inneres umgekrempelt und jeden einzelnen Leitsatz daraufhin überprüft, ob dieser mit seinem neuen Dasein als Gefährte vereinbar war. Alles, was nicht passte, hatte er über Bord geworfen: den pauschalen Hass, die ungefilterte Verachtung einer ganzen Rasse gegenüber, das krampfhafte Festhalten an überholten Traditionen und ebenfalls seine Unnahbarkeit.
„Er hat sein halbes Ich entsorgt. Wie kann das gehen?“
5 Uhr 25.
Sofie fand keine Ruhe.
«Als Gefährte wirst du mehr du selbst sein, als du es ohne deinen Gefährten je sein könntest.» Das hatte die Kommandantin der Gefährten Sofie vor einem halben Jahr erklärt.
„Gradlinigkeit gehört dann wohl zu Xavoschs wahrem Charakter. Wenn er etwas tut, zieht er es voll durch. Er wird nicht aufhören, um mich zu werben, bis ich mich auf ihn einlasse. … Oh nein! Jan!“
„Wolltest du nicht damit aufhören?!“, meckerte ihr Verstand.
„Ja!“ , jammerte Sofie und vergrub ihren Kopf ein zweites Mal unter dem Kissen. „Verdammt.“
Im Bett neben ihr regte sich Tyra.
„Was’n los?“, murmelte ihre Freundin. Ihre Stimme klang träge. „Kannst du nicht schlafen?“
„Neee“, stöhnte Sofie. „Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich steh auf. Mach die Augen wieder zu.“
„Zu spät“, gähnte Tyra. „Ich muss heute eh früher hoch. Ich habe meine Hausaufgaben noch nicht alle fertig.
„Was denn?“, neckte Sofie. „Ich dachte, das geht jetzt wie von selbst, wo du auf Gabrielloschs Wissen zurückgreifen kannst.“
„Theoretisch schon.“ Die kleine Schwedin reckte sich. „Aber praktisch sind wir meistens mit anderen Dingen als den Aufgaben beschäftigt, falls du verstehst was ich meine…“
Obwohl es noch stockdunkel war, konnte Sofie das anzügliche Grinsen im Gesicht ihrer Mitbewohnerin förmlich sehen.
Sofie lachte.
Tyra setzte sich auf. „Blöderweise haben meine Dozenten für die Vertiefung unserer Bindung nur Verständnis, sofern ich meine Übungen gemacht habe.“
„So ein Schiet aber auch“, kicherte Sofie.
„Ja, ja, Gabriellosch und ich haben es echt nicht leicht.“
Tyra knipste ihre Nachttischlampe an und kniff die Augen zusammen. „Oah, viel zu hell!“ Sie linste auf ihren Wecker. „Und zu früh auch. Bei allen fleißigen Studenten, was hindert dich um diese Uhrzeit am Pennen?“
„Nicht was, sondern wer“, korrigierte Sofie und zog sich die Decke über den Kopf.
„Ach, sag bloß, du bist aufgeregt, weil dein Batteriefreund heute Geburtstag hat und er für euch zwei einen zusätzlichen freien Tag bei der Führung rausgeschlagen hat.“
„Nein“, schnaufte Sofie, „das ist es nicht. Leider! Dabei freue ich mich schon auf nachher.“
„Na, in dem Fall bleibt nur der Lichtheini.“
„Richtig“, nuschelte Sofie, „es ist Xavosch.“
„Wie das? Hält er sich nicht seit einer guten Woche von dir fern?“
„Doch. Tut er.“ Sofie streckte ihre Nase unter der Decke hervor und schaute unglücklich zu ihrer Freundin rüber.
Die runzelte die Stirn. „Dann ist doch alles super. Warum zerbrichst du dir den Kopf?“
„Ach… irgendwie… ich weiß auch nicht.“ Hilflos starrte Sofie an die Wand. „Er tut mir leid.“
Schweigen.
Irritiert guckte Sofie Tyra an. „Was denn? Wo bleibt dein «Vergiss den Heini! Er ist es nicht wert, dass du einen Gedanken an ihn verschwendest.»?“
„Das macht Pause.“ Tyra zog nachdenklich die Nase kraus. „Gestern haben Gabriellosch und ich etwas beobachtet. Mein Großer meint, dass ich dir das nicht sagen soll, aber jetzt“, sie zuckte mit den Schultern, „wenn du dir eh dein Hirn zermarterst.“
„Was hast du gesehen?“
Tyra seufzte unschlüssig. Schließlich gab sie sich einen Ruck. „Gabriellosch und ich nehmen am Fortgeschrittenen-Flugtraining teil. Xavosch ist da gestern ebenfalls aufgekreuzt. Und er kam nicht allein.“
Sofie schüttelte verwundert den Kopf. „Wen hatte er denn dabei?“
„Kamikaze-Kai.“
„Was? Was will er denn mit dem?“
Tyra wischte sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und grinste. „Fliegen. Was sonst? Kai konnte es kaum abwarten, endlich auf Xavoschs Rücken zu kommen. Du weißt ja, die Blauen gelten als besondere Herausforderung und Kai ist kein Manöver zu gewagt.“
„Ja, dafür ist Kai bekannt.“ Sofie grunzte nur.
„Jedenfalls“, fuhr die kleine Schwedin fort, „hat dein Beinahe- Hoffentlich-Nie-Gefährte ihm einen wilden Ritt versprochen, sofern Kai die erste halbe Stunde nach seiner Pfeife tanzt.“
„Und was wollte Xavosch von ihm?“
„Kai sollte mit ihm fliegen, ohne mit ihm auf der Geistesebene zu kommunizieren. «Das ist wichtig für mich», hat Xavosch gesagt. «Ich muss das üben.»“
Unbehagen breitete sich in Sofie aus. „Er will noch immer mit mir in die Luft.“ Sie schluckte. „Wie lief es?“
„Allenfalls mittelmäßig. Aber die beiden haben sich am Ende gleich für die nächste Stunde verabredet.“ Tyra schaute sie ernst an. „Sofie, Xavosch hat nicht aufgegeben. Im Gegenteil, er bereitet sich auf seine Zeit mit dir vor. Und er ist gründlich.“
Sofie nickte stumm. Genau das hatte sie ja vermutet. Trotzdem fühlte sie sich in die Ecke gedrängt.
Plötzlich wurde ihr das Zimmer zu eng. Abrupt stand sie auf.
„Ich brauche frische Luft. Ich geh joggen.
Es war zwanzig vor sechs, als Sofie den Bungalow Nummer 23 in ihren Laufklamotten verließ. Außer ihr war noch niemand auf den Beinen. Die Morgendämmerung tauchte das verwaiste Gelände der Akademie in fahles Licht und die Luft war herbstlich kühl.
„Kein Wunder, heute ist der 19. September, Jans Geburtstag. Der Sommer ist so gut wie vorbei.“
Sofie nahm den Sandweg Richtung See. Sie musste ihre aufgewühlten Gedanken beruhigen. Der Blick übers Wasser würde ihr gut tun, selbst wenn der große Hochschul-Teich nicht ihre geliebte Ostsee war.
„Was ist eigentlich los mit mir?“
Sofie war sich hundertprozentig sicher, dass von ihrer Seite aus keinerlei Bindung zu Xavosch bestand. Sie liebte ihn NICHT. Kein Stück. Nicht mal ein klitzekleines Bisschen.
Trotzdem war mit seinem Hass auch ihre eigene Abwehr verschwunden. Es war fast wie bei einem Spiegelbild.
„Ich will es nicht, aber ich fühle mit ihm. Ich kann ihn verstehen.“
„Das ist der Anfang vom Ende“, prophezeite die Margareta in ihr.
„Blödsinn!“ , zischte Sofie und beschleunigte ihr Tempo.
„Du kannst davor nicht wegrennen.“
„Will ich ja gar nicht! Ich will nur meine Gedanken klarkriegen.“
„Na dann, viel Erfolg.“
„DANKE!“
Sofie verdrehte genervt die Augen und versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Ihre Schritte knirschten auf dem Sandweg. Die Morgenluft kühlte ihr Gemüt. Endlich fand sie ihren Takt.
„So ist es besser.“
Ihr blauer Möchte-Gern-Gefährte tat ihr also leid. Na und? Hatte das irgendwas zu bedeuten? Nein. Die Bindung war von ihrer Seite aus blockiert. Sie hatte nicht vor, irgendetwas daran zu ändern. Selbst wenn sie es gewollt hätte, konnte sie das nicht. Wie auch? Sie hatte keinen Schimmer, was da los war.
Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie Jan liebte. Er hatte sie in mehr als nur einer Hinsicht gerettet und ihr gezeigt, wer sie war. Und er liebte sie. Ganz unaufgeregt, ohne irgendeine kranke speziesübergreifende magische Bindung, ohne Gehirnwäsche. Jan und sie waren einfach bloß zwei Menschen, die einander zugetan waren.
„Das fühlt sich richtig an. Und so wird es auch bleiben.“
Durfte Xavosch ihr leidtun?
„Hmm.“
Der See kam in Sicht. Einige Bereiche waren aus dieser Richtung nicht einsehbar. Das ließ ihn größer wirken, als er tatsächlich war. Über dem Wasser bildete sich ein zarter Frühnebelschleier. Sofie lächelte bei dem Anblick.
„Ich liebe diese mystische Stimmung. Und die Böschung ist so herrlich bewachsen.“
Überraschend schnell kroch der Nebel aufs Ufer. Er benetzte Schilf mit Tautropfen und ließ Gras und Wege unter einer diffusen weißen Decke verschwinden. Es sah zauberhaft aus im Dämmerlicht.
Sofie verlangsamte ihr Tempo. Sie sog das friedliche Bild in sich auf.
„Ich bin ein Mensch, keine Maschine und eine Empathin noch dazu. Ja, Xavosch darf mir leidtun.“
Der Gedanke gab ihr zusätzlichen Frieden. Die Wolken am Himmel färbten sich rosa. Sie fühlte sich leicht und frei, das Laufen ging wie von selbst.
Für ein paar Meter verschwand der See hinter Büschen und Bäumen. Eine seltsam vertraute Melancholie erfasste Sofie. Ihr Herz wurde schwer.
Als sie wieder über den großen Teich schauen konnte, fiel ihr Blick auf den Steg am anderen Ufer. Dort saß jemand und ließ seine Beine im Nebel baumeln. Die Aura kannte Sofie zu gut. Abrupt blieb sie stehen.
„Xavosch.“
Der Drache hatte sie nicht bemerkt. Vorsichtig zog sie sich ein paar Schritte hinter den letzten Busch zurück.
„Ich sollte besser umkehren.“
In dem Moment hob Xavosch seine Arme. Er wirkte selbstvergessen und entspannt. In den Nebel vor ihm kam Bewegung.
„Was macht er da?!“
Plötzlich sprang ein schneeweißer Delfin aus den Schleiern hervor, elegant und voller Lebensfreude. Ein paar Meter weiter tauchte das Tier geräuschlos ins wattige Weiß .
„Aber…“ Sofie riss die Augen auf. „Im See gibt es keine Delfine!“
Eine Albino-Schildköte schwamm gemächlich an die Oberfläche und bewegte sich gut sichtbar einen halben Meter über den Schwaden. Der Delfin erhob sich ein zweites Mal aus den Nebelwellen und schlug gewandt einen Salto über die Schildkröte hinweg.
„Xavosch zaubert. Wow! Er beherrscht das Element Wasser in Perfektion!“
Und wie er es beherrschte. Einem Dirigenten gleich befehligte der blaue Drache den Frühnebel über dem See. Es folgten weitere Meerestiere: ein Krake, eine Robbe mit ihrem Jungtier, drei pfeilschnelle Pinguine und ein kleiner Schwarm Heringe. Sie alle bewegten sich entsprechend ihrer Art. Sofie konnte sich kaum sattsehen.
„Die Tiere wirken so echt!“
Gerade jagten die Pinguine den Heringen hinterher und die Robbe den Pinguinen.
Sofie musste grinsen. „Ganz wie in der Natur: fressen und gefressen werden.“
Derweil lag der kleine Nebelheuler auf einer eigens für ihn geschaffenen Nebelsandbank und wartete dort brav auf seine Mama.
Krake, Delfin und Schildkröte tummelten sich unbeeindruckt mitten in der Jagdszene.
Sofie schüttelte fasziniert ihren Kopf und betrachtete Xavosch. Der Blaue war in seinem Element, ganz er selbst. Seine Züge waren gelöst. Während er hier einen Teil seiner Unterwasserwelt zum Leben erweckte, wirkte er glücklich und wehmütig zugleich.
„Wie sehr muss er das alles vermissen?“
Sofie ahnte, dass die Melancholie, die sie vorhin gespürt hatte, seine gewesen war. Ihm fehlte die Heimat. Sehr sogar. Sofie wurde das Herz noch schwerer.
Unvermittelt zeichnete sich auf Xavosch Gesicht ein Strahlen ab.
Im nächsten Augenblick stockte Sofie der Atem, denn alle Nebeltiere begannen sanft von innen heraus zu leuchten: Der Krake färbte sich zart violett, die Pinguine orange, die Robben blaugrün und die Heringe funkelten golden. Der Hammer war jedoch der Delphin, er schimmerte perlmuttblau .
„Das ist genau Xavoschs Schuppenfarbe! Wahnsinn. Er ist wirklich ein Meister des Lichts.“
Der besagte Meister erhob sich nun und breitete seine Arme aus. Die bunten Nebeltiere formierten sich neu. Sie ordneten sich in einem Kreis an.
Der Drache schloss kurz seine Augen. Als er sie wieder aufschlug, war seine Miene hochkonzentriert und voller Begeisterung. Mit den Händen vollführte er komplexe Bewegungen und sofort schwammen die Meeresbewohner los. Sie tauchten anmutig schimmernd durch die zarten Nebelschleier, vollführten grazile Sprünge und Pirouetten. In immer neuen geometrischen Mustern fanden sie sich zusammen und trennten sich. Der Morgendunst über dem See wurde zur Bühne, auf der Xavosch ein leuchtendes, dreidimensionales Kunstwerk erschuf. Präzise, ästhetisch und unfassbar lebendig.
„Das ist wunderschön.“
Sofie schluckte ergriffen. Sie musste an ihre Mutter denken. „Was für ein atemberaubendes Ballett!“
Ihr Hals wurde eng, Tränen liefen über ihre Wangen.
In diesem Moment war Xavosch ein anderer als der, den sie kannte. Er ging vollkommen in seinem Tun auf, versank in seiner Magie.
„Er sieht so jung aus, so verträumt“ , staunte Sofie, „und so verletzlich.“
Und er zog sie in seinen Bann. Sofie konnte sich kaum abwenden von dem farbenfrohen Schauspiel und seinem Dirigenten.
Aber dann breitete sich ein mahnendes Gefühl in ihr aus. Ihr wurde bewusst, dass diese Seite des Lichtmeisters nicht für die Augen anderer bestimmt sein konnte. Das hier war privat.
„Ich werde das respektieren.“
Sofie atmete tief durch und zog sich zurück. Sie hatte einen Blick in die Seele von Xavosch erhascht. So etwas Wunderschönes hatte sie nicht erwartet. Durch das Blattwerk der Büsche und Bäume strahlte das zauberhafte Leuchten zu ihr herüber und ließ ihre Gefühle überlaufen.
„Nein, ich liebe ihn nicht. Aber ich kann ihm nun auch nicht mehr mit Hass begegnen. Das hat jemand wie er einfach nicht verdient.“